„Wer ist sie?“
Sasuke nickte zu dem Mädchen, das auf Kabutos Operationstisch lag. Wirr umrahmte ihr braunes Haar das Gesicht, das Sasuke ins Auge fiel, weil es ruhig, friedlich und entspannt wirkte. Das war nicht gewöhnlich, wenn man Kabuto genauer kannte. Äußerlich schien es ihr gut zu gehen: ihr Körper sah gesund und gut genähert aus, ihre Hände waren nicht herb der trocknen Luft hier unten und ihre Fingernägel waren nicht eingerissen durch die Versuche einer Zelle zu entkommen. Da sie keine Wunden oder Abwehrverletzungen hatte, konnte sich auch nicht gerade erst entführt worden sein, außerdem war Kabuto kein Mensch, der seine Pläne wegen eines neuen Versuchsopfers durcheinander brachte. Egal, wie interessant es auch zu sein versprach.
„Wieso?“, fragte Kabuto zurück, ohne von seinen Notizen aufzusehen, die er durchwühlte, um Sasuke seinen neusten Auftrag zukommen zu lassen. „Interessiert sie dich?“
„Nein, keineswegs.“
Das Seufzen unterdrückte Sasuke als betont desinteressiert antwortete. Es war ein Fehler gewesen zu fragen, nun würde Kabuto dies Angriffspunkt verwenden. Würde ihn fragen, sticheln und jede seiner Handlungen überwachen, weil er außerhalb seines gewöhnlichen Verhaltens Interesse an einer Person gezeigt hatte. Doch es war weniger sein heranwachsender Körper oder sein menschliches Mitgefühl, das ihn hatte fragen lassen, sondern Sorge. Kabuto hatte von Orochimaru die Anweisung bekommen nur jene für seine privaten Studien zu verwenden, die für Orochimaru nicht mehr von Nutzen waren.
Das waren meist die Ausgehungerten, die Schwachen und jene, deren Wille Orochimaru bereits gebrochen hatte.
Dieses Mädchen sah viel zu gesund und normal aus, als das sie aus einer der Zellen stammen konnte. Nicht mal ein Einzelzimmer mit Bett und regelmäßiger Nahrung ließ ein normales Mädchen hier aussehen, als wäre sie gerade tanzend durch einen Sonnenblumenfeld gewandelt. Sasuke war dabei einen zweiten Blick auf das Mädchen zu werfen, weil er aus dem Augenwinkel bemerkt hatte, dass ihre Lider flatterten, als er Kabuto ihm eine Schriftrolle vor die Nase hielt.
„Hier“, sagte er, „da drin stehen alle Details. Sorgfältig aufgeschrieben, weil du dich ja beim letzten Mal so beschwert hast, Sasuke-kun.“
Sasuke schnaubte und öffnete die Schriftrolle, um sich genauer anzusehen, was er diesmal tun sollte. Diese Aufträge waren Orochimarus Art und Weise ihm zu sagen, dass er sich nützlich machen sollte, außerdem waren sie ein Vertrauensbeweis, weil er ihm erlaubte, dass er sie allein erledigte. Ganz gleich wie weit sie ihn von seinem Meister weg oder in welche Gefahren führen würden.
„Sicher. Schließlich enthielt die letzte Schriftrolle grobe Fehler. Falsche Angaben über die Stärke und Position des Feindes, die irrtümliche Annahme, dass der Daimyo des Gebietes nicht ein Verbündeter des Zielobjektes war...“, sagte Sasuke ruhig und ritt weiter auf seiner Anschuldigung herum, dass Kabuto die Angaben auf der Schriftrolle absichtlich gefälscht hatte, „Ich will einfach nicht, dass das noch einmal passiert. Schließlich könnte es auf Lücken in unserem Nachrichtensystem hinweisen und wäre besorgniserregend.“
Ohne Kabuto anzusehen, rollte Sasuke die Schriftrolle wieder zusammen und ließ sie in seiner Kleidung verschwinden. Die wütenden Schritte auf dem Fußboden, die sich nun von ihm entfernten, ignorierte er gekonnt. Er musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass Kabuto gerade sehr pikiert drein sah und seinen Anflug von Furcht damit verdeckte, dass er seine Brille zurecht schob. Die Botschaft war ankommen, daran zweifelte Sasuke nicht. Würden die Angaben wieder nicht stimmen, hätte er keine Probleme dies Orochimaru zu berichten. Beim letzten Mal hatte es der Meister als unerwartete Komplikation abgeschrieben, denn das konnte passieren. Doch Häufigkeiten und ganz besonders Zufälle waren Orochimaru schon immer suspekt gewesen, denn er wusste am besten, dass hinter derartigen Dingen meist ein Plan oder eine Person steckte.
