Dean lag im Bett und starrte an die Decke, als enthalte sie den Schlüssel zu allen Mysterien des Kosmos. Was sie jedoch tatsächlich aufwies, war eine Unmenge an Spinnweben, und die sahen nicht einmal bei hoffnungsvollster Betrachtung sonderlich hilfreich aus.
Dean seufzte.
Er begriff sich selbst nicht. Er hatte eine Familie gehabt. Eine richtige Familie. Sicher, sie war nicht wirklich seine gewesen - das Kind nicht von ihm, und die Frau stets ein wenig distanziert, weil sie ganz genau spürte, dass er nicht bei ihr wäre, hätten die Dinge einen anderen Verlauf genommen. Aber es hatte sich gut angefühlt, eine Familie zu haben; endlich zu entdecken, was Normalität, über die andere Leute sich beschwerten, eigentlich bedeutete.
Und dann war Sam aufgetaucht, mitten in der Nacht wie ein Einbrecher, und die Geschichte hatte sich wiederholt. Diesmal war es Dean, der mit einem Baseballschläger ins Erdgeschoss geschlichen war, Dean, der den Bruder zunächst nicht erkannte - sein Verstand sich schlicht und ergreifend weigerte, ihn zu erkennen - und sie hatten gekämpft.
Und dann hatte er Sam erkannt, und alles war eingefroren. Ein paar himmlische Sekunden lang war Dean der Realität derartig entrückt gewesen, dass Sam ihn mühelos hätte umbringen können. Aber das hatte Sam nicht gewollt. Natürlich nicht. Was Sam gewollt hatte, so unwahrscheinlich und jenseits aller Logik es auch erschien, war … war ihr altes Leben. Das Leben, wie er es kannte, wie er es so lange verabscheut hatte … und Dean hatte kaum gezögert, bevor er mit ihm gegangen war.
Das Kind war nicht von ihm. Die Frau liebte ihn nicht. Sie brauchten ihn nicht. Sam brauchte ihn.
Und jetzt lag er hier, eine Woche später, das Motelzimmer so schäbig wie es nur ging, und Sam lag anderthalb Meter weiter und schlief. Dean blinzelte.
Sein Bruder sollte tot sein. Zugegeben, das hatte keinen von ihnen in der Vergangenheit aufgehalten, aber dieses Mal … Dieses Mal hatte sich endgültiger als sonst angefühlt.
Und wenn sie Auferstehungsszenen sonst mit den so seltenen Umarmungen zelebriert hatten, so war Dean diesmal viel zu entsetzt gewesen, um mehr zu tun, als zu starren. Auch Sam hatte nicht versucht, einen Moment brüderlicher Intimität herbeizuführen. Er hatte ihm nicht einmal aufgeholfen, nachdem Dean ihn erkannt und die Kampfhandlungen bestürzt abgebrochen hatte.
Dean drehte sich ein wenig in seinem unbequemen Bett und starrte Sams breites Kreuz durch die Dunkelheit hinweg an. Er hatte seinen kleinen Bruder zurück. Das gähnende Loch in seinem Selbst war gestopft, er fühlte sich nicht länger zerrissen. Er fühlte sich taub. Es war schlimmer als die Leere, die die Hölle in ihm hinterlassen hatte, obwohl er nicht genau sagen konnte, wieso eigentlich.
Zweifellos sollte er sich mehr freuen, Sam zurück zu haben? Sollte ähnlich reagiert haben wie Bobby, der Sam fünf Minuten lang nicht wieder losgelassen und zum ersten Mal seit Jahren regelrecht glücklich ausgesehen hatte. Aber er freute sich nicht, war nicht glücklich, war nicht einmal erleichtert. Wenn überhaupt fühlte er sich schwerer, geradezu bleiern. Sam hatte die Leere in ihm nicht nur gefüllt, er hatte sie überladen. Und es gab nicht die geringste Hoffnung auf Gottes weiter Erde, dass Sam das nicht bemerkt hatte.
Selbstverständlich sprachen sie nicht darüber, und wenigstens das war völlig normal.
