Wichtelgeschichte für Akane/Chija

Dec 27, 2007 01:41

Titel: Mitbewohner wider Willen
Fandom: Original

für: chija


Mitbewohner wider Willen

Wenn es etwas gibt, was ich nie haben wollte, dann waren es immer Haustiere oder jüngere Geschwister. Ehrlich. Abgesehen von den biblischen Plagen sind sie das Schlimmste, womit einen Gott oder das Schicksal - oder wer oder was auch immer für solcherlei Prüfungen verantwortlich ist - strafen kann. Und sehen wir den Tatsachen ins Auge: diese Wasser-zu-Blut-Sache ist doch eher unwahrscheinlich, wohingegen Geschwister ein häufiges Problem darstellen.

Aber wie es nun einmal ist, bekommt der Mensch selten das, was er sich wünscht.
So auch in meinem Fall.

Es fing wohl alles damit an, dass ich Marie kennen lernte. Sie war Sekretärin in der französischen Botschaft. Ich telefonierte in einer beruflichen Angelegenheit mit ihr, wir trafen uns einige Male, um Unterlagen auszutauschen und als das abgeschlossen war, trafen wir uns trotzdem. Die Beziehung hielt fast drei Monate - jedenfalls lange genug für sie, um bei mir einzuziehen.

Zwei Wochen, bevor sie mir erklärte, dass die Sache mit uns vielleicht doch nicht so das Ideale war, weil da ja immer noch ihr Verlobter war, dessen Existenz bis dahin leider nie Erwähnung gefunden hatte - zwei Wochen vor unserer, für mich zumindest, plötzlichen Trennung also, tauchte ihr kleiner Bruder auf.

Luc war 22 Jahre alt, hatte lange, blonde, von der Sonne ausgebleichte Haare, war mager, braun gebrannt, Rucksacktourist. Er war gerade fünf Wochen in Südostasien unterwegs gewesen, nachdem er Zuhause rausgeflogen war, und sah unheimlich verwahrlost aus - auf diese Rockstarart, gewollt verwahrlost.
Jedenfalls hatte er wohl vor, sich nach dieser langen Abwesenheit in die traute Fürsorge seiner Schwester zu begeben und zog kurzerhand ebenfalls bei mir ein. Und ich ließ es geschehen.
Dann ging sie wie gesagt auf nimmer Wiedersehen davon - und er blieb.

Nicht, dass ich nicht versucht hätte, ihn los zu werden. Aber er war weder durch subtile Aufforderungen, noch durch unverhohlene Drohungen zum Weggehen zu bewegen. Er hing an mir mit der eigenwilligen, berechnenden Liebe einer verwöhnten Hauskatze, die sich allerdings als wesentlich beständiger erwies, als die Zuneigung seiner Schwester.

„Jonni,“ sagte er eines Tages, knapp eine Woche nachdem Marie uns verlassen hatte - und dass er mich so nennt, ist einer der Gründe für seine absolute Unerträglichkeit - "wenn ich so darüber nachdenke, bist du eigentlich der große Bruder, den ich mir immer gewünscht habe."

Und das war das.

Die Menschen bekommen selten, was sie sich wünschen. Und wenn sie es doch mal kriegen, gereicht es ganz sicher irgendjemandem zum Nachteil.

~*~

Er ist jedenfalls da und geht nicht weg. Und wie das mit Haustieren und Geschwistern so ist, man gewöhnt sich daran. Meine Wohnung ist groß, also können wir uns aus dem Weg gehen. Davon abgesehen sind unsere Tagesrhythmen so unterschiedlich, dass wir uns auch rein zeitlich kaum begegnen. Seine Tage enden meinen Vermutungen nach zwischen drei Uhr nachts und sechs Uhr morgens und beginnen zwischen zwölf Uhr mittags und drei Uhr nachmittags, je nach Zustand seines Katers. Manchmal bleibt er tagelang verschwunden, was sowohl an Geliebten als auch an Gelegenheitsjobs liegen könnte. In diesen Zeiten lebe ich in der ständigen Sorge einen Anruf aus einem Gefängnis in irgendeinem weit abgelegenen Land zu bekommen, in dem er mich bittet, ihn auszulösen.

Ich habe ehrlich keine Ahnung, womit er sein Geld verdient. Ich habe ihn nie danach gefragt, so wie auch er mich nie nach meinem Job gefragt hat. Ich weiß, dass er oft sehr viel Geld zur Verfügung hat und dann Unsummen für Kleidung und ähnlichen modischen Schnickschnack ausgibt, wobei er sehr eigen ist. Es kommt vor, dass in meiner Wohnung plötzlich Möbel oder andere, schwerer kategorisierbare Gegenstände auftauchen und wieder verschwinden. Einmal tauchte er mit drei Kisten Klaräpfeln auf, dann mit einem halben Dutzend ausrangierter Barhocker, die er allerdings innerhalb weniger Tage an irgendeinen Bekannten verscherbelte.