In diesem Falle Kabuto der versuchte Sasuke bei Orochimaru in Ungnade fallen zu lassen.
Das war zwar nichts neues, die Steine wurden ihm von dem - aus seiner Sicht - eifersüchtigen Arzt von Anfang an in den Weg gelegt, doch die Überraschungen häuften sich und wurden unangenehmer. Ein Zeichen dafür, dass Kabuto langsam die Geduld verlor. Er würde auch diesmal besser vorsichtig sein, ganz gleich ob er nur einen Waffenhändler töten sollte, der Orochimaru betrogen hatte. Kabuto zu trauen, egal in welcher Hinsicht, würde sich immer als tödlicher Irrtum erweisen.
Sasuke wandte sich zur Tür und ging ohne ein Wort des Abschieds. Es war nicht nötig und der stechende Blick sich sowieso schon in seinen Rücken bohrte, wollte er nicht Kabuto noch einen Grund geben, ihn zu zwingen sich noch einmal umzudrehen. Je weniger Kontakt er zu ihm hatte, desto geringer war die Chance, dass er ihm nicht doch eines Tages die Kehle durchschnitt.
Dadurch konnte Sasuke in der Tat bei Orochimaru in Ungnade fallen und so verlockend Kabutos Tod durch seine Hand auch war, riskieren wollte er es nicht.
Als Sasuke den Raum durchquerte und dabei an dem Mädchen vorbei lief, dass nach Sonnenblumen roch und so gar nicht in diese Umgebung passte, sah er, dass die Drogen wohl soweit nachgelassen hatten, dass das Mädchen stumm an die Ecke starrte. Trotz des schummrigen Lichts im Labor und der Beruhigungsmittel, welche das Mädchen ruhig hielten, waren ihre Augen erstaunlich klar.
Sie waren grün.
-
Mit einem leisen Rumpeln öffnete sich die Tür, als Sasuke Orochimarus Bibliothek betrat. Suchend ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen, um ein Anzeichen dafür zu finden, wo sein Meister sich in den langen Gängen der Regale befand. Im Halbdunkel des Kerzenlichtes war nicht viel zu sehen und Orochimaru war niemand der sich durch zu lautes atmen verriet. Wie eine Schlange auf der Jagd konnte er Stunden lang an einem Ort ausharren und sein Zielobjekt beobachten. Geduld war dabei die Frage und Ausdauer die Antwort.
Doch dieses Mal ließ Orochimaru nicht auf sich warten, sondern glitt komplett lautlos zwischen den Bücherregalen hervor. In der Hand hielt er eine Schriftrolle, die er nun in seinem Ärmel verschwinden ließ und mal wieder fragte sich Sasuke, ob diese Sammlung an Wissen hier Orochimaru wirklich etwas bedeutete. Der Raum wirkte nicht gut geschützt und jedes Mal, wenn sie ihr Lager abbrachen und weiter zogen, schienen sie die Bibliothek zurück zu lassen. Dennoch tauchte sie irgendwo später wieder auf, allerdings mit verändertem Inhalt, anderen Schriftrollen und nie einem Zeichen, dass es womöglich ein Raum-Zeit Jutsu war mit dem Orochimaru seine Sammlung transportierte und bei Bedarf wieder auspackte.
