Titel: Abflug - Kapitel 2
Bingo-Prompt: Prompt 81
Genre: Freundschaft, minimal Humor, h/c
Zusammenfassung: Schnee Ende Januar ist heimtückisch. Aber sowas von...
Wörter: ~4500
A.N.: Dies Kapitel ist so nichtssagend wie selten eins zuvor. Aber naja. Ohne ging es irgendwie auch nicht weiter mit dem Text. *LOL*
„Boerne, ist alles ok mit Ihnen?“, platzte es aus ihm heraus.
Der Angesprochene reagierte nur mit einem kurzen Blick über die Schulter. „Selbstverständlich.“ Sein Ton war arrogant wie immer, aber davon ließ Thiel sich nun nicht mehr täuschen. Bei genauerer Musterung sah Boerne irgendwie fertig aus; seltsam angespannt und ganz offensichtlich auch ziemlich erschöpft.
„Kommen Sie, machen Sie mir doch nichts vor.“ Er machte einen Schritt auf den Professor zu, ignorierte die weiterhin schrill alarmierende Eieruhr in der Küche. „Wo wollen Sie denn jetzt noch hin? Setzen Sie sich und essen Sie was, so verkniffen wie sie aussehen, brauchen Sie dringend etwas im Magen. Und dann würde ich mal vorschlagen, Sie hauen Sie sich ganz schnell in die Falle.“
Doch Boerne seufzte nur und schüttelte sichtbar entnervt den Kopf. „Thiel, ich sagte es doch bereits, ich kann mich nicht setzen. Und nun muss ich wirklich gehen.“
Er wollte am Kommissar vorbei in den Flur, doch das ließ Thiel nicht zu. "Ach Unsinn, als ob Sie um diese Uhrzeit noch Termine hätten! Was ist denn los? Sie schleichen hier rum wie ein Gorilla auf Glasscherben, irgendetwas stimmt doch nicht mit Ihnen!"
Er war dem Professor spontan in den Weg getreten und hatte ihn entschlossen am Arm festgehalten. Doch als Boerne, der durch diesen energischen Ruck aus dem Tritt gekommen und zu einem abrupten Halt gezwungen worden war, aufstöhnte und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht versteifte, bereute er seine Aktion sofort.
Erschreckt registrierte er, wie sein Gegenüber von jetzt auf gleich deutlich sichtbar an Farbe verlor. "Kacke Mann, was ist denn mit Ihnen los?" Hektisch griff er auch Boernes zweiten Arm, als der sich mit zusammengebissenen Zähnen an ihm festklammerte, ignorierte dabei seine heftig protestierende Schulter. "Jetzt setzen Sie sich doch endlich!"
„Nein, Thiel…“ Nach einem tiefen Atemzug schüttelte Boerne den Kopf und riss sich sichtlich zusammen. „Hören Sie mir doch zu! Ich sage nicht, ich will mich nicht setzen, es ist mir gerade technisch nicht möglich zu sitzen! Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich war den ganzen Tag auf den Beinen und muss mich wirklich dringend hinlegen.“ Er richtete sich langsam wieder auf und löste in einer leicht zittrigen Bewegung seine Finger, die er so fest in Thiels Jacke gekrallt hatte, dass die Knöchel ganz weiß erschienen waren.
Nur widerwillig lockerte Thiel seinerseits seinen Griff, während sich seine Gedanken überschlugen. Boernes unrunder Gang, sein schmerzverzerrtes Gesicht, das Wetter draußen... es gab nur eine Erklärung. „Sie hatten auch einen Unfall!?“
Sein Kollege fuhr sich mit einer Hand über die Stirn, strich ein paar der kurzen, immer noch nassen Strähnen weg und nickte dann matt. „Ich bin ausgerutscht.“
„Meine Güte, geht’s vielleicht etwas genauer?“ Thiel war mittlerweile echt besorgt, Boerne sah aus, als könnte er ihm jeden Moment vor die Füße reihern. Er schob ihn ganz behutsam zum Sofa. "Wo haben Sie sich verletzt? Soll ich einen Arzt rufen?“
"Machen Sie sich nicht lächerlich! Ich bin doch selber Arzt.“ Niemand sonst konnte gleichzeitig so erledigt und so aufgebracht klingen. Aber als Boerne merkte, wohin Thiel ihn dirigieren wollte, begann er hektisch den Kopf zu schütteln. „Nein, bloß nicht die Couch!“
Erneut versuchte er, sich zu befreien, doch das ließ der Kommissar nicht zu. Er hatte längst beschlossen, den mittlerweile entschieden zu blassen Mann erst wieder loszulassen, wenn er sich in der Waagerechten befand. "Hören Sie, Sie sagen doch selber, Sie müssen sich dringend hinlegen!", appellierte er an Boernes Vernunft. "Und Sie sehn‘ gerade echt aus, als wär das ´ne gute Idee!"
