Titel: Ohrenbetäubende Stille
Challenge: Kalte Hände
Fandom: Original
Teil 1Warnings: angst, etwas deprimierend vielleicht, bisschen ptsd
Note: Alles hat ein Ende. Aber zu welchem Preis?
Wordcount: 950~
~*~*~
Seufzend trat Jesse nach draußen und zog die Tür hinter sich zu, damit die Kälte nicht ins Haus schlüpfte. Unter dem Küchenfenster stand eine kleine, alte Bank, von welcher bereits die rote Farbe abblätterte.
Dort setzte er sich hin und zog eine Zigarette aus dem Päckchen, welches er mitgebracht hatte. Er hielt den Stängel mit den Lippen fest, während er sie anzündete. Das Licht der Flamme erhellte kurz sein Gesicht.
Es war viel zu still hier draußen. Nur der Wind heulte um die Ecken des baufälligen, winzigen Häuschens, doch das war nicht genug.
Er hätte nie gedacht, dass er einmal so empfinden würde, doch ohne die Schreie der Soldaten, die Schüsse und all den anderen Lärm fühlte er sich fast schon verloren. Die Stille hier in der ruhigen Abgeschiedenheit nagte an ihm und ließ ihn weder schlafen, noch sonst wie zur Ruhe kommen.
Jesse nahm einen Zug von der Zigarette und wischte sich mit der freien Hand fahrig über das Gesicht.
Noch an Heiligabend hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht als zu Hause zu sein. Und jetzt, wenige Tage später, wurde sein Weihnachtswunsch auf wundersame Weise erfüllt. Er ärgerte sich über sich selbst, nannte sich im Stillen einen Narren. So viele hatten ihr Leben gelassen, damit er und wenige andere jetzt bei ihren Familien sein konnten.
War es das wirklich Wert gewesen?
Jesse schloss die Augen und sah wieder Lambert's blutverschmiertes Gesicht vor sich. Sah, wie der Junge ihm noch etwas sagen wollte, doch nichts als ein Schwall Blut über seine Lippen kam. Sah, wie die Hand des Jungen nach seiner griff und fühlte, wie er sie schwach drückte.
So sehr er versuchte zu vergessen, er bekam die Bilder nicht mehr aus dem Kopf. Dabei war Lambert bei Weitem nicht der erste Kamerad, den er hatte sterben sehen.
"Liebling?", klang es leise von der Tür her und Jesse schreckte aus seinen Gedanken hoch.
Isabel war hinausgekommen, Charlotte auf dem Arm, in eine dicke, warme Decke eingehüllt.
"Ist alles okay?", fragte sie leise und kam näher. "Du bist schon eine ganze Weile hier draußen. Komm wieder rein, du frierst doch sicher."
Er sah hinunter auf seine Hände und bemerkte, dass die Zigarette längst heruntergebrannt war, ohne, dass er viel davon gehabt hätte. Achtlos ließ er den Stummel auf den Boden fallen und wandte sich seiner Frau zu.
"Schläft sie endlich?"
"Ja, es hat zwar etwas gedauert, aber jetzt schläft sie hoffentlich bis zum Morgen durch."
Jesse rückte ein Stück und Isabel setzte sich neben ihn.
Eine Weile saßen sie einfach nur zusammen dort und schauten raus aufs Feld, hinein in die Dunkelheit. Auf dem Lande, außerhalb der größeren Dörfer und Städte, war es nachts immer schrecklich dunkel. Ein Umstand, den Jesse früher einmal zu schätzen gewusst hatte. Mittlerweile machte es ihm fast schon Angst.
Isabel bettete Charlotte in ihrer linken Armbeuge und griff mit der rechten Hand nach Jesse's Händen.
"Komm wieder rein", bat sie erneut und führte seine linke Hand zu ihrem Mund, um einen Kuss auf seine Finger zu hauchen. "Deine Hände sind schon eiskalt."
Er drehte den Kopf zur Seite und streckte seine Arme aus, um ihr das Baby abzunehmen. "Vorsicht, weck sie nicht auf."
Sanft legte sie ihm Charlotte in die Arme und Jesse starrte seine Tochter an. Seine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt und so konnte er ihr schlafendes Gesicht betrachten.
Behutsam lehnte er seine Stirn an ihre und schloss kurz die Augen.
Und plötzlich konnte er seinen Tränen nicht länger zurückhalten. Er gab keinen Laut von sich, doch seine Schultern bebten und Isabel legte ihm eine Hand auf den Rücken und strich beruhigend auf und ab.
Er fühlte sich machtlos, hilflos und wusste, dass es ihr genauso ging.
Verzweifelt versuchte Jesse sich einzureden, dass er glücklich sein sollte. Immerhin war er hier, bei seiner Familie. Er war mit ein paar Kratzern davon gekommen und hatte eine Familie, zu der er zurückkehren konnte. Das war mehr, als die meisten sich auch nur erhoffen konnten.
Doch zu welchem Preis? Lambert war tot. Hatte sein eigenes Leben für Jesse gegeben. Und Thompson war verschollen. Weder ihn, noch seine Leiche hatte man nach dem Waffenstillstand gefunden. In den meisten Fällen bedeutete das: Bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Massengrab. Ein Name unter vielen, auf einem großen, grauen Steindenkmal. Kalt und unpersönlich.
Er hätte dankbar für ihre Treue und ihre Opfer sein sollen. Stattdessen konnte er sich nur Vorwürfe machen.
"Jesse...", Isabel stand auf und zog ihn ebenfalls hoch, bevor sie Charlotte wieder in ihre Arme nahm.
Mit dem Ellenbogen öffnete sie dir Tür und wartete, bis Jesse endlich an ihr vorbei trat und ins Innere ging.
Sie brachte ihre Tochter ins Bett und kehrte anschließend ins Wohnzimmer zurück, wo Jesse sich auf den Boden vor den Weihnachtsbaum gesetzt hatte.
Die Kerzen waren fast heruntergebrannt und einer der kleinen, roten Äpfel mit goldfarbener Schlaufe war scheinbar zu schwer für den Ast gewesen, denn er lag auf dem Boden.
Isabel kniete sich neben ihren Mann und nahm seine Hände in die ihrigen, bevor sie warmen Atem auf die kalten Finger hauchte und sie anschließend zu reiben begann.
"Du kannst die Vergangenheit nicht ändern", meinte sie schließlich. "Aber du kannst dafür Sorge tragen, dass du das beste aus diesem Geschenk machst. Du hast überlebt. Du bist zu mir zurückgekehrt. Das muss doch etwas bedeuten."
Jesse's Wangen waren feucht und seine Augen gerötet. Er wusste nicht, wie er es ihr erklären konnte. Er fühlte sich fehl am Platze. Nicht würdig hier zu sein, während die Familien seiner Kameraden jetzt ihre Verluste betrauerten.
"Es... es wird Zeit brauchen", brachte Jesse schließlich mühsam hervor.
Probehalber bewegte er seine Finger.
Es kribbelte, als die Wärme langsam wieder zurückkehrte.
~*~*~
Danke für's Lesen~