Autor: Elster
Word Count: ~2500
Anmerkung: Die Geschichte ist alt. Uralt: mehr als drei Jahre. Aber ich hab sie ausgegraben, sie gefällt mir noch und ich bin mir nicht zu billig, sie hier zu posten.
Maibegräbnis
Der Wagen biegt auf den kleinen Parkplatz ab, der sich, von wuchernden Gras- und Unkrautstauden durchbrochen, die brüchig rote Backsteinmauer entlang zieht, und kommt neben einem roten Kombi mit einem bunten Kindersitz im Wageninneren zum Stehen. Das Brummen des Motors erstirbt, dann herrscht Stille. Ich sehe die Mauer an, beobachte, wie eine Hummel über einen verwittert kerbigen Ziegelstein krabbelt.
"Ich kann auch hier warten, das ist kein Problem. Wenn deine Familie -"
"Nein, das ist egal. Komm mit."
Ich wende mich zu ihm um und begegne seinem ruhigen, gefassten Blick. Ich weiß selbst nicht genau, was ich suche. Schmerz? Trauer? Oder vielleicht Genugtuung? Ich weiß es nicht, wirklich. Aber ich habe nichts anderes erwartet als diese Gelassenheit. Er ist immer gelassen. Seine hellen graublauen Augen sehen aus, wie der Frühlingshimmel nach Regen. Kühl und schön, mit dem Versprechen auf Sonnenschein. Aber was in ihm vorgeht, bleibt sein Geheimnis. Es ist zum Verrücktwerden.
Ich nicke nur und steige aus dem Wagen, warte bis auch er ausgestiegen ist und abgeschlossen hat. Dann gehen wir nebeneinander her zu der schweren schmiedeeisernen Pforte, deren plumpe Akanthusverziehrungen der Zeit zu trotzen scheinen. Hinter der Pforte und der rotgrauen Backsteinmauer scheint sie ohnehin stehen geblieben zu sein. Einige knorrige Bäume beschatten den Rasen, die gepflegten Wege, die Blumen, die grauen und weißen Steine. Die Kronen sind noch nicht sehr dicht und die Maisonne scheint in Flecken auf einen betenden Steinengel und eine kleine Kapelle, lässt die klarweißen, schmalen Fester in der schweren Feldsteinwand gleißend aufblitzen.
Vor der winzigen Kirche stehen sie. Ein gutes Dutzend Männer und Frauen in sauberer dunkler Kleidung. Seine Familie. Ich bin hier fehl am Platz, ich sollte nicht hier sein.
Er musst bemerkt haben, dass ich stehen bleiben wollte, denn ich spüre plötzlich seine Hand an meinem Arm, wie sie mich sanft aber bestimmt weiter zieht. Ich bin mir nicht sicher, warum er unbedingt wollte, dass ich mitkomme. Es wäre sicher besser gewesen, er wäre allein gegangen. Was ich über seine Familie und über seinen Vater weiß, sind nur einige Nichtigkeiten, Bemerkungen, die er fallen ließ, wenn er sich über sie geärgert hatte. Seiner Mutter bin ich nur einmal begegnet. Sie kam wütend aus seiner Wohnungstür, ich wäre beinahe mit ihr zusammengestoßen. Sie war schneller weg als ich Entschuldigung' sagen konnte.
Sie ist eine elegante Frau, mit einer schlanken, sehnigen Gestalt und glatten, kastanienbraunen Haaren. Irgendetwas in ihren Bewegungen hat mich damals an ihn erinnert, aber ich kann nicht sagen, was es ist. Heute ist es nicht da. Ihre Bewegungen wirken fahrig und ihr Gesicht müde. Ihr schwarzes Kostüm steht mit seiner korrekten, strengen Form und den eleganten, energischen Linien im Kontrast dazu.
Sie umarmt ihren Sohn, mütterlich, liebevoll, trostsuchend, besitzergreifend, einen stummen Vorwurf in ihrem Blick, und ignoriert mich demonstrativ. Sie wird nicht mit mir reden, sie wird heute keinen Streit anfangen. Sie hasst mich.
Die anderen kenne ich nicht. Wenn sie mich bemerken, mustern sie mich mit verhohlener Neugierde. Einer von ihnen könnte sein Bruder sein, aber ich bin mir nicht sicher. Wenn, dann behandelt er ihn mit der gleichen Distanz wie die übrige Familie. Er gibt allen die Hand, spricht ein paar Worte, die ich von hier nicht verstehen kann. Dieser kühle Umgang miteinander... es wirkt nicht wie Familie.