Seinen Argumenten zum Trotz steuerte Boerne mit ganz langsamen Schritten am Sofa vorbei, wobei er hervorpresste: „Aber sicher nicht auf Ihre Vollkatastrophe von einem Sofa. Darauf kann man schon unter normalen Umständen nicht liegen, und jetzt gerade geht es erst recht nicht.“
Thiel seufzte nur und versuchte nicht mehr, noch weiter zu diskutieren. Stattdessen begleitete er seinen Nachbarn schweigend durch den Flur, löste lediglich kurz seinen Griff um Boernes Arm, um ihm die Tür zum Treppenhaus zu öffnen. Ihm wurde ganz anders zumute, als er beobachtete, wie Boerne die Augen zukniff und schweratmend eine Hand auf seinen unteren Rücken presste, als er sich wieder in Bewegung setzen musste.
"Hör'n Sie mal, Sie haben sich bei Ihrem Abflug doch nicht etwa 'nen Wirbel gebrochen?! Sind Sie sicher, dass sich das nicht doch ein Arzt anschauen sollte?"
Boerne blinzelte ihn an und schüttelte den Kopf. "Ich habe mich nicht am Rücken verletzt, sondern am Steiß."
Das war zumindest endlich mal eine klare Aussage, auch wenn Thiel sie nicht wirklich beruhigend fand. "Toll, den kann man sich auch brechen."
Der Professor reagierte nicht auf ihn, sondern schleppte sich weiter durch den Flur.
An der gegenüberliegenden Wohnung angenommen ließ Thiel sich seinen Schlüssel geben, um ihm die Tür zu öffnen. Währenddessen musste Boerne sich an der Wand festhalten; danach wieder weiterzugehen war offensichtlich so unangenehm, es ihn nicht vollständig gelang, ein schmerzerfülltes Schnaufen zu unterdrücken.
In dem Moment hatte Thiel das Ende seiner Geduld erreicht. "So, Schluss jetzt. Ich ruf jetzt Vaddern an."
Der Kopf des Rechtsmediziners ruckte zu ihm herum. "Warum das denn?!"
„Um Sie ins Krankenhaus zu bringen, was denken Sie denn? Sie sollten sich mal sehen, Sie sehen aus wie ausgekotzt!“
Thiel hatte das Handy schon mit der gesunden Hand aus der Hosentasche gefummelt, doch Boerne warf ihm über den Rand seiner Brille hinweg einen zynischen Blick zu. „Und haben Sie auch die Güte, mir zu erklären, wie ich mit dem Taxi fahren soll, wenn ich doch nicht sitzen kann!?“
„Ach Kacke.“ Daran hatte er ja überhaupt nicht gedacht.
„Eloquent wie immer, Thiel. Ohne die tiefgründigen Konversationen mit Ihnen würde mir wirklich etwas fehlen.“
Thiel verdrehte die Augen und brauchte deshalb einen Moment, bis er realisierte, dass Boerne sich wieder in Bewegung gesetzt hatte. Er eilte ihm nach. „Jetzt warten Sie doch…“
Im Flur nahm er seinem Kollegen hastig den Mantel ab, um ihn an seiner statt an die Garderobe zu hängen. Doch mitten in der Bewegung verharrte er plötzlich wie vor den Kopf geschlagen. Der Mantel war viel schwerer als erwartet; er war wirklich unglaublich nass. Entschieden zu nass für ein paar Minuten Fußweg durch den Schnee.
Ein Gesprächsfetzen von zuvor kam ihm in den Sinn, der ihm mit reichlich Verspätung die Augen öffnete.