„Ähm“, machte Sam, und seine Stirn krauste sich bestürzt. „Eine Fee?“
Ein empörtes Schnauben war die Antwort, und die Gestalt stemmte die Hände in die Hüften. „Alter! Ich bin doch keine Fee! Ich bin ein Efeh! Sehe ich etwa aus wie eine Fee?!“
Er gestikulierte energisch an sich auf und ab, und Dean gab bereitwillig zu, dass er das nicht tat. Zumindest nicht im herkömmlichen Sinne. Er sah aus wie ein Gogo-Tänzer. Glitter bedeckte seinen kompletten Körper, selbst da, wo er außerdem von blendend weißen Shorts bedeckt wurde, und das knallrote Haar stand ihm mit Glittergel in Form gebracht vom Kopf ab. Einzig die bernsteinfarbenen Knopfaugen deuteten an, dass es sich hier nicht (ausschließlich) um jemanden handelte, der es für Geld machte.
„Und du willst was genau?“ erkundigte Dean sich misstrauisch. Der Efeh hatte sich ihm mitten in der Nacht auf einem gottverlassenen Highway praktisch vor den Impala geworfen, und bloß, weil er unter dem ganzen Glitter einigermaßen harmlos aussah, hieß das nicht, dass er das auch war. Aber da sie in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht hatten, dass man sich ab und zu selbst einem Dämon anvertrauen konnte, hielt Dean sich mit mörderischen Attacken vorerst - vorerst zurück.
„Euch helfen natürlich“, lautete die Antwort. Sam und Dean tauschten einen Blick.
„Wobei genau?“ wollte Dean wissen.
„Wie?“ erkundigte sich Sam gleichzeitig.
„So.“ Bevor Dean wusste, wie ihm geschah, war der Efeh vorgetreten, hatte ihn bei den Hüften gepackt und …
„Uh!“
… und Dean erlebte seinen ersten halbwegs sexuellen Kontakt mit einem anderen Mann. Zugegeben, es passierte nicht viel mehr, als dass der Efeh sich einmal der Länge nach an seine Front presste und … äh … sich an ihm auf und ab schlängelte, aber Dean fühlte sich trotzdem benutzt.
Hätte der Efeh nicht fünf Sekunden später eine ähnliche Aktion an Sams Kehrseite abgezogen, hätte Dean sogar von sexueller Belästigung gesprochen. Warum es keine sexuelle Belästigung war, wenn nicht nur er belästigt wurde, war ein Thema, dessen Erörterung Sam nach mehreren äußerst frustrierenden Stunden aufgeben würde.
Sam und Dean standen da, völlig reglos in ihrer grenzenlosen Perplexität, und der Efeh betrachtete kritisch sein Werk.
„Sollte reichen“, beschloss er schließlich. Und damit verschwand er. In einer Puffwolke aus Glitzerstaub.
Sam blinzelte. Dean blinzelte. Sie niesten.
„Du hast da was“, stellte Sam nach einer Weile leise fest. Dean blickte an sich hinab. Er glitzerte. Seine famose, von seinem Vater geerbte Lederjacke glitzerte! Er rubbelte ein wenig an dem abgenutzten Material herum und stellte fest, dass er das Glitzerzeug jetzt an den Fingern kleben hatte. Er grunzte ungehalten.
„Fabelhaft.“
Sam war inzwischen dazu übergegangen, über die eigene Schulter seinen Rücken hinab zu starren zu versuchen. Dabei drehte er sich im Kreis, wie ein Hund, der den eigenen Schwanz jagt. Kurz huschte ein nicht zu unterdrückendes Grinsen über Deans Züge, dann packte er mit der Linken seinen Bruder am Ellenbogen, hielt ihn fest und drehte ihn um.
„Ja. Dein Rücken ist auch voll mit dem Zeug.“
„Was glaubst du, was es macht?“ erkundigte Sam sich nervös.
Dean hatte die überraschende Feststellung gemacht, dass Sam, seit er wieder da war, sich abwechselnd uralt und wie ein kleiner Junge verhielt. Noch mehr als früher. Es machte ihn ein bisschen wahnsinnig.