Es ist heiß. Die Sonne hat noch nicht ihre volle Kraft erreicht, aber sie brennt auf meinen schwarzen Anzug als wolle sie beweisen, dass der Sommer nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Ein verwelkter, alter Mann in ebenfalls schwarzer Kleidung kommt aus der Kapelle und wechselt einige Worte mit der Witwe. Er geht gebeugt, als würde ihm der Tod im Nacken sitzen, zurück in die Kapelle und die Familie folgt ihm.
Ich will ihnen nicht folgen, würde gern irgendwo anders sein, überall, aber nicht hier. Ich habe hier nichts zu suchen. Aber als hätte er meine Gedanken gelesen, ist er an der Tür stehen geblieben und sieht mich abwartend an. Sein Blick ist ruhig, vielleicht fragend, aber weder auffordernd noch bittend. Er sieht nicht aufgewühlt aus, nicht so als ob er mich oder irgendjemanden bräuchte. Er ist souverän.
Plötzlich hasse ich ihn dafür. Verdammt noch mal, er sollte aufgewühlt sein, verletzt, traurig, verloren. Er sollte mich brauchen. Ich bin für ihn hierher gekommen, obwohl ich nicht im geringsten erwünscht bin. Wozu? Wie kann er so ruhig sein? Scheiße, ich wäre am Boden zerstört, wenn es mein Vater wäre. Aber er steht da, als würde er ins Theater wollen und nur auf den Einlass warten. Verdammt, er hat überhaupt keine Gefühle! Also warum zum Teufel bin ich hier?
Er braucht nichts zu tun, um mich trotz dieser Gedanken dazu zu bringen, ihm in die Kapelle zu folgen. Er braucht nie etwas zu tun. Es reicht, wenn er so gelassen und ruhig dasteht und wartet und ich den Fehler mache, ihm in diese undurchdringlichen Augen zu sehen.
In dem schmucklos weiß verputzten Raum ist es kühl und düster nach dem gleißenden Sonnenschein draußen. Ich setze mich auf die hinterste Bank. Er kann unmöglich von mir erwarten, dass ich die Dreistigkeit aufbringe, mich zu ihm nach vorne zu setzen. Er wirkt auch tatsächlich nicht überrascht, wirft nur einen kurzen Blick nach vorn, bevor er sich neben mich setzt.
Gott, was ist los mit ihm? Will er seine Familie unbedingt vor den Kopf stoßen? Wenn es ihm egal ist, was sie von ihm halten, fein. Wenn er das hier nur als einen weiteren Anlass sieht, um diese schreckliche Fehde weiter zu führen, fein! Aber er soll mich, verdammt noch mal, nicht dafür benutzen.
Ich bin wütend auf ihn und tue so, als würde ich dem Pfaffen zuhören wie er über den Tod redet als wäre er das Ziel des Lebens. Er kann mir das unmöglich abnehmen, aber er sagt nichts, macht sich nicht bemerkbar. Vielleicht will er auch nur nicht stören.
Neben dem geschlossenen Sarg steht ein Foto zwischen den Blumen. Kein Foto neueren Datums, wie ich annehme. Der Mann darauf ist vielleicht Mitte Dreißig. Er sah seinem Sohn verdammt ähnlich. Die grade, etwas zu lange Nase, das scharf geschnittene Kinn, das spöttisch-arrogante Lächeln, der gelassene Blick. Er sah so aus, als könne ihn nichts erschüttern, als würde er mit allem fertig werden, komme, was da wolle. Er sah aus wie sein missratener Sohn.
Als der Pfarrer fertig ist, wollen einige Familienmitglieder ein paar Worte sagen.
Der Tote war ein wunderbarer Mensch. Verantwortungsbewusst, fürsorglich. Er wusste, wie man Probleme anpackte, traf besonnene, gute Entscheidungen. Man wird ihn vermissen. Er konnte furchtbar stur sein, aber er wollte immer nur das Beste. Er war verschlossen, machte nie viele Worte. Eine Schande, dass sein Herz nicht die Entschlossenheit seines restlichen Ichs gezeigt hatte. Eine Schande, dass er so früh gestorben war.
