Die Ursachen und Urheber des 2. Weltkriegs - Neunte Auflage (1973)
Zweiundzwanzigstes Kapitel. Englands Ablehnung des italienischen Konferenzplanes und der Ausbruch des 2ten Weltkrieges
Bonnet setzt sich für die Friedenskonferenz ein
...Am 2. September 1939 trat der polnische Sejm
zu einer Sondersitzung zusammen. In seiner Eröffnungsansprache betonte der Vorsitzende, Pilsudski habe Polen gelehrt, nicht nur um seine Unabhängigkeit zu kämpfen, sondern auch, wie sie zu verteidigen sei. Die ukrainischen Sprecher im Sejm, die seit dem Abschluß des deutsch-russischen Pakts vom 23. August 1939 mit Schrekken Ostpolen von einer sowjetischen Invasion bedroht sahen, boten der polnischen Regierung ihre volle Unterstützung an.
...Eine polnische Militärkapelle spielte den Marsch der Ersten Brigade Pilsudskis aus dem 1. Weltkrieg und anschließend die polnische Nationalhymne „Jescze Polska nie Zginela!“ (Noch ist Polen nicht verloren).
...Pierre Laval betonte vor dem Senat mit großem Nachdruck, es sei verfassungswidrig, wenn sich die Regierung an Feindseligkeiten beteilige, ohne vorher das Parlament um eine Kriegserklärung ersucht zu haben. Dieses galt unter französischen Politikern als eine äußerst umstrittene Frage. Doch hielt Laval mit einer eigenen Stellungnahme zur Krise nicht zurück. Er stimmte Bonnet zu, daß die Polen ihre Verpflichtungen Frankreich gegenüber vernachlässigt hätten, und meinte zu Daladier unmißverständlich, eine vorbehaltlose Kriegserklärung an Deutschland bedeute für Frankreich Selbstmord.
...Sir Percy Loraine berichtete Halifax am späten Nachmittag des 2. September, Hitler habe einem Waffenstillstand und einer internationalen Konferenz zugestimmt und sei mit Plänen zur Einstellung der deutschen Kampfhandlungen in Polen beschäftigt. Der deutsche Führer hatte erklärt, er könne die Kampfhandlungen in Polen an allen Abschnitten bis Sonntagmittag, den 3. September, abstoppen.
...Ciano teilte Loraine mit, Bonnet sei bereit, Hitlers Bitte um weniger als einen Tag zwecks Vorbereitung eines Waffenstillstandes am 2. und 3. September zu entsprechen. Er bedeutete Loraine, daß ihn diese Nachricht ungemein erfreue. Ciano rief Halifax an, kurz bevor Cadogan um 5 Uhr mit Bonnet sprach. Der italienische Außenminister glaubte nicht recht zu hören, als Halifax seine vorher zu Bonnet geäußerte Erklärung wiederholte, daß die britische Regierung den italienischen Konferenzplan erst dann in Erwägung ziehen werde, wenn Deutschland Polen bis zum letzten Mann geräumt habe. Ciano war erstaunt, daß Halifax Hitlers Bereitschaft, sein Entgegenkommen durch Einstellen der Feindseligkeiten zu zeigen, einfach ignorierte. Er versicherte Halifax, es müsse als großer Erfolg betrachtet werden, Hitlers Bereitschaft zum Einstellen der Kampfhandlungen am 3. September und zur Teilnahme an der Konferenz am nächsten Tag zu erwirken. Nachdrücklich hob er hervor, Englands Forderung nach Zurücknahme der deutschen Truppen sei völlig ohne jede Vernunft und würde jede Chance einer friedlichen Regelung zunichte machen.
Halifax täuscht Ciano.
Halifax entschloß sich in dieser Lage zu einem verzweifelten Spiel. Er rief Ciano um 6 Uhr 38 abends in der Absicht an, die gegenwärtige Stellung der britischen Regierung bewußt falsch darzustellen. Die Franzosen hatten noch nichts über ihre endgültige Antwort auf den italienischen Vermittlungsplan verlauten lassen. Die britische Regierung ihrerseits hatte nicht die Absicht, gegen Deutschland ohne französische Unterstützung vorzugehen. Halifax entschloß sich trotzdem, Ciano zu sagen, ihm sei die letzte britische Antwort bekannt und diese sei negativ. Zwar war es eine unverschämte Lüge, aber seit der Tilea-Lüge im März 1939 hatte die britische Politik zu einem großen Teil aus einem Netz bewußter Lügen bestanden.
Halifax bedeutete Ciano, die Zurückziehung der deutschen Truppen aus Polen sei die wesentliche Voraussetzung für jede Konferenz, Großbritannien und Frankreich seien sich in diesem wichtigen Punkt vollkommen einig. Ciano gewann den falschen Eindruck, Bonnet habe dieses verhängnisvolle Manöver der Briten zur Verhinderung einer Konferenz bereits hingenommen, bevor er sich zur Kabinettssitzung begab, welche immer noch anhielt. Halifax hatte die Nachricht erhalten, daß Professor Burckhardt noch in Kowno, der Hauptstadt Litauens, weile, etwa 400 km von Danzig entfernt. Mit Nachdruck betonte er Ciano gegenüber, Großbritannien verlange die Wiedereinsetzung des Völkerbundskornmissars und seiner Befehlsgewalt, bevor man die Möglichkeit einer Konferenz in Erwägung ziehe. Verzweifelt versuchte Ciano ihn zu unterbrechen, um zu sagen, daß Hitler diese Voraussetzungen unmöglich vor seiner Teilnahme an einer Konferenz in den nächsten Tagen erfüllen könne. Halifax’ Phantasie schien unerschöpflich im Erfinden unüberwindlicher Hindernisse für eine erfolgreiche Konferenz zu sein.