Story: Atrahorverse (das vampire!Nayati AU, um das niemand je gebeten hat)
Genre: Dark Fantasy + irgendwie sowas wie ne Romanze?
Warnings: Blut, Vampirismus, Selbstverletzung (an einer Stelle pretty graphic, so pls proceed with caution), generell selbstzerstörerisches Verhalten, gewisse Andeutungen auf Caes PTSD struggles, Tod (erwähnt)
Rating: P18
Charaktere: Caedes & Lynire & Nayati (Bonuspunkte für Cynthias Cameo-Auftritt!)
Ficathon:
daswaisenhausPrompt: [#_3057]; Zitat aus "Zwei Gelsen und ein Strick" von Samsas Traum
Sonstiges: I don't even know what this AU is but the idea just STRUCK ME & I had to write it. Es tut mir nicht leid. & omg, ich hab das mal wieder nicht richtig überarbeitet, es tut mir leid, falls super peinliche Fehler drin sind oder so.
Projekt: Adventskalender 2017
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Liebe ist mehr als nur ein Wort
Caedes & Lynire & Nayati
Mit den Herzen in den Händen
Und der Macht das Blatt zu wenden
Reißt das Meer uns mit sich fort -
Liebe ist mehr als nur ein Wort
I.
»Du hast zu viel Zeit mit dem Tod verbracht.« Nayati lächelt leicht und küsst Lynire auf die Wange, ganz leicht nur, kaum spürbar, so unglaublich vergänglich. »Sonst würdest du nicht so viel an ihn denken. Zerbrich dir darüber bitte nicht den Kopf.«
Der Gedanke an den Tod ist für ihn nur eine Gewitterwolke, die noch gar nicht am Himmel aufgezogen ist, sondern so weit weg liegt, dass niemand sie sehen, geschweige denn greifen kann.
Für Lynire ist der Gedanke an den Tod eine messerscharf geschliffene Wahrheit, die an einem seidenen Faden über ihnen hängt und nur darauf wartet, dass der Faden endlich reißt.
II.
»Du hast mich für immer«, flüstert Caedes, während er viele kleine Küsse entlang ihrer Schulter platziert. »Ich bin vielleicht nicht dein Seelenverwandter, aber …«
»Shh«, unterbricht sie ihn. Sie dreht sich zu ihm um und fährt mit ihrem Zeigefinger an seiner Wange entlang, direkt unter der Narbe, die sich von seinem Mundwinkel bis zu seinem Wangenknochen zieht.
»Tut mir leid«, sagt er; wahrscheinlich, ohne zu wissen, wofür genau er sich überhaupt entschuldigt.
Lynire legt ihm ihren Zeigefinger an die Lippen. »Ich will keinen zweiten Seelenverwandten. Ich will dich.«
»Aber ich -«
»Cae …« Lynire seufzt, doch ihr Tonfall ist klar und gestochen scharf. Eindeutig eine Warnung. »Ich werde niemals eine Entschuldigung von dir annehmen, die sich darum dreht, wer du bist. Oder wer du nicht bist. Verstanden?«
Seine Lippen öffnen sich leicht und sie sieht einen Funken Protest durch seinen Blick huschen, doch dann nickt er bloß. »Verstanden.«
Er lächelt leicht, und Lynires Herz schlägt höher. Die Liebe, die in ihrem Brustkorb pocht und durch ihre Adern strömt, fühlt sich seltsam warm und vertraut an. Fast so vertraut wie frisches Blut auf ihrer Haut.
Lynire lächelt ebenfalls und belohnt ihn mit einem Kuss.
III.
Wenn sie in Nayatis Armen einschläft - oder besser gesagt wachliegt, ohne tatsächlich Schlaf zu finden -, spürt sie seinen Atem in ihrem Nacken, seine warme Haut auf ihrer, seine feste Umarmung; die perfekte Illusion von Sicherheit.
Ironie des Schicksals, dass sie sich überhaupt erst wieder nach Sicherheit sehnt, seitdem sie ihn hat.
Das Gefühl, nicht sicher zu sein, kommt immer erst dann, wenn jemand zu weit in ihr Innerstes vordringt. Wenn jemand an ihre Seite rückt, seinen Platz dort einnimmt und hält und sich ein kleines Bisschen zu tief in in ihrem Herzen verankert. Immer dann überkommt sie dieses furchtbare Gefühl: Das Gefühl, etwas zu verlieren zu haben.
