Nassim Nicholas Taleb's (NNT - so nennt er sich im Text selbst) Buch geistert seit Wochen in den Top Ten der Sachbücher herum und wird häufig im Zusammenhang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise als Lektüre empfohlen. Also noch ein Buch, das erklärt, warum alles gekommen ist, wie es gekommen ist?
Nein.
NNT geht die Frage tiefer an. Warum stimmen die meisten Vorhersagen nicht? Warum sollten wir Risiko-Managern in Banken nicht vertrauen? Er zeigt den Mechanismus auf, der uns dazu bringt, wichtige Informationen und Möglichkeiten zu ignorieren und von Ereignissen überrascht zu werde. Das führt nicht wirklich zu einer Technik, bessere Vorhersagen zu machen - sondern vor allem dazu, sich bewusst zu sein, dass der Zufall im Leben immer mitspielt.
Aber von vorne.
Das Buch heisst "The Black Swan", weil ein berühmtes Beispiel der Wissenschaftstheorie mit diesem Tier die Grenzen der Induktion aufzeigt.
Ein kurzer Exkurs für alle, die sich mit diesen Fachwörtern nicht auskennen. In der Wissenschaft gibt es, ganz grob gesagt, zwei Haupt-Methoden, wie man zu Erkenntnissen gelangen kann, Induktion und Deduktion.
Die Deduktion ist der Schluss vom allgemeinen auf das besondere. Ich beobachte etwas und bewerte die Situation anhand einer allgemeinen Annahme oder Theorie. Wikipedia bringt dafür folgendes Beispiel. Man schaut aus dem Fenster und sieht, dass es regnet. Wir wissen, dass, wenn es regnet, die Strassen nass werden. Also müssen jetzt, da es regnet, die Strassen nass sein.
Aber Achtung! Der Schluss funktioniert nicht in die umgekehrte Richtung. Wenn ich sehe, dass die Strasse nass ist, darf ich nicht daraus schliessen, dass es geregnet haben muss! Es kann auch sein, dass jemand mit einem Gartenschlauch die Strasse abgespritzt hat.
Die Induktion auf der anderen Seite schliesst vom besonderen auf das allgemeine. Ich habe viele Male gleiche Dinge beobachtet und schliesse daraus, dass dies eine allgemeine Regel sein muss. Ich habe also zum Beispiel 100 Vögel gesehen, die ich alle als "Schwan" bezeichnen kann und die alle weiss sind. Also schliesse ich daraus, dass alle Schwäne weiss sind. Diese Theorie fällt aber zusammen, sobald ich einen einzigen schwarzen Schwan sehe.
Deswegen hat Karl Popper in seiner Wissenschaftstheorie die Sache auch umgedreht. Es gibt keine Beweise für eine Theorie, nur Indizien. Wenn ich anhand von 100 Beobachtungen die Theorie aufgestellt habe, dass alle Schwäne weiss sind, bringt eine weitere Beobachtung eines weissen Schwans keinen grossen Erkenntnisgewinn. Er stützt nur die Theorie. Aber selbst, wenn ich eine Million Schwäne beobachtet habe und alle davon waren weiss, reicht ein einziger schwarzer Schwan, um die Theorie zu widerlegen. Sobald ein schwarzer Schwan auftaucht, ist die alte Theorie falsifiziert und wir brauchen eine neue. Theorien, die von Annahmen ausgehen, die sich gar nicht widerlegen lassen, sind nicht wissenschaftlich.
Eine Million weisse Schwäne als Stütze der Theorie reichen nicht aus, um sie zu halten, wenn ein einziger schwarzer Schwan dazufliegt und alles zum Einsturz bringt.
Wer das verstanden hat, hat eigentlich schon den Kernpunkt von "the Black Swan" verstanden.
Das Problem mit dem schwarzen Schwan ist, dass wir ihn nicht vorhersehen können. Wir können nicht wissen, dass es ihn gibt, bevor wir ihn gesehen haben und wenn wir ihn sehen, dann wirft er unsere ganze schöne Theorie aus der Bahn.
Ja, warum sollten wir uns um schwarze Schwäne kümmern? Ist doch egal, ob nun alle Schwäne weiss sind oder nicht?
Bei den Schwänen sind sich Nicht- Ornithologen sicher einig. Aber dieser Mechanismus gilt nicht nur für Schwäne, sondern für sehr viele Dinge in unserem Leben. Hat sich jemand vorstellen können, dass jemand mit zwei entführten Flugzeugen die beiden Türme des World Trade Centers zum Einstürzen bringen könnte, bevor es getan wurde?