„Moment mal.“ Fassungslos blickte er zu Boerne auf und hielt ihm das vollgesogene Kleidungsstück wie anklagend entgegen. „Wann zur Hölle sind Sie gestürzt?!“
Nach zwei Sekunden Stille gestand Boerne schließlich widerwillig: „Heute morgen beim Joggen.“
Ihm schien klar zu sein, dass Ausflüchte ihm nichts gebracht hätten, Thiel hatte sich diese Antwort ohnehin schon selber zusammengereimt. Dennoch war er fassungslos. „Sie Wahnsinniger sind mit einem kauputten Steiß die ganze verdammte Strecke zum Institut zu Fuß gelaufen? Hin und zurück??" Er war so ungläubig, seine Stimme war nur ein heiseres Flüstern.
Boerne zuckte mit den Schultern. „Nein, je drei Stationen konnte ich mit dem Bus fahren. Das hat beide Wege um sicher zwei Kilometer verkürzt.“ Damit wandte er sich um und humpelte in sein Badezimmer.
„Sie haben doch echt den Arsch offen!“ Thiel wollte es nicht glauben. Dass so ein intelligenter Mann so unbeschreiblich dämlich sein konnte, ging ihm einfach nicht in den Kopf. „Und Frau Haller hat sich das einfach mit angesehen???“
„Alberich hatte heute frei.“ Boerne hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich noch einmal umzudrehen. Am Waschbecken angekommen, hielt er sich mit einer Hand daran fest und zerrte mit der anderen an seinem nassen Krawattenknoten herum. Durch den Spiegel konnte Thiel sehen, dass er dabei die Augen zukniff und entschlossen zog er sein Handy wieder aus der Tasche. "Sie können nicht sitzen und Sie können sich kaum noch rühren. Das schau‘ ich mir nicht länger mit an. Ich ruf‘ jetzt einen Krankenwagen."
„Nein, lassen Sie das! Ich brauche keinen Arzt!“ Der Professor klang nun wirklich unwillig. „Dass ich im Moment in meiner Bewegungsfähigkeit leicht eingeschränkt bin, liegt einzig daran, dass das Schmerzmittel in der letzten halben Stunde an Wirkung verloren hat. Aber Sie können versichert sein, ich gedenke es gleich angemessen nachzudosieren. Damit ist das Problem gelöst und wenn es Ihnen recht ist, verschwinden Sie jetzt. Ich möchte mich hinlegen.“ Mit zittrigen Fingern zog er den störrischen Schlipsknoten nun endlich auseinander.
„Leicht eingeschränkt… das ist ja wohl die Untertreibung des Jahres!“ Thiel warf aufgebracht die Arme hoch und zuckte im gleichen Moment fluchend zusammen. Die gesunde Hand auf die Schulter gepresst, fuhr er etwas leiser fort: „Sie können das doch nicht einfach so ignorieren? Lassen Sie das röntgen, Boerne, stellen Sie sich doch nicht so kindisch an!“
Sein Nachbar schloss erschöpft die Augen und ließ einen Seufzer hören, der aus tiefster Seele zu kommen schien. Schließlich warf er einen kurzen Blick über die Schulter. „Thiel. Wenn ein Knochen, der von Natur aus fest angewachsen gehört, plötzlich frei beweglich ist, dann brauche ich kein Röntgenbild. Das hat mit kindisch nicht das Geringste zu tun. Es ist schlicht nicht nötig.“ Dann begann er, sein Hemd aufzuknöpfen.
„Aber…“ Thiel starrte ihn mit offenem Mund an, während sein Gehirn noch dabei war, diese letzte Information zu verarbeiten. „Scheiße! Also haben Sie sich wirklich den Steiß gebrochen oder was?!“
Er schluckte trocken, als von Boerne nur ein emotionsloses: „Ja. Habe ich“, als Antwort kam.