Ich frage mich, ob ihnen klar war, wie ähnlich sie sich waren. Ob das vielleicht nur mein Eindruck ist? Vielleicht bilde ich mir das nur ein, weil ich seinen Vater nicht kenne. Aber dickköpfig waren sie beide. Ich frage mich, ob ihnen klar war, was sie durch ihre Ignoranz und Unversöhnlichkeit verloren haben.
Großer Gott, sie haben seit Jahren kein Wort mehr gewechselt und jetzt ist es zu spät und er sitzt auf der Beerdigung in der letzten Reihe und hat mich mitgebracht. Er ist so ein gottverdammter Idiot!
Dann wird der Sarg rausgetragen, in die helle Sonne. Er trägt nicht mit, geht nur mit unbewegtem Gesicht hinterher. Ich verstehe ihn nicht. Ich verstehe diese ganze verrückte Familie nicht.
Die Grabrede beobachte ich aus angemessener Entfernung. Dann wird der Sarg hinunter gelassen und jeder wirft eine Hand voll Sand in die Grube. Seine Mutter weint und stützt sich auf den Mann, der wahrscheinlich sein Bruder ist, und wird von dessen Frau getröstet, der ebenfalls Tränen übers Gesicht laufen. Ich bin eifersüchtig auf sie, weil sie den Vater ihres Mannes gut genug kannte, um bei dessen Tod zu weinen, weil ihr Mann sie jetzt offensichtlich braucht, weil sie einen Grund hat, hier zu sein und weil sie hier erwünscht ist.
"Lass uns gehen." Ich habe nicht bemerkt, wie er zu mir gekommen ist, aber jetzt steht er da und sieht mich ruhig und abwartend an.
Ich nicke erleichtert und gehe auf dem ebenen Kieselweg neben ihm her. Vor der Abzweigung zur Pforte greift er nach meiner Hand. Das ist ungewohnt, er ist nicht der Typ fürs Händchenhalten. Vielleicht will er mich auch nur von der Flucht abhalten, denn er geht nicht in Richtung Ausgang, sondern zieht mich in die entgegengesetzte Richtung, wo der Friedhof nicht ganz so gepflegt ist, wo weniger Gräber sind und mehr Bäume stehen.
Ich will protestieren, aber meine Wut auf ihn verraucht so schnell und scheinbar grundlos, wie sie gekommen ist. Er hält weiter meine Hand und geht schweigend neben mir her. Und obwohl sich weder in seinem ausdruckslosen Gesicht, noch an dem Druck seiner Hand etwas verändert, habe ich plötzlich das Gefühl, dass er sich an meiner Hand festhält. Dass diese ganze Ruhe nur eine Fassade ist und dass es ihn Kraft kostet, hier zu sein.
Nach einigen Metern stoßen wir auf die Backsteinmauer und folgen ihrem Verlauf. Wir gehen einige Minuten lang. Es könnte ein Spaziergang sein, bei dem schönen Wetter. Aber er hüllt sich in Schweigen, scheint tief in Gedanken versunken. Ich will ihn nicht stören. Ich weiß nicht, wie ich ihm helfen soll, nicht mal, ob er überhaupt Hilfe braucht.
"Du musst einen Eindruck haben...", bricht er plötzlich das Schweigen, stockt dann aber. "Gott, du musst denken, dass wir alle völlig den Verstand verloren haben."
Ich weiß nicht. Denke ich das? Diese Familie ist seltsam und völlig zerrüttet, aber ich kann zum Beispiel seine Mutter verstehen. Sie kann gar nicht anders als mich zu hassen. Ich schüttle den Kopf. "Nicht ihr alle. Nur er und du."
"Du kanntest ihn doch gar nicht. Woher willst du da wissen, dass -"
"Dafür kenne ich dich um so besser. Und wenn er nur ein halb so schrecklicher Dickkopf war, konnte das nur eine Katastrophe geben. Ihr wart doch beide nur viel zu stur, um den ersten Schritt zu machen! Verletzter Stolz, oder was auch immer. So groß kann der Streit nicht gewesen sein! Aber entschuldigen muss sich der andere zuerst. Gott, ich wette, er war genau wie du!"