„Ich habe keine Ahnung“, antwortete er grob. „Bisher tut es nicht das Geringste.“
Er rieb die glitzernden Fingerspitzen seiner rechten Hand aneinander und betrachtete sie nachdenklich. Er fühlte sich nicht anders als sonst. Glaubte er zumindest.
„Ich bin müde“, verkündete er geistesabwesend. „Lass uns weiter fahren und beim nächsten Motel Halt machen.“
„Ok.“ Sam nickte und blickte ihn dann abwartend an.
Einen Moment lang wusste Dean nicht, was er von ihm wollte, dann stellte er fest, dass er noch immer Sams Ellenbogen festhielt. Er ließ ihn los.
„Tschuldige.“
„Schon gut.“
Sie gingen zum Impala, stiegen ein und setzten die Fahrt stumm fort.
Eine halbe Stunde später wurde die eintönige nächtliche Landschaft durch ein Motel mit angeschlossenem Diner belebt, und Dean lenkte den Wagen auf den dazugehörigen Parkplatz. Er fühlte sich noch immer nicht anders als sonst.
Gleichzeitig mit Sam öffnete er die Autotür, und er warf sie auch gleichzeitig mit Sam wieder zu. Sie orderten sich gemeinsam ein Zimmer und zuckten synchron mit den Schultern, als sich herausstellte, dass nur noch eines mit Doppelbett zur Verfügung stand. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich ein Bett teilen mussten, und es würde auch leider nicht das letzte Mal bleiben.
Dean nahm den Schlüssel für das Zimmer entgegen, und er spürte Sam hinter sich, während er die Reihe von Türen entlang ging, schließlich vor der mit der Nummer Neun stehen blieb und aufschloss.
„Ich schlaf auf der rechten Seite“, verkündete er gewohnheitsbedingt, während Sam an ihm vorbei ins Zimmer trat, und sein Bruder grunzte zustimmend und stellte seine Reisetasche auf der anderen Hälfte des Bettes ab. „Willst du zuerst duschen?“
Dean bejahte, schloss die Eingangstür hinter sich und marschierte direkt ins Bad. Er entledigte sich methodisch seiner Kleidung, legte sie übers Waschbecken und stieg unter die Dusche. Auf halbem Weg machte er die unerquickliche Entdeckung, dass der ominöse Glitter es bis unter seine Klamotten geschafft hatte, und schnaubte ungehalten. Hoffentlich ließ das Dreckszeug sich abwaschen.
Es ließ nicht. Das stellte Dean nach zwanzig Minuten steigender Frustration fest. Er stellte das nutzlose Gerubbel auf seiner Brust also ein, drehte das Wasser ab und versuchte, nicht daran zu denken, dass das peinliche Geglitzer sich leider nicht auf den Brustbereich beschränkte. Er schlang sich ein Handtuch um die Hüften, dann ging er zu Sam ins Zimmer zurück.
Ein Blick auf sein Gesicht genügte, um Sam darüber in Kenntnis zu setzen, dass etwas entschieden nicht in Ordnung war. Ein Blick auf seine Brust reichte aus, um Sam darüber zu informieren, was genau das war. Er hätte gegrinst, wäre er sich nicht so sicher gewesen, dass sein Rücken mindestens genau so sehr glitzerte wie Deans Torso.
„Es geht nicht ab?“ mutmaßte er und stand vom Bett auf, um an Dean vorbei ins Bad zu gehen.
„Nein“, erwiderte Dean grummelnd. „Alles Schrubben hat nichts genützt.“
Sam zog mit nachdenklichem Gesicht die Tür zum Bad hinter sich ins Schloss.
Kaum zehn Minuten später war er wieder zurück. Er hatte gar nicht erst versucht, seinen Rücken oder Hintern vom störenden Glitter zu befreien, demzufolge hatte er unter der Dusche keine unnötige Zeit vergeudet.
Dean war bereits im Bett, hatte die Decke bis zur Hüfte hochgezogen, und auf seinem Schoß thronte Sams aufgeklappter Laptop.