Trotzdem bezweifle ich stark, dass sich sein berufliches Schaffen auf harmlose Tauschgeschäfte mit mehr oder weniger legal erworbenen Gegenständen beschränkt. Wenn ich einmal ernsthaft darüber nachdenke, ist der einzige Beruf, in dem ich mir Luc absolut nicht vorstellen kann, der seriöse Bürojob eines kleinen Angestellten. Bis auf das ist alles möglich.
Er bringt niemals Fremde in die Wohnung und niemand rief ihn jemals in meiner Wohnung an. Ich habe niemals irgendeinen Bekannten von ihm auch nur zu Gesicht bekommen. Ich werde den Verdacht nicht los, dass er die Wohnung als ein von seinem gesamten restlichen Leben getrenntes Refugium benutzt. Solange das so bleibt, werde ich mich nicht beschweren.

Ist er da, herrscht im Wohnzimmer sofort das Chaos. Er ist nicht fähig Ordnung in irgendeiner Form zu halten oder gar zu schaffen. Es ist nicht, wie ich anfangs geargwöhnt hatte, böser Wille, sondern lediglich ein fundamentaler charakterlicher Mangel. Er hatte sich in meinem Gästezimmer häuslich eingerichtet. Es ist schrill und schräg und ein wenig düster, was man vielleicht nicht erwarten würde, wenn man ihn nur flüchtig kennt. Ich weiß nicht, wie oft ich schon daran gedacht habe, es einfach auszuräumen, wenn er mal wieder zwei Tage lang wegbleibt, aber ich kann es einfach nicht über mich bringen.

Die Möbel sind bunt zusammengewürfelt, vor den Fenstern hängen schwere, rote Samtvorhänge, die er Gott-weiß-woher hat und von den ehemals weißen Wänden ist kaum noch ein Stück zu sehen, seit er eine mittelschwere Lebenskrise, deren Ursachen mir unbekannt sind, dadurch überwunden hat, dass er sich knappe fünf Tage in seinem Zimmer eingeschlossen und unter der Einwirkung einer Überdosis Tequila und Trent Reznor die Wände bemalt hat. Danach ging er aus und kam erst am nächsten Nachmittag wieder.
Man kann ihm eine gewisse künstlerische Begabung nicht wirklich absprechen. Das Ergebnis ist gleichzeitig faszinierend und furchteinflößend.

Wie auch immer, wo Luc sich länger als fünf Stunden aufhält, sieht es hinterher aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Man kann praktisch zusehen wie sich, sobald er die Wohnung betritt, der Zustand seines Zimmers mit tödlicher Unausweichlichkeit zuerst ins Wohnzimmer und dann in die Küche ausbreitet, die er mit durchaus unverschämter Selbstverständlichkeit für die Dauer seines Aufenthalts annektiert. Es ist, als würde man die Ausbreitung eines Schimmelpilzes in Zeitraffer sehen. Oder vielleicht auch das Ansteigen einer Flut.

Natürlich hat er nicht nur schlechte Seiten. Er gibt sich sogar ganz ungeheure Mühe, liebenswürdig zu sein, was ihm auch spielend gelingt. Das ist immer dann der Fall, wenn er merkt, dass ich kurz davor bin, ihn vor die Tür zu setzen. Er hat ein nahezu untrügliches Gespür für die Stimmungen seiner Mitmenschen, auch wenn er diese meist ignoriert. Plötzlich hat er dann Manieren, treibt irgendwo Geld auf, mit dem er versucht, seinen Status als geduldeter Gast in den eines zahlenden Untermieters zu verkehren. Er geht einkaufen und kocht sogar für mich.

Er beherrscht eine bescheidene, aber wachsende Anzahl von Gerichten, die sogar schmecken, wenn man sich den Appetit nicht durch den Anblick der Küche nach seinen Kochaktionen verderben lässt.
Überhaupt gibt er, wenn er will - und wenn er gute Laune hat, bei schlechter ist er für sich selbst und andere unerträglich - eine ganz passable Gesellschaft ab. Er hat die stark beunruhigende, aber nichtsdestotrotz anziehende Ausstrahlung dieser Menschen, die mit einem Lächeln alles haben können, was sie wollen, und die das auch wissen. Er kann sich stundenlang mit einem unterhalten, ohne dass man irgendetwas Wesentliches über ihn erfährt. Er ist der geborene Lügner.