»Ich weiß, dass du nicht schläfst«, murmelt er, jedes Wort ein kleiner Hauch, den sie auf ihrer Haut spüren kann. »Was ist los?«
»Nichts«, sagt sie, denn wenn er fragt, ist es eigentlich immer nichts. »Und bei dir?«
»Nichts«, sagt auch er, denn wenn sie fragt, ist es definitiv immer nichts, nur dass nichts nie wirklich nichts bedeutet. »Ich mache mir nur Sorgen.«
»Sorgen um …?«
»Um dich.«
Lynire lacht, aber es ist ein bitteres Lachen.
IV.
Caedes küsst ihre Fingerspitzen, ihre Knöchel, ihren Handrücken, ihr Handgelenk, und schmiegt sich ihrer Berührung entgegen, als sie über seine Wange streichelt. »Was beschäftigt dich?«, hakt er vorsichtig nach. Manchmal scheint es ihr, als könne er ihre Gedanken lesen, als Einziger, während sie für alle anderen beinahe undurchschaubar ist.
»Er wird sterben«, sagt sie ganz unvermittelt. »Irgendwann.«
Caedes seufzt und schließt die Augen. »Irgendwann«, bestätigt er. »Aber das ist noch sehr weit weg.«
Lynire beißt sich auf die Unterlippe, und sie würde gern zubeißen, bis sie Blut schmeckt. Aber nicht jetzt. Nicht in seiner Gegenwart. Nicht, wenn sie nicht in der Stimmung für ihre üblichen Spielchen ist. Ihre Stimme ist leise und matt und ein kleines Bisschen zu unsicher, als sie entgegnet: »Was, wenn nicht?«
V.
Das Meer ist ewig. Stürme sind vergänglich.
Lynire ist das Meer, unendlich, unergründlich, unverwüstlich; das Schönste und Wertvollste, was es auf Erden gibt.
Nayati hat nie daran gezweifelt, dass er selbst kaum mehr sein würde als ein Sturm, der über die Wellen hinwegfegt und sie aufwühlt, ohne etwas Dauerhaftes von sich zu hinterlassen. Er weiß genau, er ist nur ein kleiner Teil der Ewigkeit, die noch vor ihr liegt. Nur ein winziges Fragment der ganzen Welt, die ihr innewohnt.
Aber manchmal, wenn sie denkt, dass er es nicht bemerkt, küsst sie ihn ein Bisschen zu zärtlich, drückt ihn ein Bisschen zu fest an sich und lässt das geflüsterte Geständnis (Ich liebe dich viel zu sehr) ein Bisschen zu lange nachklingen.
Die Worte schlagen Wellen in ihrem Schweigen, und Nayati bemerkt so viel mehr als sie ihm zutraut.
VI.
Wenn das Alleinsein ihren Gedanken zu viel Zeit und Spielraum lässt, will sie meistens einfach nur schreien. So lange schreien, bis sie all die Wahrheiten losgeworden ist, die schwer auf ihrem Herzen lasten, und dabei gegen Wände aus Diamant schlagen, weil sie denkt, dass sich das genauso anfühlen müsste wie der immerwährende Kampf gegen ihre Ängste. Genauso aussichtslos.
VII.
»Gibt es irgendetwas, was ich für dich tun kann?« Die Sorge in Caedes' Blick ist aufrichtig, sein Tonfall klar und sicher.
»Gibt es irgendetwas, was du nicht für mich tun würdest?« Eigentlich kennt sie die Antwort längst; aber sie muss die Frage trotzdem stellen.
Sie sucht in Caedes Gesicht nach einem Zögern, nach einer Spur von Unsicherheit, nach einem kleinen Moment, der ihr beweist, dass sie falsch lag und die Antwort doch nicht Nein lautet; aber da ist nichts, kein Zweifel und kein Zögern, als er antwortet: »Nichts, was du dir von mir wünschen könntest, wäre zu viel verlangt.« Da ist nichts außer dieser erschreckenden Aufrichtigkeit; nicht davor, nicht danach, und nicht, während er spricht.
VIII.