Ich weiß nicht, warum ich auf einmal wieder so wütend auf ihn bin, warum ich ihn anschreie. Er hat doch recht, eigentlich kenne ich seinen Vater nicht. Ich weiß nur das wenige, was er mir erzählt hat, den Rest habe ich mir zusammengereimt. Vielleicht tue ich ihm Unrecht mit allem, was ich sage. Ich warte darauf, dass er sich verteidigt, aber er sieht nur gedankenverloren auf meine Hand in seiner. "Es tut mir leid, ich wollte nicht -"
"Nein, ich..." Er bricht ab und geht weiter, lässt meine Hand aber nicht los. Ich habe keine Ahnung, was er sagen wollte, aber was auch immer es war, er wird es wohl nie aussprechen. Er gesteht sich keine Fehler ein.
Wir müssen eine Runde um den Friedhof gegangen sein, denn auf einmal sind wir wieder an der Pforte. Er sieht mir ruhig in die Augen. "Ich... Danke, dass du mitgekommen bist... dass du da warst." Oh Gott, ich liebe ihn.
"Das war kein Problem."
Er lächelt, weil er weiß, dass ich lüge. "Ich muss noch was erledigen. Wartest du bitte? Dauert auch nicht lange."
Ich nicke nur und kann dann endlich den Friedhof verlassen. Die meisten Autos sind schon weg. Nur der rote Wagen mit dem Kindersitz ist noch da und der Mann, der sein Bruder sein muss, steht daneben und raucht. "Wo ist er?"
Ich zucke die Schultern. "Ich nehme an, er will sich entschuldigen."
Der Mann nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette und sieht mich düster an, dann stößt er den Qualm aus und schüttelt resigniert den Kopf. "Zu spät."
Wieder kann ich nur die Schultern zucken. "Ich glaube, es ist nicht leicht für ihn."
Er runzelt die Stirn. "Sie wissen es nicht?"
"Sie kennen ihn länger als ich. Er würde es nicht zugeben."
"Nein."
Wir schweigen eine Weile. Die Sonne ist höher gestiegen und ich ziehe endlich das Sakko aus. "Waren sie sich wirklich so ähnlich?"
"Hat er das gesagt? Dass sie sich ähnlich waren?"
"Nein. Es war nur... wie sie vorhin über ihn geredet haben."
Er lächelt und nickt. "Es war gruselig." Der Filter der Zigarette landet vor der Mauer im Gras. "Es ist kaum zu glauben, dass sie sich so zerstreiten konnten. Aber vielleicht gerade deswegen. Es war ein Schock für ihn, wissen Sie? Niemand hört gern, dass sein Sohn schwul ist. Und wenn dann beide gleich so überreagieren..." Er schwieg einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. "Dabei war es gar nicht mal so schlimm. Sie hätten sich nur wieder vertragen müssen. Mutter hat ja zig mal versucht zu vermitteln, aber gegen die beiden hatte sie keine Chance." Wieder schweigt er eine Weile, scheint seinen Erinnerungen nachzuhängen. Ich denke über das nach, was er mir gerade erzählt hat. Es ist eine traurige Geschichte mit einem traurigen Ende. "Er hätte Sie gemocht.", reißt er mich dann aus meinen Gedanken. Er sieht mich nachdenklich an, lächelt dann. "Bestimmt."
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nicht mal, ob mir das irgendetwas bedeutet.
"Natürlich hätte Paps ihn gemocht. Der Alte war vielleicht störrisch, aber eine gute Menschenkenntnis hatte er." Er ist wieder da und scheint auch seine gewohnte Selbstsicherheit zurückgewonnen zu haben. Ich wünschte, sie wäre noch ein wenig länger weggeblieben. "Wo hast du deine Frau gelassen?"
"Sie ist mit Ma gefahren. Ich soll hier warten und sicher gehen, dass du nicht gleich wieder abhaust."
Sie starren sich einen Moment lang schweigend an. Dann nickt er und sein Bruder lässt ein schwaches Grinsen sehen. "Dann bis gleich."
Als er ausparkt und dem Kombi seines Bruders folgt, denke ich, dass er es sich doch verdammt schwer gemacht hat, dass das alles sinnlos war. Ich weiß nicht, was er seinem Vater gesagt hat, als er am Grab stand, und es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass er es mir je sagen wird, aber immerhin hat er mit ihm geredet. Und immerhin sind wir auf dem Weg zu ihm nach Hause, zu seiner Mutter, seiner Familie.
Vielleicht ist es doch nicht zu spät.