~*~

„Jonni“, sagt Luc und ich zucke unwillkürlich zusammen. Er sitzt seit einer knappen Stunde auf der Couch im Wohnzimmer, während ich am Esstisch sitze und arbeite. „Glaubst du, dass es einen Sinn im Leben gibt?“ Ja, er stellt einem solche Fragen, wenn ihm langweilig ist.
Ich unterbreche meine Arbeit und sehe auf. Im Fernsehen läuft Edward Scissorhands, ein Film, den er schon mindestens hundertmal gesehen hat und der auf eine leicht melancholische Stimmung hindeutet, wie auch seine Anwesenheit am frühen Abend.

„Im Leben eines bestimmten Menschen oder allgemein?“, frage ich zurück.
Er hat sich zu mir hingedreht, einen Arm auf der Rücklehne abgestützt, die Hand in den langen Haaren vergraben und sieht mich mit schräggelegtem Kopf an. „Keine Ahnung. Auf welche Frage hast du denn eine Antwort?“
„Allgemein glaube ich nicht dran.“, antworte ich. „Ein paar Lipide haben sich zusammengeballt und eine absurde Kettenreaktion ausgelöst.“

„So sinnlos?“
„Universal gesehen hatte es keine Auswirkung.“
„Und global?“
„Global schon, aber ob das Ganze einen Sinn hat, ist fraglich. Es käme der Frage gleich, ob man an einen Gott glaubt.“
„Und glaubst du an Gott?“
Ich denke einen Moment nach. „Eigentlich nicht. Aber irgendwie erscheint das ganze viel zu sinnlos und absurd, wenn man es nicht tut. Das ist erschreckend.“

Luc grinst zufrieden und wendet sich mit einem ambivalenten Brummen wieder dem Fernseher zu.
„Und das Leben eines einzelnen Menschen?“, fragt er eine ganze Weile später, als ich gerade wieder dabei bin, mich mit Kostenvoranschlägen und Finanzierungsmodellen auseinanderzusetzen.
Ich unterdrücke ein Seufzen und überlege. „Ich denke, das kommt auf die Maßstäbe an.“
Er wirft mir einen kurzen, schelmischen Blick zu, bevor er sich wieder abwendet. „Also kann es auch besser sein, gar nichts zu tun, statt irgendwas sinnloses zu machen.“
„Ich denke, das wichtigste ist, dass man selbst das Gefühl hat, etwas sinnvolles zu tun.“
„Ja, das macht Sinn.“, sagt er und dreht den Ton ein wenig lauter.

~*~

Schon in dem Moment, in dem ich an diesem Morgen die Augen aufschlage, weiß ich, das irgendetwas anders ist als sonst. Die durch die Wände nur leicht gedämpfte Musik, die ich höre, weist klar darauf hin, dass Luc nicht nur anwesend, sondern auch wach ist. Und das um - ich drehe leicht den Kopf und sehe auf den kleinen Designerwecker mit den schwarzen Plastikgehäuse auf meinem Nachtisch - sieben Uhr. Ich nehme meine Brille, die neben der Uhr liegt und setze sie auf. Sieben Uhr! Es gibt mir das Gefühl, heute könne alles passieren. Buchstäblich alles.

Ich stehe auf und beeile mich mit meinen allmorgendlichen Ritualen, um möglichst schnell in die Essküche zu kommen, in der sich Luc befindet. Ich komme an der Stereoanlage im Wohnzimmer vorbei, aus deren Lautsprechern etwas wie schwer definierbarer Straßenlärm unterlegt mit von Schmerz und Verzweiflung erfülltem Geschrei strömt. Aggressiv und ungezähmt, eine leicht irre Mischung aus so vielen Frequenzen, dass man es tatsächlich schon fast wieder Kunst nennen könnte. Darin, ab und an, überraschend, zerbrechlich und fast zu Tränen rührend schön, etwas wie eine Melodie. Man kann sich an diese Art Musik gewöhnen. Wenn man sie zu oft hört und die Melodien entdeckt, kann man süchtig danach werden.

In der Küche sitzt Luc in Jeans und sonst nichts, die Haare noch feucht und in Ausmaßen und Unordnung in etwa der Frisur einer 70er Jahre Popqueen entsprechend, seine Zahnbürste im Mund. Ich runzle die Stirn über seine schlechte Angewohnheit, beim Zähneputzen überall herumzurennen, aber er sieht nicht von der Zeitung auf, die er flüchtig durchblättert.
Alles in allem ein völlig normaler Anblick, aber eben erst fünf bis sechs Stunden später. Nicht um sieben.

