Zufällig stolperte ich über eine Neuerzählung vom Phantom der Oper, die in ein paar Wochen herauskommt. Geschrieben von Greer Rivers heißt das Buch: Phantom: A Dark Retelling. Und es gilt als Dark Romance.
Ich dachte: Cool, ein neues Phantom-Buch!
Ich mag ja sowohl Leroux' Original als auch den Roman von Susan Kay und natürlich diverse Musical und Filme.
Aus dem Klappentext:
*Eine düstere, moderne und romantische Neuerzählung des Musicalklassikers Phantom der Oper. Aber diesmal wird der Mann hinter der Maske nicht aufhören, bis sie ihm gehört.*
Sie ist meine Muse, und ich bin ihr musikalischer Dämon.
Vor einem Jahr wurde ich Zeuge der dunklen Seite der süßen Scarlett Day. Seither ist sie meine Obsession. Ich war zufrieden damit, ihr Geheimnis zu sein. Zufrieden damit, sie aus der Ferne zu beschützen. Bis ein Feind aus meiner Vergangenheit sie ins Visier nahm. Unsere Familien verbindet eine tiefe Geschichte des Hasses und Scarlet steckt mittendrin.
Währenddessen spielt ihr Verstand ihr Streiche. Als eine Panikattacke sie auf grausame Weise überkommt, trete ich aus dem Schatten, um sie zu retten.
Jetzt, wo sie mir gehört, kann ich sie nicht mehr gehen lassen.
Ich habe die Dunkelheit überwunden. Sie verführt mich mit ihrem Licht.
Aber wenn meine Maske weg ist, wird sie Angst vor dem Monster darunter haben?
Aber die Vermarktung? Warum Dark Retelling? Retelling - Nacherzählung, ja. Die Maske stößt einen ja auch darauf, dass es um Webbers Phantom der Oper geht.
Das Phantom ist eine wirklich düstere Geschichte, die man in der Rückschau vielleicht als den Ur-Roman von Dark Romance bezeichnen kann, weil es viele Gothic Elemente enthält, einen weiblichen Hauptcharakter hat, eine Frau in einem Liebesdreieck zwischen einem wirklich gefährlichen, mysteriösen Mann und ihrem Kindheitsfreund Raoul. Wie will man die Geschichte noch düsterer machen? Mit noch mehr grauenhaften Details zu dem Stalking, zu den Morden, der Entführung, der emotionalen Erpressung, der Folter von Raoul durch das Phantom? Wird das dann voyeuristischer dargestellt? Oder noch mehr Einblicke in die Psyche? Mehr vulgärer Sprache und Flüche?
Ich schätze, das Buch läuft darauf hinaus, dass sich Christine dem Phantom hingibt. Aber das hat sie bereits in dem alten Roman getan! Und dass Christine Raoul zugunsten des Phantoms sitzen lässt, also mit einem neuen Ende. Vielleicht tötet Christine auch das Phantom anstatt es zu befreien. Ich weiß es noch nicht.
Oder ist das nur Reklame-Blabla und die Geschichte wird einfach noch mehr gefüllt, vielleicht mit Multiperspektive, Hintergründen und mehr Szenen, die hineingewoben werden?
Nun, das Setting wurde verändert. Nicht Paris und Oper, sondern New Orleans (Louisana), die Stadt für alles Mysteriöse1, und Jazz.
1Sowohl die Vampirchroniken von Anne Rice als auch die Sookie-Stackhouse-Reihe / True Blood von Charlaine Harries spielen bereits in Louisana.
Ich muss zugeben, das gefällt mir nicht. Denn erstens fehlt dann die Oper bzw. das riesige Opernhaus mit seinen verschlungenen Wegen, den Gewölben und dem Schnürboden, und Paris als Stadt mit ihrer langen Geschichte. An ihre Stelle treten dann die kleinen Clubs in den USA, die einen völlig andere Atmosphäre besitzen, und wo eine andere Gesellschaft lebt.
Zweitens wird die Geschichte damit in die USA versetzt… und das hatten wir beim Phantom der Oper bereits in Form von Love Never Dies (dem Roman bzw. Musical) und das hat nicht funktioniert. Meg Giri und ihre Mutter, die in die USA migriert sind und dort nicht länger an einer Oper arbeiten, sondern in dem Horrorzirkus des Phantoms, wo Meg versucht als singende "Badeschönheit" Fuß zu fassen. Und dann Christine, die in die USA reist, mit ihrem Sohn und ihrem verbitterten, alkohol trinkenden Ehemann Raoul.
Gut, es kann an dem Stück an sich gelegen haben, dass ich es ingesamt wenig mochte, weil viele Charaktere so völlig anders geschrieben wurden: als bitter und eifersüchtig. Dabei hätte nicht einmal mehr Erik Grund, Groll zu empfinden, weil Christin ihn durch ihre Liebe befreit hat. Vielleicht funktioniert die Story ja doch in den USA.