NNT zeigt, dass in der Geschichte die meisten grossen Ereignisse völlig aus heiterem Himmel passieren und wir uns bemühen, ihnen im Nachhinein einen Sinn überzustülpen. Aus heutiger Sicht erscheint es logisch, ja geradezu unvermeidlich, dass der erste Weltkrieg ausbrechen musste - bei all der Kriegsrhetorik im Vorfeld! Aus damaliger Sicht konnte sich das niemand vorstellen - schon gar nicht einen Krieg, der so lange dauert und so weitreichende Folgen haben würde. Und wenn wir in die Zukunft blicken, befinden wir uns immer in dieser Situation. Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt.
Ein tolles Beispiel ist jenes des Truthahns, der 1000 Tage lang von einem freundlichen Menschen gefüttert und umsorgt wurde. Der Truthahn wird daraus schliessen (falls Truthähne Schlüsse ziehen können), dass dieser Mensch es gut mit ihm meint und dass alle weiteren Tage ebenfalls genauso ablaufen werden wie die 1000 bisherigen. Und am 1001. Tag ist Thanksgiving und der Mensch, der ihn 1000 Tage gefüttert hat, schlägt ihm unvermittelt den Kopf ab.
Ja, wir wussten, dass das kommt. Wir wussten, warum der Mensch den Truthahn gefüttert hat und dass er so enden wird. Aber wusste es der Truthahn?
Es lohnt sich also, skeptisch zu sein gegenüber dem, was uns Zukunftsforscher und Zukunftsexperten an Vorhersagen liefern - besonders, wenn es sich um auf den Hundertstel genaue Zahlen handelt.
Der Autor unterscheidet im Buch zwischen "Extremistan" und "Mediocristan". In Mediocristan sind extreme Messungen selten und gleichen sich in der Masse an. Dies trifft zum Beispiel auf die durchschnittliche Grösse oder das durchschnittliche Gewicht von Menschen zu. Wenn ich genügend Messungen habe, kann ich selbst den dicksten, schwersten Menschen oder den kleinsten Kleinwüchsigen mit einberechnen, ohne dass sich mein Durchschnitt gross verschiebt.
In Extremistan, wie beim Vermögen, bei Verkaufszahlen von Büchern oder an der Börse, gibt es so extreme Ausschläge in die eine oder andere Richtung, dass ein einziges Individuum oder Ereignis (Bill Gates beim Vermögen, J.K. Rowling bei den Büchern, die Finanzkrise bei der Börse) einen derart grossen Einfluss hat, dass es den Durchschnitt aus dem Gleichgewicht wirft und jede Rechnung über den Haufen wirft.
Das ist nur eine ultrakurze, ultra vereinfachende und unvollständige Zusammenfassung des Buches. Die ersten zwei Teile (Parts) lohnen sich auf jeden Fall zu lesen - auch für Wissenschafts-Laien, denn NNT schreibt sehr anschaulich und leicht verständlich. Und er verteilt grosszügige Seitenhiebe gegen all jene selbsternannten Masters of the Universe, die glauben, mit ihren tollen mathematischen Modellen irgendetwas über die Wirtschaft oder die Gesellschaft voraussagen zu können. Der Autor selbst hat früher als Trader gearbeitet und kennt die Wirtschaftspraxis. Er macht sich über genau diese Annahmen und Modelle der Wirtschaftstheorie lustig, die mir auch schon immer suspekt vorkamen.
Ich fühle mich durch ihn sehr bestätigt und konnte beim Lesen an vielen Stellen einfach nur zustimmend nicken. Nach den ersten beiden Teilen hätte ich dem Autor für seine Ausführung am liebsten einen virtuellen Heiratsantrag gemacht. Endlich spricht's mal einer aus! Ich war als Politikwissenschafterin natürlich getroffen, dass er viele Seitenhiebe gegen die "political scientists" anbrachte - wenn ich dann allerdings wieder sah, mit welchen Theorien und Rechnungsmodellen ich im Studium konfrontiert worden war, konnte ich es nachvollziehen. Mit der politischen Philosophie, die mich besonders fasziniert hat, hat die Art von "political scientists", die er meint, nur noch wenig zu tun. Es sind jene, vor allem amerikanischen, Politikwissenschaftler, die glauben, das mathematisierte, standardisierte Modelldenken der Wirtschafswissenschaften auf unsere Disziplin zu übertragen. Während der Lektüre war ich zum ersten Mal froh, nicht mehr quantitative Methoden belegt zu haben. Ich war schon immer besser darin, die Statistiken von anderen zu lesen, zu interpretieren und deren Grenzen aufzuzeigen, als selbst welche herzustellen. Aber das nur am Rande.
