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silme711 at
Ihr werdet alle alt. Heute möchte ich auf ein Bündnis und eine Aktion aufmerksam machen, die meinen, also den Pflegeberuf, unterstützt.
Eine kurze Erläuterung für alle, die sich nicht so gut in dem Bereich auskennen:
- Wir alle zahlen in die Pflegeversicherung ein. Nicht für uns, sondern für die Menschen, die zur Zeit in Deutschland pflegerisch in Alten,- oder sonstigen Pflegeheimen, zuhause von ambulanten Diensten oder in Krankenhäusern versorgt werden.
- Die Zeit, die einer bedürftigen Person zusteht, wird in Pflegestufen gegliedert. Pflegestufe 1 mindestens 90 Min, Stufe 2 mind. 3 Stunden, Stufe 3 mind. 5 Stunden. Dieser Bedarf errechnet sich aus einem Katalog an Leistungen zB Ganzkörperwäsche 25 Minuten, Haare kämmen 1-3 Minuten, Pipi auf Toilette 1-3 Minuten, Essen anreichen 15 Minuten pro Hauptmahlzeit, ankleiden Oberkörper 5-6 Minuten, aufstehen und hinlegen 1-2 Minuten.
Da kommt ganz schön was zusammen, wenn ihr mal überlegt, wie oft ihr diese oder ähnliche Tätigkeiten am Tag bei euch selbst durchführt.
Des weiteren wird unterteilt, ob eine Beaufsichtigung, Anleitung (bei Demenz), teilweise Übernahme oder volle Übernahme stattfindet. Um eine demente Patientin anzuleiten sich selbst zu waschen, benötige ich sehr viel mehr Zeit, als es "mal eben schnell" selber zu machen.
- Aus diesen ganzen Minuten, die ein Heim mit Bewohnern unterschiedlicher Stufen per Dokumentation nachweisen kann, errechnet sich der Personalschlüssel. Das heisst, wir sind verpflichtet, JEDE Leistung die wir erbringen zu dokumentieren, sonst gibts kein Geld von den Kassen.
- Patienten, Angehörige, Betreuer reichen einen Antrag zur Ein,-oder Höherstufung bei den Kassen ein, die Kassen finanzieren geschultes Personal, um den Antrag zu prüfen, zuzustimmen oder abzulehnen. Einen Teil der Kosten für die Pflege trägt die Versicherung, einen Teil der Bedürftige/das Sozialamt/die Angehörigen.
- Des weiteren finanzieren die Kassen eine Prüfungsinstanz (MDK), die in regelmäßigen Abständen Heime und Pflegedienste auf ganzheitliche Qualität überprüft und Noten vergibt. Diese Qualität wird durch Pflegewissenschaftler in Zusammenarbeit mit den Kassen festgelegt. Das heisst, es gibt genaue Standards, die alle Aspekte der Pflege (Grundpflege, Ernährung, Mobilisation, soziale Betreuung und noch viel mehr...) betreffen und die Einrichtungen stehen in der Pflicht, diese zu erfüllen und nachzuweisen.
Besonderes Augenmerk liegt in allen Bereichen bei der Individualität, Biographie und der Förderung von noch vorhandenen Fähigkeiten. Des weiteren findet eine Überprüfung der gesamten Strukturqualität des Heimes statt, dh. Qualitätsmanagement (mit Hunderten von Unterpunkten), Dienstpläne, Fortbildungspläne etc
Soweit so gut. Klingt plausibel und nachvollziehbar (hoffe ich). Für den Versicherten soll es in erster Linie eine Sicherheit sein, dass er die Leistungen die ihm zustehen auch bekommt und in allen Aspekten des Lebens gefördert wird. Nachvollziehbar, denn ich möchte bei einem Unfall von meiner Autoversicherung auch die Leistungen erhalten, die mir zustehen.
Als Kasse würde ich ebenfalls eine Kontrollinstanz wollen, die überprüft, ob mit meinem, bzw. dem Geld der Versicherten auch das getan wird, was nötig und förderlich ist.
Erfüllen die Pflegeeinrichtungen diese Vorgaben nicht, müssen sie den Kassen Pflegegeld zurückzahlen, was schon für viele Betriebe das Aus war.
ABER.
- Ärzte haben die Ärztekammer. Dadurch das dieses gesamte Pflegesystem durch fremde Instanzen und Theoretiker aufgebaut, kontrolliert und finanziert wird, hat die Pflege keine Möglichkeit in irgendeiner Form mitzureden. Wir sind abhängig von den Kassen und den Prüfungsinstanzen, jede Einrichtung kämpft für sich um's Überleben und wir haben niemanden, der uns in irgendeiner Form regelmässig vertritt.
- Gewerkschaften wie verdi haben in den vergangenen Jahren nichts für ihre Mitglieder in der Pflege erreicht. Viele Krankenhäuser und Altenpflegeeinrichtungen haben sich privatisieren müssen und von daher merken wir, von den von verdi für andere öffentliche Dienste erstrittenen Tarife, überhaupt nichts.
- Die Mehrheit der in Deutschland arbeitenden Pflegewissenschaftler und Manager kritisieren die Prüfungsmethoden und die Transparenz, mit der die vergebenen Noten öffentlich gemacht werden, da diese Noten in keinster Weise ausschlaggebend für die Qualität einer Einrichtung sind
- Jede Prüfung kostet den Pflegekassen (also uns!) durchschnittlich 4.500 Euro. Rechnet das mal bitte aus. Einmal im Jahr, jede Pflegeeinrichtung und jeder ambulante Pflegedienst.
