Prolog 1 |
Prolog 2 |
Fetzen |
Erinnerung |
Schmerz |
Verhandlung |
Neuigkeit |
Risiko |
Nacht |
Psyche |
Zwischenspiel |
Zeit |
Fremde |
Gewissen |
Treffen |
Rache |
Besuch |
Öffnung |
Fragen |
Epilog 1 |
Epilog 2 CHASING TED - ERINNERUNG
Wieder und wieder muss ich tief durchatmen, bevor ich es schaffe, durch die kleine, steril weiße Tür zu treten. Mit jedem Mal, das ich hierher komme, wird es schwerer. Es lastet auf meiner Seele, sie so zu sehen. Böte sich mir jeden Tag dieser Anblick, ich könnte es nicht aushalten. Ich weiß nicht, warum ich mich selbst so quäle.
Sally Marcuson, eine der Pflegeschwestern hier, kommt aus dem Raum, den ich nun bald betreten würde, schließt vorsichtig die Tür hinter sich und sieht mich ermutigend an.
Inzwischen kenne ich Sally seit über einem Jahr. Sie ist eine wahre Seele von Mensch. Natürlich habe ich bereits mit ihr geschlafen. Mehrmals. Meistens nach Besuchen der Art, wie er mir heute wieder bevorsteht. Sie ist eine gutaussehende, zierliche junge Frau Mitte zwanzig, mit sanften dunklen Augen und genau der Sorte liebenswerter Art, die ich brauche, um mich zu trösten.
„Sie ist jetzt wach,“ sagt sie mit kaum mehr als einem Flüstern und lächelt mich zärtlich an.
Langsam trete ich durch die Tür in den winzigen, in unpersönlichem Weiß gehaltenen Raum. Nichts hier hat sich verändert, seit ich ihr das letzte Mal einen Besuch abgestattet habe. Fast reglos liegt sie in dem großen Krankenhausbett, ihr kleiner, inzwischen skelettartig abgemagerter Körper wie verloren in den Bergen und Tälern des weißen Bettzeugs. Ihr Atem ist kaum zu hören, übertönt durch das leise aber stetige Piepsen des EKG und das monotone Tropfen des seit Monaten undichten Wasserhahns auf der andere Seite des Raumes.
Wie jedes Mal nehme ich den schlichten Stuhl, der an dem kleinen Tischchen unter dem einzigen Fenster des Raumes steht, und stelle ihn hinüber neben das Bett. „Deanna,“ frage ich leise, setze mich langsam und nehme behutsam ihre zerbrechliche Hand in meine.
Ihre geschlossenen Augen fangen an, leicht zu flattern. Ich nehme mit einem Ohr wahr, dass die Frequenz des EKG sich ein wenig erhöht hat. Das Zeichen, dass sie bei Bewusstsein ist, wie ich gelernt habe.
„Deanna, ich bin es,“ fahre ich fort. Ihre Augen öffnen sich, in weite Ferne gerichtet, unfokussiert, suchend hin und her blickend.
Als sie spricht, klingt ihre Stimme heiser und zerbrechlich. „Richard?“ Nach weiteren langen Sekunden schließlich findet ihr Blick mich und bleibt auf meinem Gesicht ruhen. Ihre Augen wirken noch glasiger, noch entfernter, als ich sie in Erinnerung habe, doch ihr Lächeln belebt ihre blasse Miene etwas. „Oh, du bist es. Wie schön.“
Ich nicke leicht, drücke sanft ihre Hand und antworte, „Ja, ich bin es. Wie geht's dir, Mutter?“ Ich kann sehen, dass es ihr schlecht geht. Seit Jahren geht es ihr nun schlecht. Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt noch am Leben ist. Doch sie scheint sich verbissen ans Leben zu klammern. Warum, ist mir ein Rätsel. Sie ist ein menschliches Wrack, seit Jahren vegetiert sie nur noch vor sich hin. Inzwischen muss sie bereits intravenös ernährt werden.
Anfangs - vor inzwischen sehr langer Zeit, wie mir scheint - hat die Hoffnung bestanden, dass sie sich wieder erholen könnte. Über die Jahre ist ihr Zustand jedoch immer schlimmer als besser geworden. Keiner hat es so kommen sehen. Keiner.
Hätte Deanna mich nur einmal darum gebeten, ich hätte ihr guten Gewissens geholfen, diesem Leben, das keines mehr ist, zu entfliehen. Viele Male bin ich schon davor gewesen, es einfach zu tun. Ohne ihre Erlaubnis abzuwarten. Und doch habe ich es nicht getan. Ich bin der wandelnde Tod. Ich habe bereits schwierigere Aufträge erfüllt. Diesen nicht. Und es macht mich verrückt, nicht genau zu wissen, warum ich es nicht tun kann.
Vielleicht, weil ich nicht weiß, was danach mit ihr sein wird. Ich glaube nicht an den Himmel, weder an das Paradies noch an irgend eine andere Art von Jenseits. Dazu ist das Leben zu sinnlos. Es ist nicht einzigartig genug. Wenn ein Mensch stirbt, hört er einfach auf zu existieren. Danach kommt nichts mehr. Keine Glückseligkeit. Kein ewiges Leben. Aber auch kein Schmerz.
Meine Mutter würde einfach aufhören zu existieren. Richard würde sie niemals wieder sehen. Auch wenn ich nur ein schlechter Ersatz bin, bin ich vielleicht besser als das Nichts, das sie im Tod erwartet. Ich kann ihr diese Illusion nicht nehmen. Ich kann es einfach nicht. Nicht meiner Mutter.
„Wann hat der Doktor gesagt, dass wir wieder nach Hause dürfen?“ Deannas heisere Stimme dringt aus weiter Entfernung an mein Ohr. Es bereitet ihr sichtlich Mühe, zu sprechen, doch sie fährt unbeirrt fort. „Ich hoffe, bald. Ich kann mir nicht leisten, noch mehr Urlaub zu nehmen. Die Firma hat vor ein paar Wochen ein großes Projekt an Land gezogen, das weißt du doch. Und sie brauchen mich dafür... Hast du den Kleinen schon gesehen? Was für ein süßer kleiner Fratz...“ Obwohl es sie ganz offensichtlich anstrengt, wird ihr Lächeln bei diesen Worten noch sanfter, und ihre Augen gewinnen ein klein wenig des Schimmers zurück, den sie früher besessen haben. Ich nicke ihr lediglich beschwichtigend zu und drücke nochmals sanft ihre Hand. Seit einer Weile ist es immer dasselbe. Sie hat sich in ihre eigene Welt geflüchtet. Doch sie ist glücklich.
Nein, die Glückseligkeit dieser Illusion kann ich ihr einfach nicht nehmen.
Eine Zeit lang sitze ich einfach nur so da und halte ihre Hand. Ich beobachte sie, während sie wieder zurück in ihre Kissen sinkt. Das Sprechen strengt sie so an, dass sie meistens nicht lange darauf friedlich einschläft. Danach bleibe ich noch etwa eine halbe Stunde bei ihr, für den Fall, dass sie noch einmal aufwacht. Mein Kopf fühlt sich leer an, meine Augen brennen, und in meiner Brust höre ich den Schlag meines Herzens schwer nachhallen.
Irgendwann stelle ich erstaunt fest, dass es draußen bereits anfängt zu dämmern. Vorsichtig löse ich meine Hand von ihrer, stelle den Stuhl zurück und mache mich auf den Weg nach draußen. Ich weiß, Sally wartet bereits auf mich.