»Denkst du manchmal über die Ewigkeit nach?«
Lynire hat die Augen geschlossen. Die Schwärze der Nacht liegt über ihnen wie eine dichte, weiche Decke. Das Meer mit seiner weißen Gischt leckt an ihren Füßen und an ihren Waden. Nayati sitzt neben ihr und hält ihre Hand. Sie weiß, dass er auf die endlosen Weiten hinausblickt, bis hin zum Horizont, wo das raue Meer in einer verschwommenen Linie auf den sternenbehangenen Himmel trifft.
»Ich denke manchmal, dass das hier ewig ist«, antwortet er leise, während seine Finger sich ein Bisschen fester um ihre schließen. »Dass ich dich ewig lieben werde. Eigentlich … weiß ich es sogar sicher.«
Lynire lächelt und schmiegt sich an seine Seite, lehnt den Kopf gegen seine Schulter, atmet tief den vertrauten Duft ein, der sich mit der salzigen Seeluft vermischt. Normalerweise beruhigt sie diese Nähe, aber nicht jetzt, denn ihr Herz randaliert in ihrem Brustkorb, als wollte es ausbrechen und zerbrechen und stehenbleiben und alles zugleich.
»Was wäre«, flüstert sie in die nächtliche Stille, die sonst nur vom Rauschen der Wellen durchbrochen wird, »wenn ich dir sagen würde, dass es wirklich für die Ewigkeit sein könnte?«
IX.
»Ich kann das nicht.« Caedes spricht das aus wie eine Tatsache. Und Lynire weiß, dass es eigentlich eine ist.
Sie kennt die Geschichte, die er nicht noch einmal erzählen will. Sie beginnt genauso wie fast alle traurigen Gesichten aus seinem Leben beginnen: Es war einmal eine Frau, die ich liebte. Sie beginnen und enden alle gleich, denkt Lynire. Wenn er sie ihr erzählt, enden sie alle mit der schönsten Lüge, die sie je gehört hat: Aber das ist längst vorbei. Und nicht mehr wichtig.
»Du weißt, dass ich ihn auf keinen Fall verlieren kann.« Lynire atmet tief durch und spricht jedes Wort langsam und betont aus. Beherrscht. Sie kann ihr Inneres nicht kontrollieren, also kontrolliert sie ihr Auftreten umso strenger.
»Du verlierst ihn nicht.« Caedes' Tonfall ist seltsam kühl, distanziert. Als hätte er überhaupt nichts mit der Sache zu tun.
»Noch nicht.« Lynire schluckt schwer, beißt sich fest von innen auf die Wange und erwidert Caedes' Blick unnachgiebig. »Aber eines Tages …«
»Das gehört dazu.« Sie hasst es, wenn er so spricht. Als ginge ihn das alles gar nichts an. »Wir alle verlieren die, die wir lieben, irgendwann. Das wissen wir beide nur zu gut.«
»Und ich würde es vielleicht sogar akzeptieren, wenn ich nicht genauso gut wüsste, dass ich in diesem Fall etwas daran ändern kann.« Lynires Stimme ist ruhig, und mit einem Mal kostet sie das überhaupt keine Mühe mehr. Alles an ihr wird ruhig. So ruhig wie das Meer vor einem furchtbaren Sturm.
»Du kannst ihn nicht vor allem beschützen«, sagt Caedes und zuckt mit den Schultern.
»Aber vor dem Tod schon«, antwortet Lynire.
Niemand kennt den Tod besser als sie. Und sie hat in den vergangenen Jahren viel Zeit gehabt, um nachts wachzuliegen und sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie man ihn am besten austricksen kann.
X.
Nayati kennt nur zwei Geschichten aus Caedes' Leben, und keine davon hat Caedes ihm selbst erzählt. Keine davon beginnt mit Es war einmal eine Frau, die ich liebte. Vielleicht, weil sie beide noch nicht beendet sind. Und vielleicht, weil es in Wahrheit nie mit den Frauen beginnt, sondern immer mit Caedes selbst.
Nayati kennt die Geschichte, in der Lynire die Hauptrolle spielt. Natürlich. Immerhin ist das auch seine Geschichte. Und dann ist da noch die, in der Cynthia vorkommt. Auch die ist ihm bekannt. Natürlich. Immerhin spielt er selbst auch eine Rolle darin.
Mehr muss er nicht wissen. Mehr will er gar nicht wissen.