„Der Rest der Welt hat noch nie was von nem Efeh gehört“, teilte er Sam verdrießlich mit. „Dämliches, nutzloses Internet.“
Sam zuckte nur mit den Schultern. „Lässt sich nicht ändern. Morgen können wir uns eine Bücherei und nützliche Quellen suchen. Bis dahin können wir nur hoffen, dass das Zeug nicht gefährlich ist.“
Er rutschte neben Dean ins Bett, schloss die Augen und knipste die Lampe auf seiner Seite aus. Ein paar Minuten später hörte er Dean den Laptop zuklappen.
„Gute Nacht“, sagte er leise.
Dean machte seine Lampe aus.
„Gute Nacht, Sam.“
Der nächste Morgen kam für Dean zu unchristlich früher Stunde. Er war keineswegs ausgeschlafen, grunzte unzufrieden und konnte sich einen Moment lang nicht erklären, warum er überhaupt aufgewacht war.
Dann sah er es. Haare. Unmengen von Haaren. Direkt in seinem Gesicht.
„Fhtzt …“ Dean zog seinen Kopf ein Stück zurück, blickte verwirrt an sich hinab und … wäre beinahe rot geworden. Nicht nur hielt er Sam auf nahezu zärtliche Art und Weise an sich gedrückt, sein Körper reagierte außerdem alles andere als unzufrieden darauf.
„Dreck.“
Dean hätte sich an dieser Stelle diskret ins Bad verdrückt, aber er hatte den linken Arm um Sam gelegt, und seinem Bruder war selbstverständlich nichts Besseres eingefallen, als sein Handgelenk zu umklammern und es an seine Brust zu drücken.
Kurz dachte Dean darüber nach, einfach liegen zu bleiben und zu versuchen, weiter zu schlafen. Sicher, die Situation war ein wenig peinlich, aber er war verdammt noch mal zu müde, um sich darum zu scheren. Dann jedoch ließ Sam sein Handgelenk los, drehte sich zu ihm um und drückte sich der Länge nach an ihn heran.
Und weil es merkwürdig genug war, wenn einer von ihnen eine Morgenlatte hatte, während sie sich das Bett teilten, hielt Dean es für ratsam, selbiges zu verlassen, wenn es auf sie beide zutraf.
Dean flüchtete ins Bad.
Dort angekommen stellte er fest, dass er noch immer glitzerte, seufzte schwer und stellte sich unter die Dusche. Gegen den Glitter mochte er nichts tun können, aber gegen die Morgenlatte halfen die altbewährten Methoden. Dean durfte nur nicht allzu genau darüber nachdenken, dass auch sie hartnäckig glitzerte.
Zwanzig Minuten später trat er wieder zu Sam ins Zimmer. Er blieb direkt hinter der Tür stehen, blickte zum Bett hinüber und frottierte sich nachdenklich die Haare.
Sam schlief noch. Er lächelte.
Dean fand, dass sein Bruder nicht wie jemand aussah, der sich in die Hölle gestürzt hatte, um den Teufel einzusperren. Er sah aus wie … er wirkte so normal.
Dean legte sich das Handtuch in den Nacken und schloss kurz aber nachdrücklich die Augen. Sam war nicht normal. Das waren sie beide nicht. Normale Leute starben nicht mehr als einmal.
Als Dean die Augen wieder aufschlug, blickte Sam ihn an. Es war ein verschlafener Blick, und irgendwo zwischen oberem und unterem Wimpernrand verbarg sich tatsächlich ein Lächeln.
„Guten morgen“, sagte Dean leise. Sam grunzte nur und setzte sich auf. „Wie spät ist es?’“
„Keine Ahnung.“ Dean blickte sich um und konnte keine Uhr entdecken. „Früh, nehme ich an. Willst du weiter schlafen?“
Sam schüttelte den Kopf, und Dean nickte ihm zu. „In Ordnung. Ich zieh mich an und hol Frühstück. Willst du was Bestimmtes?“
Nach einigen Sekunden des Überlegens verlange Sam einen Chai Latte und Pfannkuchen, und Dean sprach ihn nicht darauf an, wie weit das von seinen früheren kulinarischen Vorlieben abwich. Stattdessen schlüpfte er in frische Shorts und Jeans, streifte sich ein Shirt über und trat ohne Socken in seine Schuhe, bevor er sich seine Brieftasche griff und aus der Tür eilte.