Die Argumente für die schwarzen Schwäne, Extremistan und die Exkurse über die menschliche Natur erscheinen plausibel und sind gut mit Beispielen illustriert. Deshalb denke ich, dass man gut daran tut, sich seinen Punkt zu beherzigen.
Nach dem dritten Teil des Buches hatte ich meinen virtuellen Heiratsantrag an ihn dennoch wieder zurückgezogen. Ich glaube zwar, dass er recht hat und er argumentiert tatsächlich schlüssig, wie ich oben sagte. Ich bin selbst oftmals wohl sogar noch eine grössere Skeptikerin als er - deswegen auch mein ungutes Gefühl am Ende: Warum sollte ich Ihnen glauben, Herr Taleb?
Besonders im letzten Teil verschwendet er sehr viel Zeit, bzw. Buchfläche, um gegen seine aus seiner Sicht ignoranten und unwissenden Wirtschaftswissenschafts-Kollegen zu schiessen und nicht nur deren Theorien, sondern auch deren persönliche Präsentation und Einstellung in den Dreck zu ziehen. Irgendwann ist gut. Ich bin sicher, auch diese Leute sind genauso überzeugt von ihren Theorien, wie Herr Taleb von seiner eigenen. Er ist ein Mann mit einer Mission, der nach all den Jahren, in denen ihm niemand zugehört hat, verbittert ist. Er scheint mit dem Buch ein anderes Publikum für sich gewinnen zu wollen, nachdem es beim akademischen Publikum nicht gereicht hat. Er wirkt wie einer, der nicht darüber hinwegkommt, dass er von seinen Peers nicht die Anerkennung erhält, nach der er dürstet.
Ich bin sicher, er würde diesen Vorwurf weit von sich weisen, schliesslich hält er nichts von Experten, nichts von nutzlosen Wissenschafter und schon gar nichts vom Nobelpreis - trotzdem würde ich ihn glaubwürdiger finden, wenn er dies nicht auf jeder zweiten Seite betonen müsste. Die Bescheidenheit, zu der er alle anderen gemahnt, und die er auch für sich selbst in Anspruch nehmen will, fehlt auf den letzten Seiten des Buches gewaltig.
Nur, um es noch einmal klar zu machen: ich bin auch der Meinung, dass er einen guten Punkt hat und dass er wohl inhaltlich tatsächlich zu einem grossen Teil recht hat. Ich gestehe ihm auch ein, dass er eine gewisse Polemik benutzen darf, um diesen Punkt zu kommunizieren, dass es unterhaltsam zu lesen ist. Aber - auch er wird nicht 100% Recht haben und wenn sich jemand ernsthaft mit seiner Arbeit auseinandersetzen würde, würde man auch bei ihm viel Unsinn finden. Er stützt sich extrem stark auf anekdotische Beispiele und illustrative Geschichten. Genau das, was er seinen Konkurrenten als Fehler vorhält. Als eine menschliche Falle, in die wir alle tappen. Wir alle. Auch er. Deswegen bleibe ich skeptisch.
Alles in allem also: Lest das Buch! Aber glaubt seinem Rat und lässt den letzten Teil aus. Es gibt da zwar interessante mathematische Erklärungen - aber die Dreckschleuder gegen Banker, Wissenschafter und andere Kleingeister muss nicht sein.
Btw. nur, weil ich in letzter Zeit ziemlich gegen die Wirtschaftswissenschafter geschossen habe - ich habe nichts gegen Wirtschaft und ihre Wissenschaften, die Wirtschaft ist ein zentrales Element der Gesellschaft und in den Wirtschaftswissenschaften gibt es interessante und nützliche Ansätze. Aber ich wehre mich entschieden gegen den Anspruch, den einige ihrer Exponenten immer noch stellen, ihre vereinfachende Weltsicht als einzig brauchbare auf alle möglichen sozialen Systeme und menschlichen Situationen anwenden zu wollen. Hier gehe ich mit Nassim Taleb vollkommen einig.