Schließlich war es wider Orochimarus Natur an Besitztümern zu hängen, selbst an Büchern für ihn als Quelle unerschöpflichen Wissens galten. Allerdings hatte Orochimaru auch ein Gedächtnis, das kein mehrmaliges Lesen oder gar ein Nachschlagen von Informationen erforderte. Es mochte also gut sein, dass unter der Erde des Graslandes kleine Bunker wie diese befanden, angefüllt mit verbotenem Material und genügend delikatem Inhalt über jede Person, die Orochimaru bedeutsam erschien. Mit dem richtigen System würde er in der Lage sein genug Fakten zusammen zu tragen, um ein kleines Land zum Einsturz zu bringen, doch die Art der Sortierung der Schriftrollen war allein Orochimarus Geheimnis.
Für ihn bedeutete es, dass er es dem Zufall überlassen musste, worin er sich weiterbildete, wenn er Bedürfnis nach Lektüre hatte und die wichtigsten Informationen schrieb sein Meister sowieso nirgendwo auf. Die blieben allein in seinem Kopf.
„Sasuke-kun“, sprach Orochimaru ihn mit seiner gewöhnlich rauen Stimme an. Trotz der Samtigheit, mit der er die meisten Menschen einwickelte, war sie bar jeglicher Emotion. Angst machte es ihm nicht, es bereitete ihm nicht einmal Unbehagen, es machte Orochimaru nur zu einem schwer lesbaren Gesprächspartner.
„Was führt dich her?“, fragte sein Meister und legte den Kopf schief, „Ich hatte nicht mehr damit gerechnet dich vor deiner Abreise noch einmal zu sehen. In der Regel erfordern Kabutos detaillierte Anweisungen keine Rücksprachen.“
„Es bedarf keiner Rücksprache“, antwortete Sasuke tonlos.
Sie unterhielten sich oft so. Kaum ein Zeichen verriet ihre Stimmung und reisten sie zu dritt, fiel es Kabuto meist am schwersten ihren Unterhaltungen zu folgen, denn nicht alle führten sie mit Worten. Orochimaru mit seiner Erfahrung und seiner untrüglichen Menschenkenntnis konnte das Wichtigste, was seinen Schüler beschäftigte, genauso gut erkennen, wie Sasuke, der im Gegenzug inzwischen nicht einmal mehr das Sharingan dazu brauchte. Ihre Konversationen setzten sich nur zu einem kleinen Teil aus Worten zusammen, selbst dann war es wichtiger auf das zu hören was sie meinten und nicht was sie sagten.
Aus Sasukes Sicht ein Grund, warum Kabuto das Wesens des Mannes, den er so sehr verehrte, nicht wirklich begreifen konnte, er machte sich zu selten die Mühe in Erinnerung zu rufen, wie viel von Orochimarus lautlos angedeuteten Drohungen er wirklich auch wahr machte.
„Aber...?“, hackte Orochimaru nach und hob eine Augenbraue.
Sie unterstrich weniger die Frage, als eine alte Mahnung, dass Kabuto und er miteinander auszukommen hatten. Er gewährte ihnen viele Freiheiten und in gewisser Hinsicht konnten sie auch machen, was sie wollten, aber in diesem Punkt tolerierte Orochimaru keine Albernheiten. Auch weil er wusste, die stille Kooperation zu denen er sie zwang, schlimmer als jegliche andere Strafe war, die er ihnen für ihre sonstigen Dreistigkeiten hätte auferlegen können, welche ebenso zum Alltag gehörten, wie der Anblick von Elend und Finsternis.
„Kabuto hat eine neue Gefangene“, berichtete Sasuke geradeheraus, weil er es keine richtige Formulierung für das gab, was er ausdrücken wollte.
Es war nicht mehr als ein Verdacht, zwei Seltsamkeiten, die aufeinandertrafen und keinen Sinn ergaben, doch in ihrem Geschäft konnte ein geringer, fast lächerlicher Verdacht manchmal die einzige Warnung sein, die sie bekamen. Dies war nun mal eine andere Welt, als jene in der die gewöhnlichen Shinobi lebten, wo die Aufträge aus sicheren Eskorten für bedeutende und unbedeutende Menschen bestand und die Feinde sich offen als solche zu erkennen gaben, indem sie das Zielobjekt mit gezückten Waffen angriffen.