Wenn er mir jetzt sagen würde, er wisse aus sicherer Quelle, dass diesen Mittwoch um Mitternacht die Welt untergehe und er sich deshalb vorgenommen hätte, nur noch ein Minimum der Zeit, die ihm noch bleibt zu verschlafen, dann würde ich ihm das ohne zu zögern glauben. Im Augenblick erscheint mir das nämlich die einzig logische Erklärung für sein abnormes Verhalten. Entweder das oder er ist eben erst nach Hause gekommen.

"Seit wann bist du hier?", frage ich, um diese Möglichkeit auszuschließen.
Er sieht auf und zuckt mit den Schultern. "Heine Ahmum.", sagt er, scheint sich dann an die Zahnbürste zu erinnern und verschwindet für zwei Minuten ins Badezimmer, um sie loszuwerden.
Ich nutze die günstige Gelegenheit, um meine Zeitung wieder an mich zu bringen und beginne mein Frühstück.
"Keine Ahnung.", wiederholt er, als er wiederkommt. "Vielleicht um vier."

"Und wie kommt es, dass du wach bist?"
Er verdreht die Augen. "Nicht nachts, nachmittags. Wie in pm. Sechzehn null null.", stellt er klar. "Ich konnte nicht schlafen, also bin ich aufgestanden. Um sechs...", setzt er unsicher hinzu, jetzt offensichtlich doch etwas verwirrt von seinem eigenen Verhalten.
"Aha.", antworte ich nur, mehr denn je davon überzeugt, dass irgendetwas geschehen sein muss. Als ich gestern Abend nach Hause gekommen bin, habe ich nichts von Luc bemerkt. Und er ist wirklich niemand, den man leicht überhören oder übersehen kann. Im Gegenteil, manchmal scheint er besessen von dem Gedanken, mit seiner Anwesenheit Spuren hinterlassen zu müssen.

Wenn ich ihn also gestern nicht bemerkt habe, als ich nach Hause gekommen bin, dann muss das heißen, dass er für mindestens fünf Stunden still in seinem Zimmer war. Die Betonung liegt hier auf "still", ein Adjektiv, das man auf Luc nicht einmal anwenden kann, wenn man taub ist. Aber die Tatsachen sehen nun mal so aus. Er hat keinen Grund, mich anzulügen und das bedeutet, dass er gestern Abend zu Hause war. In seinem Zimmer. Und keine Musik gehört hat. Oder nur mit Kopfhörern. Ein derartig rücksichtsvolles Verhalten kann eigentlich nur zwei Dinge bedeuten.

"Luc, was hast du ausgefressen?", frage ich ihn.
Luc, der leicht abwesend scheint und mit seinen Fingernägeln (Diese Woche sind sie aus irgendeinem Grund, der weit jenseits meines begrenzten modischen Horizontes liegt, dunkelgrün.) den Takt des gerade laufenden Liedes auf den Tisch trommelt, während er auf meinen Kaffee starrt und dabei nachdenklich die Stirn runzelt, als würde er eine sehr komplizierte mathematische Gleichung lösen, sieht mich verständnislos an.

Ich erkenne sofort, dass dies nicht seine gespielte unschuldige Verständnislosigkeit ist, mit der er manchmal versucht von seinen Fehlern abzulenken, sondern die tiefergreifende, allumfassende Verwirrung von jemandem, der sich eben noch an einem vertrauten Ort befand und plötzlich in einer Welt erwacht, die fern seiner bisherigen Vorstellungen von den Dingen ein von ihm nie erahntes Eigenleben führt. Mit ziemlicher Sicherheit hat er nicht einmal meine Frage gehört, geschweige denn verstanden. Das schließt alle meine Vermutungen (1: Luc hat etwas angestellt und 2: Luc will etwas) so ziemlich aus.

Langsam mache ich mir ernsthafte Sorgen um ihn. Ich schaue ihm tief in die Augen, um ihn auf eventuellen Drogenkonsum zu überprüfen, aber nein, sie sind so grün wie eh und je, seine Pupillen sind nicht erweitert und auch sonst wirkt er auf mich relativ normal. Eben so normal wie er sein kann.
Ich beschließe, das Ganze als eine der üblichen Absonderlichkeiten abzutun und nicht weiter zu beachten.