Sam saß angezogen auf dem Bett, als Dean zurück kam, und er schenkte seinem Bruder zur Begrüßung ein etwas aufgesetztes Lächeln. Dean runzelte prompt die Stirn. „Ist was passiert?“
Ein Kopfschütteln war die Antwort.
„Was ist los?“
Sam zuckte mit den Schultern. „Nichts. Ich hatte bloß den Glitter vergessen.“
Dean schnaubte leise. „Ich weiß, was du meinst.“
Er reichte Sam eine Styroporverpackung und einen enormen Pappbecher. „Hier. Guten Appetit.“
Sam bedankte sich artig, dann wurde ihm bewusst, dass Dean sich selbst nichts zu Essen geholt hatte. Seine Stirn nahm dies zum Anlass, sich in ganz fürchterliche Falten brüderlicher Besorgnis zu legen.
„Wirst du krank?“
„Nein. Hab bloß keinen Hunger.“
Sam stellte sein Frühstück beiseite und stand eilig aus dem Bett auf. „Zeig mir deine Brust!“
Dean verdrehte die Augen. „Sei nicht albern.“
„Zeig schon her!“ Sam baute sich vor Dean auf, packte dessen Shirt am Saum und zog es in die Höhe. Unter anderen Umständen hätte die Intensität, mit der Sam seinen Torso studierte, Dean vielleicht amüsiert und ihm Anlass zu geschmacklosen Bemerkungen gegeben, augenblicklich irritierte sie ihn hauptsächlich.
„Kann ich nicht einfach keinen Hunger haben?“
„Nein.“ Sams Stimme war ruhig und fest, und Dean blickte verdutzt zu ihm auf. „Nein?“
„Du hast immer Hunger“, informierte Sam ihn mit verbissenem Unterton. „Demzufolge stimmt etwas ganz entschieden nicht, wenn du keinen Hunger hast.“
Sam begleitete diese Aussage dadurch, Dean mit dem Finger in die Brust zu pieken, und Dean zuckte ein wenig vor ihm zurück und bekam eine Gänsehaut. „Sonst noch was, Sherlock?“
„Ich glaube, es ist mehr geworden.“ Sam klang nicht einmal sonderlich entsetzt. Er zog Deans Shirt wieder nach unten. Deans Gänsehaut intensivierte sich. „Fühlst du dich anders als sonst?“
Dean zuckte mit den Schultern. „Nö.“
Sam rümpfte verwirrt die Nase.
„Das ist einfach nicht richtig“, beschloss er leise. Dean zog ihm eine genervte Schnute. „Kann ich nicht einfach keinen Hunger haben?“ wiederholte er in der leisen Hoffnung, diesmal damit zu Sam durchzudringen. Als ob.
„Nein!“ Sam stieß das Wort mit derartiger Vehemenz hervor, dass Dean ein weiteres Mal vor ihm zurückzuckte. Sam packte ihn prompt am Oberarm, als fürchte er, Dean hege den diabolischen Plan, sich unterm Bettvorleger vor ihm zu verstecken. Der Druck seiner Finger ließ Dean beinahe erschaudern, und wohl zum ersten Mal in seinem Leben löste die überlegene Kraft und Größe seines Bruders in ihm etwas anderes als widerwilligen Respekt aus. Niemand sonst, so war Dean sich sicher, hatte so unglaublich große, warme Hände. Der Gedanke erfüllte ihn mit einer Woge völlig irrationaler Entrüstung.
„Alter, lass mich los! Ich hab nicht vor, wegzulaufen!“
Sam zögerte sichtlich. Dean atmete tief durch. „Ok, es reicht. Gib mir deine Pfannkuchen.“
Auf Sams Zügen erblühte ein vorsichtiges Lächeln. Wie Gänseblümchen nach einem besonders harten Winter. Er reichte Dean die Styroporverpackung und teilte anschließend sogar seinen Latte mit ihm.
In den kommenden zwei Wochen achtete Dean peinlich genau darauf, alle zwei Stunden etwas zu sich zu nehmen, völlig egal, ob er Hunger hatte oder nicht. Er achtete außerdem darauf, dass Sam ihn nicht mehr anfasste als unbedingt nötig.