Aber Caedes sagt plötzlich: »Ich muss dir etwas erzählen.«
Nayati seufzt, verschränkt die Arme vor der Brust und antwortet dann, obwohl er eigentlich überhaupt keine Lust hat, zuzuhören: »Ich höre.«
XI.
Caedes weiß nicht viel über Nayati, und eigentlich ist das meiste davon sowieso nicht wichtig. Das einzige, was er sich gemerkt hat, ist: Feingefühl und Selbstlosigkeit sind von ihm nur selten zu erwarten. Deshalb rechnet er auch nicht mit einer angemessenen Reaktion, als er Nayati alles erzählt hat; alles über Lynires Bitte, alles über die Konsequenzen, wenn er zustimmen würde, und alles darüber, warum er eigentlich nicht zustimmen kann.
Aber zu seiner Überraschung sagt Nayati: »Du musst das nicht tun.« Und er lächelt dabei sogar, wenigstens ansatzweise. Ein Bisschen mitleidig und ein Bisschen entschuldigend.
Caedes erwidert das Lächeln und sagt nichts.
Die eine unabänderliche Wahrheit, die wirklich zählt, lautet: Er kann es nicht nicht tun.
XII.
»Sie will was?« Cynthias Augen weiten sich ein wenig und ihre Stimme hat plötzlich diesen ganz präzisen Klang. (Wie eine Warnung; bloß, dass es keine Warnung an ihn ist, das spürt er genau.)
Caedes zuckt hilflos mit den Schultern und lächelt sein trauriges Lächeln. Beinahe fühlt er sich in alte Zeiten zurückversetzt, und er ist sich sicher, dass es ihr genauso geht, während sie eindringlich sein Gesicht mustert und darin nach der Wahrheit sucht, die er tief in sich verschlossen hat.
»Ich kann es verstehen«, bemerkt er.
»Ich auch.« Als Cynthia seufzt, klingt es, als versuche sie, all ihre Sorgen mit auszuatmen. »Aber ich weiß nicht, ob du es wirklich tun solltest. Klingt nicht gerade nach einer guten Idee.«
»Du weißt doch -« Caedes versucht ein Grinsen, aber bei dem Gedanken an Lynires Bitte krampft sich sein Herz schmerzhaft zusammen und alles in ihm beginnt, zu zittern, und er weiß einfach nicht, was er tun soll, außer die Tränen zu unterdrücken und ein gefälschtes Lächeln aufzusetzen. Das, was er eben am besten kann. »- schlechte Ideen lieben mich.«
»Und meistens liebst du sie auch. Aber dieses Mal nicht.«
Caedes schweigt. Vielleicht, weil er weiß, dass sie recht hat. Vielleicht, weil es einfach nicht mehr zu sagen gibt als das, was sie beide wissen, ohne es überhaupt auszusprechen: Er könnte es nicht ertragen, Nein zu sagen. Aber er weiß auch nicht, ob er es ertragen kann, Ja zu sagen und mit den Konsequenzen zu leben.
XIII.
»Sie wird über mich hinwegkommen«, sagt Nayati. »Eines Tages. Wenn es … soweit ist.«
Und Caedes antwortet: »Man kommt nicht über Seelenverwandte hinweg.«
Die Wahrheit, die beide dieser Aussagen so schwer wiegen lässt wie die Last eines ganzen Gebirges, lautet: Ich kann ihr das nicht antun. Weil ich weiß, wie es ist. (Wäre bloß nicht die gleiche Erfahrung dafür verantwortlich, dass er überhaupt zögert, denkt er. Wäre es bloß nie soweit gekommen -)
Liebe, denkt Caedes, ist mehr. Mehr als Worte. Mehr als jahrelanges Glück. Mehr als Küsse und Sex und nebeneinander einschlafen und liebevolle Gesten und die Intimität eines gemeinsamen Lebens. Mehr als eine Ewigkeit, die man zusammen verbringen will.
Liebe - das ist, dass er sich selbst alle Rippen brechen würde, um das schlagende Herz aus seinem Brustkorb zu reißen und es in ihre Hände zu legen, wenn sie ihn nur mit einem Lächeln, einem Kuss und leisen Worten darum bitten würde.
XIV.
Caedes sieht seinem Blut dabei zu, wie es in den Waldboden sickert. Er wünscht sich, er hätte sich die Wunde, aus der es fließt, nicht selbst zugefügt.
