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Jun 20, 2004 11:51

Gartenhaus

Am unteren Ende unseres Gartens steht ein altes Gartenhaus, direkt vor der Lücke in der Hecke zum Nachbargarten. In dieser Siedlung haben alle Häuser einen großen Garten hinter dem Haus und zur Straße hin einen kleinen Vorgarten. In unserem Garten steht das alte Gartenhaus, von dem niemand mehr weiß, warum es aufgestellt wurde. Innen ist genug Platz für eine alte Couch, zwei Stühle und einen kleinen Tisch, für eine Standheizung, einen kleinen, verschließbaren Schrank und ein Regal. Es ist aus Holz gebaut, das einen verwitterten dunklen Braunton hat. Die Tür hat ein Schloss mit großen, langen Schlüsseln und in jeder der Seitenwände ist ein Fenster. Im Gartenhaus steht eine alte Stehlampe aus dem Wohnzimmer.

Durch die Lücke in der Hecke kam Laura immer aus ihrem Garten herüber zu uns. Wir waren beide Einzelkinder, Nachbarn seit wir sechs Jahre alt waren. Damals war sie das typische Mädchen von nebenan. Ich war der Junge von nebenan und wenn meine Familie sonntags in den Zoo fuhr, kam sie mit, oder wenn ihre Familie an einem anderen Sonntag ein Picknick am Fluss machte, dann war ich dabei. Nachmittags, nach der Schule, trafen wir uns im Gartenhaus. Manchmal blieben wir dort, bis uns unsere Eltern zum Abendessen riefen, nur, um uns nach dem Essen dort wieder zu treffen. Dort konnten wir die Welt vergessen und uns mit unseren Gedanken eine Neue erschaffen. Das alte Gartenhaus war unser Reich, unangetastet von unseren Eltern.

Ich kann mich nicht daran erinnern, früher alleine dort gewesen zu sein. Vielleicht war es ich manchmal, aber in der Erinnerung war Laura immer dabei. Ich mochte sie, mein Mädchen von nebenan. Mit ihr zusammen war es erträglicher, Hausaufgaben machen zu müssen. Wir waren auf derselben Grundschule, aber nicht in einer Klasse, und sie war besser in Mathe als ich. Wir fragten uns das Einmaleins ab. "Sechs Mal sieben?" "Vierundvierzig." "Nein, zweiundvierzig", korrigierte sie. Später gingen wir auf verschiedene Gymnasien, aber am Nachmittag saßen wir wieder gemeinsam im Gartenhaus und lernten Englischvokabeln. In Englisch war ich der Bessere.

Wir entwickelten uns gleich schnell, anfangs jedenfalls. Mit dreizehn hatte sie Brüste und bekam ihre Tage. Mit dreizehn hatte ich meinen ersten Samenerguss. Wir waren Freunde und es war für uns normal, über alles zu reden. Sie war hübsch, blonde Haare, grüne Augen und ein umwerfendes Lächeln. Meine Freunde in der Schule beneideten mich, aber sie war nur das Mädchen von nebenan, eine gute Freundin, mehr nicht. Manchmal, immer öfter, wünschte ich mir, wir wären mehr als nur gute Freunde.

Als wir vierzehn waren trafen wir uns an einem Abend im Gartenhaus und Laura hatten Zigaretten dabei. Unsere Eltern rauchten nicht. Unsere Eltern waren an diesem Abend alle ausgegangen. Ich öffnete das hintere der beiden kleinen Fenster. Sie hatte ein Feuerzeug mitgebracht, ich nahm mir vorsichtig eine Zigarette. Sie war viel leichter, als ich es gedacht hätte. Sie nahm sich auch eine und sagte, dass sie mit ihren Freundinnen aus der Schule schon geraucht hatte. Ich war beleidigt, weil ich nicht an erster Stelle gestanden hatte. "Du zuerst", sagte ich. Sie nahm das Feuerzeug, zündete die Zigarette an und zog daran. Sie blies den Rauch aus. "Jetzt du." Sekunden später nahm ich meinen ersten Zug und bekam einen Hustenanfall; sie lachte. Wir rauchen beide noch heute.

Jetzt stehe ich am Küchenfenster und schaue auf die Straße, neben mir blubbert die Kaffeemaschine. Lauras Auto steht vor ihrem Haus und sie und ihr Vater laden Taschen und Kisten in den Kofferraum. Nachher wird sie fahren, weg von hier, zum Studium. Es schmerzt zu sehen, wie sie wegzieht. Es schmerzt, nicht dabei zu helfen. Der Kaffee ist fertig, ich gieße ihn in einen großen Becher und rühre zwei Löffel Zucker hinein, keine Milch. Den Kaffeebecher in der einen Hand, mein Buch in der anderen, gehe ich zum Gartenhaus und lege mich auf die Couch. Der Kaffee steht auf dem kleinen Tisch, den ich herangezogen habe, neben einer Schachtel Zigaretten und einem Feuerzeug. Ich liege auf dem Rücken und lese nicht, auf meiner Brust ruht das aufgeschlagene Buch. Meine rechte Hand hängt über dem Boden und hält eine brennende Zigarette. Langsam blase ich den Rauch aus und verfolge, wie er zur Decke steigt.