Der Glitter blieb.
Die Bücherei war alt und roch nach Staub. Dean nieste alle zwanzig Minuten, Sam tränten die Augen. Ein Buch nach dem anderen wurde aus dem Regal gezogen, aufgeklappt und bald mehr oder weniger frustriert wieder zugeschlagen.
Zwei Wochen intensivster Recherche ließen folgenden Schluss zu: Entweder gab es schlicht keine Efehn, und Sam und Dean hatten sich die Begegnung mit dem glitzernden Nackedei eingebildet, oder der Dreckskerl hatte ihnen einen falschen Namen genannt.
So oder so ließ sich über den Glitter, der Sam und Dean nach wie vor bedeckte, nichts herausfinden.
Dean seufzte frustriert und ließ die Schultern kreisen. Ihm tat der Nacken weh.
Sam ließ neben ihm das letzte Buch auf den Tisch fallen und grollte ungehemmt. Dean mochte es, wenn er das tat, hielt es jedoch kaum für angebracht, das laut auszusprechen.
„Ich hab Hunger“, stellte er fest. Diesmal stimmte es sogar.
Sam ließ den Kopf kreisen und ein Knacken ertönte. Dean zog die Augenbraue in die Höhe.
„Alter, das ist total widerlich.“
„Es hilft.“
„Irgendwann wird dir der Kopf abfallen.“
„Bis dahin hilft es.“
Sam stieß Dean mit der Schulter an. Dean ignorierte den konsequenten Schauer, der ihn durchlief. Inzwischen fiel es ihm sogar ganz leicht.
„Komm, lass uns gehen.“
Sie stellten die Bücher zurück an ihre angestammten Plätze und verließen die Bücherei Seite an Seite. Sam ertappte sich mehrfach dabei, dass er an die Stelle starrte, wo Deans Shirtkragen unter seine Glitter-Grenze gerutscht war. In den letzten zwei Wochen war es zunehmend schwerer geworden, nicht zu starren.
Sam seufzte unwillkürlich.
Sie bogen in eine düstere Gasse ein, und es machte leise Puff.
„Hey, Jungs!“
Dean fuhr herum, sein Arm schnellte nach vorn, und seine Hand presste den verdutzten Efeh an die nächste Wand.
„Ey! Pass auf meine Kutte auf!“
Ein kurzer Kontrollblick offenbarte, dass der Efeh sich heute in ein praktisch durchsichtiges Nichts von einer Tunika mit dazu passenden Shorts geworfen hatte. Die ebenfalls praktisch durchsichtig waren. Dean blickte eilig wieder nach oben.
„Du!“ grollte er anklagend.
„Ja, ich. Hast du wen anders erwartet? Hallöchen auch. Wie geht’s euch?“
Der Efeh blickte von einem zum anderen und zog nachdenklich die perfekt geschwungenen Augenbrauen zusammen. „Huh. Wie ungewöhnlich.“
„Was“, erkundigte Sam sich mühsam kontrolliert, „ist ungewöhnlich?“
Der Efeh ließ sich von Deans Hand an seiner Luftröhre nicht aus der Ruhe bringen und gestikulierte zwischen den Brüdern hin und her. „Ihr leuchtet noch gar nicht.“
Bleierne Stille senkte sich herab.
Der Efeh dachte sichtlich nach.
„Ihr verbringt praktisch jede Minute miteinander. Wie könnt ihr da nicht leuchten?“
Hinter Deans Stirn machte etwas leise Pling.
„Leuchten?!“ donnerte er. „Wieso sollten wir leuchten?! Im Gegensatz zu dir sind wir keine Fummeltrinen ohne Sinn für Anstand und Moral“ - an dieser Stelle hob sich Sams linke Augenbraue um etwa zwei Zentimeter - „und außerdem leuchten Menschen nicht!“
Der Efeh musterte ihn kritisch. „Du bist also das Problem. Hätte ich mir denken können.“
Er packte die Hand, die an seinem Hals lag, mit unerwarteter Kraft und riss Dean mit einem Ruck an sich heran. Sam konnte nur daneben stehen und starren, während Dean von dem übernatürlichen Wesen aufrecht stehend einen Lapdance bekam.