„Ja aber dann müssen Sie erst recht zum Arzt! Das können Sie doch nicht so lassen, das muss doch behandelt werden!“
Boerne schüttelte nur müde den Kopf, während er die Manschetten öffnete und dann begann, sich aus dem Hemd zu schälen. „Lassen Sie es doch endlich gut sein, da gibt es nichts zu behandeln! Oder haben Sie schon mal einen eingegipsten Hintern gesehen?!“
Diese letzte Aussage stoppte Thiel, der sein Handy schon wieder hervorgeholt hatte, effektiv mitten in der Bewegung. „Äh… nee. Natürlich nicht.“ Er ließ die Hand wieder sinken; aber so ganz wollte er Boerne dann doch nicht glauben. „Da kann man wirklich nichts dran machen?“
Wiederum reagierte sein Gegenüber mit einem Kopfschütteln und ließ das Oberhemd auf den Badewannenrand fallen. „Nein. Abwarten und Schmerzmittel, das ist alles. Der Knochen muss von selber heilen und das tut er auch.“ Er fing nun an, seine Gürtelschnalle zu öffnen und als Thiel sich immer noch nicht rührte, warf er einen bezeichnenden Blick an sich herab sah dann wieder auf. „Ihre Besorgnis in Ehren, aber ich muss mich jetzt wirklich dringend hinlegen. Und das werde ich sicher nicht in einer nassen Anzughose tun.“ Er machte eine knappe Kopfbewegung in Richtung Thiels Wohnung. „Und Sie sollten sich mal schleunigst um Ihren Auflauf kümmern, sonst ist der schwarz.“
„Ach Kacke!“ Den hatte Thiel ja total vergessen. Sofort drehte er sich auf dem Absatz um und hastete aus dem Bad. „Ich bringe Ihnen was zu essen mit!“, rief er dabei noch über die Schulter. „Bin gleich wieder da!“ Ganz kurz fragte er sich, ob Boerne so weit gehen würde, ihn auszusperren, um seine Ruhe zu haben. Unter anderen Umständen wäre das nicht unwahrscheinlich gewesen, aber nun verwarf er den Gedanken gleich wieder. Dem Professor war der Weg sicher zu anstrengend und außerdem hatte er noch den Wohnungsschlüssel in der Tasche.
Mit ein paar schnellen Schritten hatte er das Treppenhaus passiert und eilte in seine Küche. Der Auflauf sah zum Glück noch wunderbar aus, dem Käse hatte diese leichte Verspätung nicht geschadet.
Zufrieden schnalzend und mit erneut heftig knurrendem Magen machte er sich ans Werk.
Es kostete ihn ein paar Minuten, unbeholfen wie er mit nur einem Arm war, den Auflauf aus dem Ofen zu holen und zwei großzügige Portionen auf Teller zu schaufeln. Aber zu guter Letzt war er erfolgreich und zusammen mit etwas Besteck platzierte er das Essen auf einem Tablett und machte sich wieder auf in die Wohnung des Professors. Er wollte sicherstellen, dass Boerne wirklich etwas aß - jetzt, wo der Mann für die nächste Zeit sicher regelmäßig Schmerzmittel einwerfen musste, brauchte er auf jeden Fall etwas im Magen.
Als er in den Flur seines Nachbarn zurückkehrte, sah er gleich, dass das Badezimmer leer war und Licht aus Boernes Schlafzimmer schien; und mit einem eigentlich recht überflüssigen: „Bin wieder da!“, trat er in den Raum.
Der Rechtsmediziner reagierte allerdings nicht auf ihn, er stand nur regungslos vor seinem Bett und starrte es an.
„Boerne?“ Verwundert stoppte Thiel mitten im Schritt, registrierte besorgt, dass der Professor mittlerweile kalkweiß war und man ihm seine Schmerzen deutlich ansehen konnte. Sich aus dem nassen Anzug zu kämpfen und T-Shirt und Schlafanzughose anzuziehen, hatte seinem lädierten Steiß schmerztechnisch wohl wirklich den Todesstoß versetzt.
Umso seltsamer schien ihm das Verhalten.
„Hey, Boerne? Was stehen Sie denn hier noch rum?“ Er stellte das Tablett auf die Kommode und machte ein paar Schritte auf seinen Kollegen zu. Vorsichtig umfasste er seinen Arm und drückte ihn leicht. „Nun legen Sie sich doch endlich!“
Der Professor warf ihm einen kurzen Seitenblick zu und ihm entrang sich eine Mischung aus einem zynischen Auflachen einem gefrustet-verzweifelten Schnauben, bevor er schließlich heiser murmelte: „Ich weiß nicht, wie.“
t.b.c.