- Die Pflegeeinrichtungen sind dazu gezwungen, ihre Pflegestufen aktuell und realistisch zu halten, um nicht bankrott zu gehen und wenigstens ein Minumum an Personal bereitstellen zu dürfen. Unser Pflegeheim befindet sich momentan bei plusminusnull. Laut Gesetz und Stellenschlüssel haben wir genau das Personal, was uns zusteht.
Wir versorgen seit Monaten 40 Heimbewohner zu dritt, im Notfall zu zweit und in Ausnahmefällen zu viert. Und Fehlplanung ist hier nicht die Ursache. Das damit keine qualitative Pflege gewährleistet ist, ist glaube ich klar. Unser Arbeitspensum umfasst eine pflegerische Versorgung von 1:13 plus Dokumentation, plus Qualitätsmanagement, plus administrative Aufgaben, plus organisatorische Aufgaben und ist ohne tägliche Überstunden nicht mehr zu bewältigen.
Dabei sind die Löhne seit dem Euro nicht angehoben worden.
Man schafft es immer irgendwie, weil man es ethisch nicht anders vertreten kann aber das geht nicht ohne physische und psychische Folgen für den Pflegenden. Lasse ich den Bewohner in der Scheisse liegen? Beschäftige ich mich mit der Bewohnerin, die dement und halbnackt gerade auf die Strasse laufen will? Führe ich die notwendige ärztliche Visite durch? Reiche ich einem Bewohner das Trinken an, weil er sonst körperliche Schäden davonträgt? Das sind Situationen, zwischen denen sich jede Pflegekraft tagtäglich entscheiden muss. Was ist am wichtigsten?
Und da soll noch jemand motiviert sein, Kranken,-oder Altenpflege zu lernen?
- Viele Kassen "schulen" ihre Mitarbeiter daraufhin, so wenig wie mögliche Pflegestufen zu vergeben um Gelder einzusparen. Sätze die ich in den vergangenen Monaten von Angestellten der Krankenkassen gehört habe sind:
"Die lebt doch eh nicht mehr lange, was wollen sie denn da noch fördern?"
"Ich darf leider in diesem Monat keine Pflegestufe 3 mehr vergeben"
"Wenn sie der Bewohnerin das Essen eingeben kriegen sie die Stufe 3. Anleiten und motivieren zähle ich nicht mit dazu"
....
Entschuldigung???
Ich wiederhole: Die Kassen FORDERN die Förderung der Bewohner im Rahmen ihrer jährlichen Überprüfung.
Ich (und ich spreche bestimmt für 95% aller Pflegenden in Deutschland) liebe meinen Beruf. Ich habe ihn gelernt, um Menschen zu helfen. Ich habe ihn gelernt, weil man in dieser Branche nie ausgelernt hat. Ich habe ihn gelernt, weil es mich glücklich macht, einen Menschen nach einer schweren OP wieder laufen zu sehen, weil es mich glücklich macht, wenn Menschen die die 70 schon lange überschritten haben, noch einen Funken Lebensfreude empfinden können. Ich habe ihn gelernt, weil ich Menschen gerne zum lächeln und lachen bringe, obwohl es ihnen grad zum kotzen geht. Ich habe ihn gelernt, weil er in der Gesellschaft hoch anerkannt wird und man Respekt für seine Arbeit erhält.
Wenn mich jemand fragt, was ich mir wünsche für die Pflege dann ist es nicht mehr Gehalt, mehr Urlaub oder weniger Schichtdienst. Und ich spreche immernoch für die 95%. Es ist Zeit. Noch nichtmal soviel Zeit um mit den Bewohnern rauszugehen, oder mich 30 Minuten hinzusetzen und zuzuhören. Sondern Zeit um zu pflegen und um meine Arbeit machen zu können, ohne jeden Tag mit einem Bein im Knast zu stehen, weil mir gar keine andere Möglichkeit mehr bleibt, als Risiken einzugehen.
Seit Wochen laufen in Deutschland Aktionen unter dem Motto "Pflege am Limit" in Kooperation der Aktion "Pflege steht auf" und dem Bremer Pflegerat. Es ist ihnen gelungen zum ersten Mal alle Bereiche der Pflege mit einzubeziehen, d.h. gestern standen bei einer Demo 2000 Mitarbeiter aus sämtlichen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen auf dem Marktplatz. Sowas hat es bisher noch in keinem Bundesland gegeben.
Und ich stand mittendrin und hab geheult. Aus Frust, Wut und vor Freude, denn es war überwältigend.
Hier kommt jetzt meine Bitte. Ich weiss, es ist nur ein kleiner Rahmen und ich habe diesen post auch genutzt, um all meine eigenen Gedanken und Gefühle mal zusammenzufassen, aber bitte unterstützt die Aktion "Pflege steht auf" auf facebook.
Oder sagt denen Bescheid, die ihr kennt und in der Pflege tätig sind. Es werden noch weitere Aktionen in ganz Deutschland stattfinden, denn diese Reaktion, in einem kleinen Bundesland wie Bremen, zeigt, wie hoch der Handlungsbedarf ist!
Wie schnell kann es passieren, dass ihr ins Krankenhaus müsst? Ihr werdet alle alt. Eure Eltern werden alt. Habt ihr das Geld und die Zeit euch selbst um sie zu kümmern oder werdet ihr evtl. auch eine Einrichtung in Erwägung ziehen müssen?
Pflege steht auf Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
♥