Auch Dean befand sich in einem Zustand, der sich nur als Schrecklähmung bezeichnen ließ.
Der Efeh schlängelte sich etwa zwei Minuten lang um ihn herum, dann machte er einen Schritt von Dean weg, begutachtete sein Werk, nickte zufrieden und wandte sich zu Sam um.
Sam starrte ihn an wie eine verhuschte Haselmaus.
„Keine Sorge“, versuchte der Efeh ihn zu beruhigen, „das sollte jetzt wirklich genügen.“
Er verschwand in einem Wölkchen aus goldenen Funken.
Eine Sekunde später gaben Deans Knie nach und er sank zu Boden. Sam kniete sich neben ihn, seine Hände fanden Deans Schultern und er hielt seinen Bruder aufrecht, während Dean schwer damit beschäftigt war, gewisse Impulse zu unterdrücken.
„Scheiße“, sagte er leise, und dann, wesentlich lauter, „verdammte Scheiße!“
Und dann veränderte sich auf einen Schlag sein Gesichtsausdruck, und Sam hatte schreckliche Angst, dass Dean gerade einen Schlaganfall hatte, weil nichts anderes diese plötzliche Ruhe und … und Verzückung erklären konnte.
„Dean?“ fragte er vorsichtig.
Dean blickte aus glasigen Augen zu ihm auf. „Hn?“
Sam wurden auf einen Schlag zwei Dinge klar: Deans Pupillen waren unnatürlich geweitet, und der Glitter beschränkte sich nicht länger auf seinen Oberkörper.
Er war überall - erstreckte sich über Deans Hände, sein Gesicht, bis hinauf zum Haaransatz und vermutlich darüber hinaus. Sam schluckte trocken.
Seine Finger zuckten. Schließlich konnte er sich nicht länger beherrschen, streckte die Hand aus und legte sie an Deans Wange. Es kribbelte.
Dean stöhnte leise und schmiegte sich an seine Hand. „Sammy …“
Der analytische Teil von Sams Persönlichkeit registrierte, dass der Glitter auf ihn überging, dass auch seine Hand begann zu schimmern - aber da mit einem Mal weitaus primitivere Teile seines Selbst an die Macht kamen, ging diese Feststellung in einer Welle von Verlangen unter.
Sam biss sich auf die Unterlippe, rutschte dichter an Dean heran und strich ihm mit dem Daumen über den Wangenknochen. Es knisterte leise. Funken stoben. Dean stöhnte ein weiteres Mal und schloss die Augen.
Sam sog einen hastigen Atemzug ein, als er die matt schimmernde Linie entdeckte, die sein Daumen hinterlassen hatte.
Dean leuchtete.
Sam atmete tief durch, dann ließ er seine Hand tiefer gleiten, über Deans Hals, sein Schlüsselbein, bis hinab zu seiner Brust - starrte fasziniert auf schimmernden Pfad, den er hinterließ, genoss das sinnliche Prickeln in seinen Fingerspitzen.
Über Deans Lippen kam ein Laut als leide er Schmerzen, und einen Atemzug später hatte er sich an Sam gepresst, sein Gesicht an Sams Halsbeuge vergraben und rieb sich an ihm.
Sam grollte hilflos, seine Arme schlangen sich wie von selbst um Dean, und er hielt seinen Bruder an sich gedrückt, musste die Augen schließen wegen des plötzlichen Glühens, das zwischen ihnen entstand.
Sams Hände glitten über Deans Rücken, Funken sprühten, wo seine Fingernägel über die Lederjacke glitten, und als Dean an Sams Halsbeuge einen erstickten Atemzug tat und dann gierig in die warme Haut biss, flackerte es blendend weiß auf.
Sams Kehle entkam ein Grollen, er ließ seine Hände an Deans Rücken hinab gleiten und schob seine Hände ohne zu zögern unter alle Lagen Stoff, die Deans nackte Haut vor ihm verbargen.
Einen Moment lang gefror die Luft zwischen ihnen - dann zerbrach sie in Myriaden von Splittern und ging in Flammen auf.