Also habe ich die Leseprobe gelesen.
Leseprobe
Es gibt ein Opernhaus, die New French Opera. Auch gibt es ein Labyrinth, aus Zeiten der Prohibition (=als die USA Alkohol als Getränke verboten hatten), was eine clevere Übertragung ist.
Christine ist eine Studentin im 3. Semester, sie heißt aber nicht Christine Daae, sondern Scarlett Day. Ausgerechnet Scarlett, wie aus dem klassischen Roman Vom Winde verweht, der auch in den Südstaaten spielt (in Georgia, drei Staaten östlich von Louisana). Ihr Spitzname ist Lettie, was natürlich an "Lottchen" erinnert, wie Raoul Christine manchmal nennt.
Außerdem spielt das ganze in der Gegenwart. Und nach wenigen Seiten Text weiß ich auch, warum das Buch als "spicy" und "modern" beworben wird, weil die Worte Sex, Schwanz, sexy und Titten gleich im ersten Kapitel vorkommen. Es wird viel geflucht.
Scarlett scheint auch nicht wie Christine ein eher ruhiger, folgsamer und sanftmütiger Charakter zu sein, die dem Engel der Lieder vertraut, eher eine Frau, die sich aus Angst ins Leben stürzt: in einem Club tanzen will, ihr T-Shirt lüftet, um Männern ihre Brüste (im BH) zu zeigen, eine junge Frau, die pleite ist, aber teure Schuhe trägt (Manolos) und Alkohol trinken will, um ihren Schmerz zu vergessen, die Angst vor den Albträumen hat. Sie hasst ihre Mutter, ihr Vater ist ermordet worden. Sie ist völlig durch, weil sie versucht nicht mehr zu schlafen.
Scarlett wird von Polizisten, die sie als "heiß" bezeichnet, wegen Trunkenheit und Selbstverletzung (sie ist mit dem Knie auf eine Glasscherbe gefallen) festgehalten, mit Tasern bedroht, verhaftet und in einem Polizeiwagen weggefahren. Und der eine Polizist trägt eine Maske im Gesicht. Das dürfte also das Phantom sein. Scarlett findet ihn so sexy, dass sie denkt:
…und ich lecke mir über die Lippen, denn verdammt, er ist die Art von Mann, an di eich meine Jungfräulichkeit verliren würde. Allerdings würde ich ihn dazu bringen, diese blöde Maske von seiner rechten Gesichtshälfte zu nehmen. Zugegeben, die ist auch ziemlich heiß. In meinem Kopf kreisen die Gedanken um all die Stellungen, die ich mir diese Woche auf Pornoseiten angeschaut habe, weil ich so oft versucht habe, allein zu kommen.
Christine wird damit als Charakter dekonstruiert, d.h. auseinander genommen und drastisch verändert. Auch wird sie als Engel der Musik bezeichnet, nicht er. Er unterstützt sie aus dem Hintergrund heraus mit einem Stipendium.
Das Phantom ist anscheinend ein Polizist und Mafioso und nicht, wie bislang, der Mann, der ihr das Singen beibringt, ohne sich zu zeigen. Kann natürlich sein, dass er ihre Karriere und den Zerfall ihrer Familie eingefädelt hat und sie schon lange stalkt und - angesichts der wenigen, aber jetzt schon eingeworfenen Details zu ihren Eltern - Schuld an allem ist. Ich finde es ironisch, dass das Phantom ein Polizist sein soll, wo doch die Polizisten von Raoul eingesetzt wurden, um das Phantom zu besiegen.
Er wird außerdem als heiß bezeichnet, was natürlich daran liegt, dass das Phantom in den Musicals - im Gegensatz zu dem Roman - eine Maske trägt, die sein halbes Gesicht bedeckt, da nicht sein ganzes Gesicht entstellt ist (inklusiver fehlender Nase und Lippen), sondern nur ein Teil. Das Musical-Phantom sieht gut aus.
Ich bin mir noch nicht sicher, wer ihr bester Freund Jaime darstellt - ein neuer Charakter? Madame Giri auf jeden Fall besitzt eine Bar und heißt Madame G oder Madame Gastoneaux. Ihre Tochter heißt Maggie (bitte merken).
Im nächsten Kapitel lesen wir den Text aus Sicht des Phantoms: Sol. (Das ist das lateinische Wort für Sonne bzw den Sonnengott.) Der erste Satz handelt von seinen sexuellen Phantasien angesichts von Scarlett, wobei er anmerkt, dass ihrer Gesang "wahre Ekstase" sei. Üblicherweise singt das Phantom ja:
Dasselbe Geschick, das mich morden gelehrt, hat mir auch die Lust des Fleisches verwehrt.