Caedes sieht dabei zu, wie die Wunde sich langsam wieder schließt, und ihm wird zum ersten Mal bewusst, dass er es vielleicht gar nicht nur für Lynire tun würde.
Ein Glück, dass Schmerz ihm schon immer dabei geholfen hat, seine Gedanken zu sortieren.
XV.
Lynire umarmt ihn und presst ihre Lippen an seinen Hals, genau dort, wo sein Puls ganz schwach unter der leichenblassen Haut pochte. »Ich wusste, du würdest einem Befehl von mir nicht widerstehen können«, flüstert sie, und Caedes glaubt, ihr Schmunzeln beinahe spüren zu können, als sie einen weiteren Kuss folgen lässt, und noch einen, und noch mehr, bis es eine ganze Spur von Küssen ist, die auf seiner Haut brennen wie Feuer. Aber er spürt auch ihre Erleichterung; das leichte Stolpern ihrer Worte, das sie nicht verbergen kann. »Dafür liebe ich dich, weißt du?«
XVI.
»Schlimmer als Sterben kann es nicht sein«, scherzt Nayati.
Caedes setzt ein Grinsen auf. »Sicher? Du bist bisher noch nie von mir getötet worden. Und sie auch nicht.«
Sie lachen beide, Lynire rollt mit den Augen, aber nichts davon hilft, um die Spannung zu durchbrechen, die in der Luft liegt wie schwerer, bitterer Rauch, der sie alle langsam erstickt.
XVII.
Caedes hat so viel Blut geschluckt, dass es selbst für ihn zu viel ist und er sich fühlt, als müsste er sich jeden Moment übergeben. Er hat lange nicht mehr so viel Blut gesehen, das nicht sein eigenes war, noch viel länger nicht mehr so viel Blut getrunken, und schon gar nicht aus demselben Grund wie jetzt -
»Ich kann ihn nicht mehr spüren. Keinen Herzschlag. Keine Schmerzen. Keine Gefühle. Nichts.« Lynire zittert, und ihre Stimme zittert ebenso.
Caedes antwortet nicht. Er starrt ins Leere und zählt die Sekunden, während er atmet. Tief ein, lang aus, so gleichmäßig wie möglich. Als könnte das die Übelkeit vertreiben. Oder die Erinnerungen, die wie dichte Nebelschwaden durch seinen Kopf ziehen, während er krampfhaft versucht, im Hier und Jetzt zu bleiben.
»Ich spüre gar nichts mehr«, wiederholt Lynire. Sie atmet ein, während sie spricht, bebend und überstürzt und es klingt beinahe wie ein Schluchzen, wie blanke Panik in einem einzigen Geräusch. »Nur noch micht selbst.«
»Gib mir dein Messer«, verlangt er, ohne auf ihre Worte einzugehen.
Sie tut es, ohne zu zögern und ohne nachzufragen.
Caedes schließt die Augen und fährt die Linie an seinem Handgelenk nach, ohne hinzusehen. Er kennt diese Linie in- und auswendig, ebenso wie den Schmerz, der ihn durchfährt, als die hauchdünne Klinge durch Haut, Fleisch, Adern gleitet. Die Übelkeit verschwindet. Die Bilder im Nebel werden blasser. Ihm ist plötzlich schwindelig, aber auf eine gute Art; schwindelig, wie wenn man sein Glück nicht fassen kann und unkoordiniert durch einen seidenen Vorhang aus Wolken und Hoffnung stolpert. Er hat diese Linie so oft vorgezeichnet, dass es sich fast wie Heimkehren anfühlt.
»Cae …« Lynires Stimme. Caedes ignoriert sie. Er weiß nicht, ob sie wieder sagen will: Ich kann ihn immer noch nicht spüren. Oder vielleicht: Was zur Hölle tust du da? Oder: Lass mich das für dich tun. Es spielt keine Rolle.