Dean entkam ein Wimmern, er hob sein Gesicht aus Sams Halsbeuge und öffnete die Augen um Sam anzusehen, die Pupillen jetzt derartig geweitet, dass es wirkte, als sei er besessen. Er legte beide Hände auf Sams Brust, rieb an ihr auf und ab, und beobachtete fasziniert den Funkenregen, den er auslöste.
Dann packte er aus einem Impuls heraus Sams Hemd am Saum und riss es in die Höhe, entblößte braungebrannte, schimmernde Haut, und seine Hüften zuckten wie von allein nach vorn. Sam hielt es nicht länger aus und zerrte Dean auf seinen Schoß.
Hätte es sich um etwas gehandelt, das sich mit unbeteiligten menschlichen Augen wahrnehmen ließ, die in den Himmel aufsteigende Lichtsäule hätte die komplette Nation in Panik versetzt.
Dean hielt seine Hände auf Sams Brust gepresst, seine Daumen rieben über Sams harte Brustwarzen, und sein Blick klebte wie hypnotisiert an den winzigen Funken, die jede einzelne Berührung von ihm auslöste. Einen Moment lang wand sich Sam unter ihm, zu überwältigt von Deans plötzlicher Nähe, um selbst etwas zu tun, zu verwirrt, um sich zu rühren.
Sein Verstand mochte dabei sein, diesen Kampf zu verlieren, aber noch kämpfte er.
„Dean“, brachte Sam mühsam hervor, während sein ganzer Körper nach mehr schrie. „Was passiert hier?“
Deans Blick traf auf seinen, voller Lust und doch seltsam leer, und Sam musste die Luft anhalten, musste mit allem, was er hatte, gegen das Bedürfnis ankämpfen, Deans Lippen mit seinen zu versiegeln und ihn zu küssen.
Das hier war nicht richtig.
Und dann reckte Dean sich ihm plötzlich entgegen, brachte ihre Münder mit derartiger Wucht zusammen, dass Sam vor Überraschung und leisem Schmerz aufkeuchte, bevor sein Verstand den letzten, vernichtenden Schlag hinnehmen musste.
Dean leckte über seine Lippen. Als wolle er sich für die vorangegangene Rücksichtslosigkeit entschuldigen, war er jetzt zärtlich und beinahe schüchtern. Sam gab jeden Widerstand auf.
Er öffnete den Mund, begegnete Deans Zunge mit seiner eigenen - und er musste die Augen zukneifen, weil das jäh zwischen ihnen aufgleißende Licht zu sehr blendete. Er hörte Dean leise, hilflose Laute von sich geben und schlang seine Arme fester um ihn, küsste ihn gieriger.
Dean hatte das Gefühl, zu schmelzen. Seine Fingerspitzen strichen geistesabwesend über Sams warme Haut und ließen glühende Linien auf ihrem Weg zurück. Er rieb sich an Sam; zuerst langsam und mit beinahe schmerzhafter Zurückhaltung, dann zunehmend fordernd.
Sam keuchte fassungslos, packte Deans Hüften mit einer Gewalt, die blaue Flecken hinterlassen würde, und riss ihn mit einem Ruck an sich heran, nur um einen Atemzug später festzustellen, dass es noch immer nicht genug war. Dean verdrehte die Augen hinter geschlossenen Lidern. Er presste die Hüften in die Höhe, gegen Sams, und er registrierte das leise, flehende Wimmern, das über seine Lippen kam nicht einmal. Sam registrierte es. Er brachte seine Hände zwischen sich und Dean und öffnete ihrer beider Jeans.
Er hörte Dean leise aufseufzen, spürte die Hände seines Bruders zögernd über seinen Rücken und immer tiefer gleiten, bis sie mit erstaunlicher Selbstsicherheit seinen Hintern umfassten. Sam hätte beinahe aufgeschrieen.
Er presste sich Deans Händen entgegen, und seine eigenen fanden ganz selbstverständlich ihre Erektionen, umfassten sie beide gemeinsam in einem sicheren, festen Griff und begann zu pumpen.
Danach wurde alles weiß.
Teil 2