Je älter sie wurde, desto seltener kam sie ins Gartenhaus. Auf ihre erste Zigarette folgte ihr erster Freund. Ich weiß nicht, wann sie das erste Mal Sex hatte, sie hat es mir nicht mehr erzählt. Ihre Freundinnen wurden wichtiger und ich wurde unwichtig. Ich war traurig, ich verfluchte sie, aber ich war zu stolz, um ihr zu zeigen, wie sehr ich sie vermisste. Ich gab die Versuche auf, mehr von ihrer Aufmerksamkeit zu bekommen; wenn sie doch noch mit mir sprach, war ich einsilbig und unfreundlich. Ich brauchte sie nicht, ich hatte meine eigenen Freunde, meine erste Freundin. Ich war verliebt, dann nicht mehr, später dann weitere Freundinnen. Partys bei Freunden, ich ging in die Disco, schlief zum ersten Mal mit einem Mädchen -- und ich vermisste Laura. Ich sah sie mit ihren Freundinnen in der Stadt, ich sah, wie sie und ihr Freund sich vor der Haustür küssten. Ich brauche sie nicht, sagte ich mir; wenn sie mich freundlich anlächelte und auf mich zuging, drehte ich mich um.

Ich seufze. Die Zigarette ist fast komplett abgebrannt, ich ziehe ein letztes Mal daran. Der Aschenbecher steht neben der Couch und quillt über, ich liege oft hier und rauche. Jemand klopft an der hölzernen Tür, es wird wohl meine Mutter sein, die vom Einkaufen nach Hause gekommen ist und fragt, ob ich etwas essen möchte; ich rufe ein halbherziges "Ja". Laura kommt herein und schließt die Tür leise hinter sich. Ich starre an die Decke und kann sie nicht ansehen.

"Martin", sagt sie, "ich fahre gleich." Ich reagiere nicht. "Ich wollte mich von dir verabschieden." Ich atme einmal laut tief durch. "Dann wünsche ich dir viel Erfolg beim Studium", antworte ich langsam, und füge hinzu, "Bis bald!" Es bleibt still. Es ist heiß, erst jetzt spüre ich die Wärme des Spätsommertages, die plötzlich unerträglich scheint. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, bevor ich zur ihr blicke, vielleicht sind es zehn Sekunden, vielleicht ist es mehr als eine ganze Minute. Fassungslos starrt sie mich an, bevor sie die Augen zur Decke dreht. "Oh, verdammt." sind die ersten Worte, die wieder fallen und die sie leise in einem Ton, den ich für eine Mischung aus Verzweiflung und Resignation halte, sagt.

Sie setzt sich neben meinen Oberkörper. Die weiße Bluse, die sie trägt, ist aus einem dünnen Stoff, ich kann deutlich hindurch sehen. Ihre Ohren sind rot, der Blick ihrer grünen Augen wandert ziellos durch den Raum. Sie zittert leicht. "Martin, früher waren wir so unzertrennlich. Warum hast du dich verändert?" Sie nimmt das Buch vorsichtig von meiner Brust und legt es, noch immer aufgeschlagen, auf den Boden. Ich fühle mich erschlagen, als mir langsam bewusst wird, dass ich mich in den letzten Jahren stärker von ihr entfernt habe als sie von mir. "Ich vermisse dich", sagt sie, beinahe flüsternd, "und ich-- ich brauche dich." Für einen Moment sehen wir uns beide in die Augen. Ich weiß in dieser Sekunde nicht, wie lange ich nicht mehr direkt in das tiefe grün ihrer Pupillen geblickt habe. Sie beugt sich vor und unsere Lippen berühren sich, ich schließe meine Augen, als unsere Zungen sanft aufeinander treffen.

Ich sitze aufrecht auf der Couch, Lauras Kopf liegt auf meinem Schoß, die langen blonden Haare wild durcheinander, die Augen geschlossen. Mit der Fingerspitze streiche ich über ihr Gesicht, an meinem Handgelenk spüre ich ihren Atem. Gleich wird sie aufstehen, sie wird gehen, sich an das Steuer ihres Autos setzen und wegfahren. Ich werde im Gartenhaus bleiben und nicht wissen, was ich denken soll. Morgen wird sie hunderte Kilometer entfernt sein, während ich alleine hier liege. Wird es so sein wie jetzt, wenn sie zurückkommt, oder war unser erster Kuss unser letzter? Ich möchte die Antwort nicht kennen. Mein einziger Wunsch ist es, die Zeit jetzt anzuhalten.

fiction, auf deutsch

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