Der Schmerz ist heilsam und blendet für einen langen, wohltuenden Moment alles andere aus. Dann legt Caedes das Messer beiseite, streckt seinen Arm aus und öffnet die Augen wieder. Gerade rechtzeitig, um zu beobachten, wie der erste Blutstropfen fällt. Gerade rechtzeitig, um sein Handgelenk an Nayatis Lippen zu führen, die sich genauso leblos anfühlen, wie der blutleere Körper aussieht. Der Anblick verschwimmt in Caedes' Kopf, vermischt sich mit einem Bild aus längst vergangener Zeit. Für einen Moment sieht er nicht mehr Nayati, sondern ein Stück Vergangenheit, ein vertrautes Gesicht, das er nie wieder sehen wollte, und der Nachhall des bereits verblassenden Schmerzes ist nicht stark genug, um all die Eindrücke zurückzuhalten.
Dann sieht er nur noch schwarz. Ein schwarzes Meer, das verlockend nach Nichts aussieht. Er lässt sich gern in diese Schwärze fallen, und sie nimmt ihn mit sanften Wogen in Empfang und reißt ihn mit sich fort. Endlich, denkt er, obwohl er weiß, dass es nicht für immer ist.
XVIII.
Vor vielen Jahren hat Caedes das Band, das entsteht, wenn man jemandem die Unsterblichkeit schenkt, Herzblutfessel genannt.
Damals hat es sich ein Bisschen so angefühlt, als hätte er das eigene Herz in der Hand gehalten. Als könnte er es deutlich spüren, noch warm und feucht vom Blut, noch pochend, obwohl das eigentlich nicht mehr hätte möglich sein sollen. Als hätte er es jemandem hingehalten und sehnsüchtig darauf gewartet, die Leere in seinem Brustkorb und die fremden Hände an seinem Herzen zu spüren. Bloß, dass niemand dieses Angebot je angenommen hat.
Dieses Mal ist es eher so, als befände sich sein Herz plötzlich außerhalb seines Körpers, ohne dass er bemerkt hätte, dass es fehlt, und das, obwohl er seinen eigenen Puls spüren kann, hört, wie sein Blut schneller pulsiert als sonst, und eine Wärme in seinem Brustkorb aufsteigt, die nur eins bedeuten kann. Er hat nicht das Gefühl, es hergegeben zu haben; es fühlt sich eher an, als sei es jetzt nicht mehr nur seins. Als würde er es teilen.
»Danke.« Lynires Stimme ist das erste, was wieder zu ihm herandringt.
Caedes schlägt die Augen auf. Sein Blick sucht sofort nach Nayati, und seine Hand kurz darauf ebenfalls, als er realisiert, dass er nur die Finger ausstrecken muss, um Nayatis Hand zu ergreifen. Die Berührung erfüllt ihn mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl, obwohl der andere sich immer noch nicht rührt.
»Du spürst ihn also wieder?«, fragt Caedes an Lynire gewandt. Er sieht sie an, sieht, wie sie energisch nickt und sich mit dem Handrücken über die Wangen fährt, bevor er ihre Tränen sehen kann.
»Das … beruhigt mich«, murmelt Caedes, während er sich langsam aufrichtet und seinen Blick an sich selbst hinabwandern lässt. An seinen blutgetränkten Kleidern, und an seinem Unterarm entlang, wo nur noch eine hellrosa Linie von der Wunde zeugt, die er sich vorhin zugefügt hat, bis hin zu seiner Hand, die über Nayatis kühle Haut streicht, ganz leicht nur, als könnte er unter der Berührung zerbrechen. »Ich … ich nämlich auch.«
XIX.
So fühlt es sich also an, denkt Nayati. Der Tod. Das Gefühl, das er schon mehrfach über das Seelenband miterlebt, aber gerade zum ersten Mal am eigenen Leib erfahren hat. Vielleicht, denkt er, kann er Lynire jetzt ein kleines Bisschen besser verstehen.
So fühlt es sich also an, denkt Lynire. Der Tod. Das Gefühl, denjenigen zu verlieren, der so eng mit einem selbst verbunden ist wie nichts anderes. Vielleicht, denkt sie, hat sie bisher nicht so viel über Verlust gewusst, wie sie immer dachte.
XX.
»Bist du jetzt glücklich?«, fragt Caedes in die wohlige Stille hinein. Er streckt seine Finger nach Lynires Hals aus und tastet nach den Bissabdrücken, die Nayati in der vergangenen Nacht zum ersten Mal dort hinterlassen hat.
»Glücklicher denn je«, antwortet sie leise.
Es klingt ehrlich, und Caedes ist sich sicher, dass es nichts gibt, was ihn glücklicher machen könnte als das.