…was ich so deute, dass er keine romantischen oder sexuellen Beziehungen pflegt oder in Betracht zieht, wohl aber Christine für ihre Stimme liebt und sie für sich haben will, damit sie seine Werke singt. Da ich neulich Das Phantom der Oper in Wien gesehen habe (2x mit unterschiedlichen Hauptbesetzungen) kann ich nicht leugnen, dass das Phantom Christine auch auf sinnliche Weise begehrt und er sie "zum letzten Schritt" auffordert, sich ihm hinzugeben, aber ihr Kuss und ihre Umarmung allein genügen ja, um das Phantom völlig zu überwältigen.
Nun, dieses Phantom hat einen Zwillingsbruder (Ben) und sie beide besitzen schwarzes Haar, blaue Augen und eine knochenweiße Totenkopfmaske. Ben wiederum ist mit Maggie (Meg Giri) zusammen, was ich interessant finde. Da Ben als "moralischer Kompass" beschrieben wird, nehme ich an, dass er die Rolle des Persers übernimmt, der einzige Mann, der mit dem Phantom offen spricht (im Roman; im Webber-Musical kommt er nicht vor und wird von Madame Giri ersetzt).
Sind die beiden Phantome überhaupt entstellt? Warum tragen sie die Masken? Ist das so ein Familien-Clan-Dings? Denn um Familien geht es hier.
Das Phantom hegt einen Groll gegen die reiche Familie eines Mannes namens Rand (ich nehme an, das ist Raoul), der ebenfalls einen Bruder besaß (getötet vom Phantom), aber die Oper soll neutraler Boden sein. Und offenbar hat Raouls' Rands Bruder das Phantom entführt und gefoltert, während ursprünglich mal das Phantom Raoul gefoltert hat.
Denn die Familie des Phantoms und die Familie Rands sind verfeindete Familien, die das Gebiet unter sich aufteilen, was die Triggerwarnung "Mafia" am Anfang des Buches erklärt. Ich hasse die Mafia und ihre Geschwafel von "EHRE". Das stößt mich viel mehr ab als das ich hier ein Phantom der Oper lesen könnte, das durch eine obszönere oder brutalere und amerikanischere Weise neu erzählt wird.
Gut, was soll also nun die Maske? Das hat einen doppelten Hintergrund. Erstens schreibt das Phantom darüber, dass die Maske (Masque) ein Symbol aus Zeiten der Prohibition war, das seine Familie nutzte. Außerdem dienen sie als Vermummung all jener Angestellten des Mafia-Clans. Andererseits hat das Phantom schwere Verbrennungen erlitten, wurde also nicht mit einem entstellten Gesicht geboren. Er ist also sexy. Und die Masken haben sonst nichts weiter mit Schönheit zu tun.
Während Raoul aus dem Musical das Phantom nicht einmal kennt und Christine vor dem Phantom beschützen will, da sie sich so entsetztlich fürchtet, sind Rand und das Phantom hier Rivalen, die sich von Kindheitstagen an kennen und durch einen Waffenstillstand daran gehindert werden, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Wobei das Phantom im Nachteil ist, weil Rand und Scarlett Jugendfreunde sind, während das Phantom nun ein paar Jahre in Frankreich gelebt hat.
Also… kommt es jetzt darauf an, was man will und was man von dem Buch will.
Ist einem das Sujet wichtig: Paris, 19. Jahrhundert? Findet man New Orleans in der Gegenwart okay oder vernachlässigbar? Ich kann mit der Änderung von Zeit und Raum leben, obgleich ist es weniger mysteriös finde.
Geht es einem um die Charaktere, möchte man eine Neuerzählung von Erik, Raoul und Christine lesen? Ich denke, dann wird man von dem Buch eher enttäuscht, dafür sind die Figuren einfach zu anders. Ich glaube auch nicht, dass das Ziel des Buches war, die Figuren so auftreten zu lassen, wie sie im Roman oder im Musical agieren.
Kann man damit leben, dass hier die Mafia als "cool" und "heiß" verklärt wird und somit Mafia-PR betrieben wird?2 Oder findet man die Mafia so scheiße wie ich?
2 Die Mafia ist recht aktiv auf Tiktok als Influencer, die ihren "harten" und "glamurösen" Lebenstil vermarkten, um ihre Image aufzupolieren und Untergebene zu rekrutieren. Dass es sich um kriminelle Clans handelt, die sich - entgegen ihres Codex - an allen Menschen und der Natur vergehen, wird dabei gern ausgeblendet. Die Mafia ist SCHEIẞE. Genau wie all die anderen Clans, die hier und andernorts Verbrechen begehen, untereinander heiraten und sich selber geil finden.
Oder geht es einem eher um das Konzept "mysteriöser Stalker und Musik"…? Dann findet man das Buch wohl eher interessant. Oder man mag es, weil es ein Genre-Buch ist, dass sich des Phantoms annimmt.
Ich habe 2 Kapitel gelesen und würde zumindest nicht das Geld für ein physisches Buch ausgeben, eher vielleicht für das günstigere E-Book.