~*~

Ich wache auf und es ist dunkel. Ich bin müde, vielleicht ist es einer dieser Träume, in denen man nur glaubt, wach zu sein. Im Wohnzimmer klingelt das Telefon. Kein Traum. Ich blinzle in die Dunkelheit und versuche zu entscheiden, ob ich aufstehen soll oder das Klingeln ignorieren. Es klingelt wieder.
Ich kämpfe mich aus dem Bett und schlurfe ins Wohnzimmer. Hier ist es heller, weil eine Straßenlaterne ihr orangegelbes Licht an die Decke wirft. Ein weiteres Klingeln und ich hebe ab.

„Jonni?“
Es ist Luc und er klingt aufgeregt.
Es ist soweit. Das wird er sein. Der Anruf aus einem taiwanesischen Gefängnis, die Ankündigung, dass ein Trupp Polizeibeamter auf dem Weg ist, um die Wohnung zu stürmen und ich schnell etwas verschwinden lassen soll, irgendetwas in der Art.

„Ja?“, sage ich und bin auf alles gefasst.

„Du musst die E-Mail löschen, die ich dir geschickt habe.“

Darauf war ich nicht gefasst. Es klingt dringend, aber die Worte ergeben keinen Sinn. Besonders nicht so spät in der Nacht. Die Uhr am Herd zeigt 02:42. Vielleicht doch ein Traum.

„E-Mail?“
„Ja, lösch sie einfach, okay?“
„Hm“ Ich beschließe, aufzulegen und wieder schlafen zu gehen.
„Halt! Nein nein, schläfst du noch? Wach auf! Ich trau dir nicht. Mach jetzt sofort deinen Laptop an und lösche sie!“

„Was?“ Ich werde langsam wirklich wach und ich stelle fest, dass ich es nicht mag. „Weißt du eigentlich wie spät es ist?“
„Wenn dir unsere Freundschaft je etwas bedeutet hat, dann gehst du jetzt und löschst diese Mail!“
Ich hasse es, dass er meine E-Mail-Adresse hat. „Bist du betrunken?“
„Ja verdammt, also geh endlich und mach deinen Laptop an.“

Ich denke darüber nach, einfach aufzulegen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Luc nicht so schnell aufgeben würde. Also gehe ich zum Küchentisch und klappe den Laptop auf. Mit einem trägen Surren und Blinken der Dioden erwacht er zum Leben. Weißer Text läuft über den schwarzen Bildschirm und verschwimmt vor meinen an die Dunkelheit gewöhnten Augen.

„Was machst du? Hast du aufgelegt? Bist du noch da?“
„Er fährt hoch“, sage ich und lasse mich auf den Stuhl fallen. 02:44. Ich frage mich, wo Luc steckt. Er war seit einigen Tagen nicht zuhause. „Wo bist du?“
Er zögert einen Moment, macht einen etwas ratlosen Laut. „Visp“, sagt er schließlich, aber es klingt auch ein wenig wie eine Frage. Der Startbildschirm erscheint.
„Was?“
„Visp.“
Also habe ich mich doch nicht verhört. „Was ist das?“
„Eine Art Stadt... in der Schweiz.“

Ich gebe mein Kennwort ein und wünsche mich mit aller Kraft zurück in mein Bett. Outlook wird geöffnet und zeigt drei neue Mails. Die Mail eines Kollegen und zwei Mails, die ich ohnehin als Spam gelöscht hätte.
„Bist du LukasL@gmx?“
„Ja genau. Lösch sie.“
„Okay.“ Ich zögere. ... Will ich es wissen?

Vielleicht wurde er von gegnerischen Agenten verschleppt und hinterlässt mir in diesem Abschiedsbrief all seine geheimen Konten... Oder er hatte sich kurzzeitig entschlossen, ein neues Leben in Australien zu beginnen und teilt mir mit, dass er endgültig aus meiner Wohnung ausziehen will... Oder er enthüllt mir die Tatsache, dass er ein weltberühmter Rockstar ist, von dem nur ich nie etwas gehört habe... Oder etwas anderes, was ich mir gerade nichtmal in Ansätzen vorstellen kann.

„Du hast es noch nicht getan! Da war kein Klicken. Ich kann dich denken hören! Lösch sie!“

Schließlich lösche ich die Mail zusammen mit dem Spam und leere auch gleich noch den Papierkorb. Bis auf das Surren der Lüftung ist es still in der Wohnung, in der Telefonleitung knackt es.
„Hast du sie gelöscht?“, fragt Luc nach einem langen Moment der Stille, den ich mir vielleicht nur eingebildet habe
„Ja.“
Ich kann hören, wie er erleichtert ausatmet, während ich den Befehl zum Herunterfahren gebe.
„Wie ist Visp so?“, frage ich.
„Winzig. Mit Bergen drum rum und höllisch viel frischer Luft. Ich schätze, ich bin morgen Abend wieder zuhause.“

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