Hier, in der Welt der Kriminellen, weil weg von den Shinobi Dörfern, war jeder Freund und Feind zugleich und Sasukes Liste begann mit Kabuto.
„Oh?“, spottete Orochimaru offen und setzte eines diese Lächeln auf, das einer Löwenmutter glich, die ihren Jungen einem kräftigen, aber ungefährlichen Schlag mit der Pranke versetzte, um ihm Manieren beizubringen.
Sasuke widerstand dem Drang sich aufzuplustern, weil er wie ein vorlauter Bengel beweisen wollte, dass er Recht hatte. Außerdem würde das Orochimaru nur noch mehr amüsieren.
„Sie ist keine von uns“, erklärte Sasuke und war froh, dass er die richtigen Worte gefunden hatte, um seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen.
„Ach nein?“, fragte Orochimaru nun schon ernster.
„Nein“, bestätigte Sasuke fest. „Sie riecht nach Blumenfeldern, Sonne und frischer Luft. Man würde sie eher als entstiegene Figur aus einer Märchenerzählung betrachten und nicht als reale Person, wie sie an diesem Ort existieren sollte.“
Denn das war sie nicht. Das Mädchen mit den grünen Augen war keine in Schande geratene Kunoichi, keine Waise oder eine Hure auf der Suche nach Zuflucht. Sie hatte nichts mit jenen vom Schicksal gebeutelten Frauen gemein, die hier endeten, weil sie den Preis für Orochimarus Schutz als bessere Option zu einem Leben in einem Bordell oder anderen trostlosen Orten betrachten. Nicht, das er ihre Entscheidung nachvollziehen konnte, aber es ging hier auch nicht um die Frauen, sondern um Kabuto.
Nach seiner Auffassung war Kabutos Verstand krankhafter und perverser als Orochimarus und das jetzt jener nachdenklich einen Blick in die Richtung warf, wo er das Chakra des Medi-nin erahnte, gab Sasuke den Anlass zur Vermutung, dass Orochimaru ihm in diesem Punkt überein stimmte.
Das Mädchen war nur ein Objekt, in ihren wie in Kabutos Augen, doch es ging um das, was den Arzt zu diesem Bruch mit seinen Gewohnheiten veranlasst hatte. Kabuto war alles andere als geistig gesund, doch aus anderen Gründen, als die Welt vielleicht annahm. Doch da die Shinobi Dörfer alle Verräter gleichermaßen als böse Menschen deklarierten, um sie damit vollkommen verfrüht über einen Kamm scherten, war für Unwissende schwer zu erklären, dass es auch in der Welt der Gesetzlosen Regeln und Prioritäten gab.
„Gut“, sagte Orochimaru schließlich gedehnt. „Ich werde nach Kabuto sehen und du überzeugst jetzt diesen störrischen Adligen, dass er auch weiterhin besser seinen Tribut zahlt, wenn er weiterhin im Amt bleiben möchte. Weigert er sich, töte ihn und sorge dafür, dass eine zahlungsunwillige Familie an die Macht kommt. Es gibt immer Leute, die sich auf so etwas einlassen.“
So etwas … Sasuke nahm an, dass Orochimaru damit sich selbst und das dreckige Geschäft der Korruption meinte. Früh hatte er bei diesem Aufträge gelernt, dass es selten Fürsten gab, die nicht zahlten. Entweder sie waren faul, bequem und geizig, sodass sie die Vorteile genossen, die ihnen die Abkommen mit Orochimaru boten oder sie waren klug genug, um schweigend zu zahlen und den Mund zu halten. Beide jedoch musste man nur ein wenig bedrohen, um sie zur Kooperation zu bringen. Eine sehr einfache Aufgabe, die nicht mehr verlangte, als ein Manipulation, Theater und der richtige Zeitpunkt.
Den zu kennen war wichtig und Sasuke war froh, dass er zumindest erkannte, dass es jetzt Zeit war zu gehen und Kabuto mit Orochimaru allein zu lassen.