Kapitel 2: Die Schachtel
Der New Yorker Verkehr war eine der größten Herausforderungen, die ein Autofahrer zu bewältigen hatte. Sehr dicht und unberechenbar. Staus gab es praktisch an jeder Ecke, um nicht völlig durch zu drehen musste ein Autofahrer in einer der größten Metropolen der Welt Nerven wie Drahtseile haben. Mindestens.
Doch Roy, schon seit knapp 10 Jahren Miranda Priesly’s zuverlässiger Fahrer, kannte die Tricks um sich gekonnt aus sämtlichen Verkehrsknoten zu winden und seine Chefin in Rekordzeit zu ihrem Stadthaus zu fahren, bevor sie auch nur ein Wort oder Geste der Ungeduld aufbringen konnte.
Doch zu seiner Überraschung war Miranda heute nicht ungeduldig. Angespannt, ja. Und er sah im Rückspiegel, wie sie noch immer leicht in Gedanken versunken auf ein Blatt Papier starrte. Der Wagen hielt an.
„Wir sind da, Ms. Priestly.“ sagte er.
Miranda zuckte leicht und sah zu ihm auf. „Gut. Holen Sie mich um 13 Uhr 45 hier wieder ab. Das war’s.“
Sie griff sich ihre Tasche, öffnete die Tür und stieg aus.
Nach dem sie die Autotür zugeschlagen hatte, entfernte sich ihr Wagen und bog um die nächste Ecke, auf dem Weg zur Garage.
Den Zettel wieder sicher verstaut nahm sie die Schlüssel aus ihrer Tasche, schloss die Tür auf und ging hinein.
Das Haus war mit Ausnahme ihrer Hausdame Louisa, die auf der Stelle erschien, um ihr den Mantel und die Tasche abzunehmen, völlig leer. Die Mädchen waren noch nicht da. Es würde wohl noch 20 Minuten dauern, bis sie eintreffen würden.
Die Hausdame wurde natürlich zwischenzeitlich von Roy per SMS informiert, dass Miranda überraschend gegen Mittag bei sich zu Hause eintreffen würde.
Miranda as nie oder nur äußerst selten bei sich zu Hause zu Mittag, aber Louisa konnte in Windeseile etwas zubereiten, falls Miranda es wünschte.
„Nein, das ist nicht nötig.“ winkte Miranda zu ihrer Überraschung ab. „Und ich wünsche, dass Sie bis 13 Uhr 30 das Haus verlassen. Ich werde für ein paar Tage nach London fliegen und muss noch ein paar Dinge persönlich regeln und mit meinen Töchtern sprechen. Dabei wünsche ich nicht gestört zu werden. Das war’s.“
„Natürlich Miranda, ganz wie sie wünschen.“ Louisa holte sich ihren Mantel und Tasche und verlies das Haus.
Miranda atmete aus. Als die Tür ins Schloss fiel zeichnete sich ein großes Echo im Flur aus.
Das Haus war so groß. Und so leer. Sie war sich dem immer bewusst.
Eines Tages, wenn die Mädchen mit der Schule fertig waren und ihre eigenen Wege gingen, würde es noch leerer sein.
Zwar war es bis dahin noch eine gewisse Zeit, aber Miranda wusste, dass diese Zeit schneller kommen würde, als ihr lieb war.
Zeit war kostbar und sie dachte noch nie daran sie auch nur ansatzweise zu verschwenden, weswegen sie immer kurze und klare Anweisungen gab und erwartete, dass diese auch erfüllt wurden.
Miranda Priestly konnte das von allen Leuten um sich herum auch erwarten.
Auch sie selbst hatte wenig Zeit. Kurz vor dem Eintreffen ihrer Töchter musste sie umgehend etwas überprüfen und beschleunigte ihre Schritte auf der Treppe nach oben zu ihrem Schlafzimmer.
Als sie es erreichte, schloss sie die Tür umgehend zu und ab, damit sie wirklich niemand störte, falls doch Louisa oder sonst wer überraschend wiederkommen würde. Obwohl es keiner wagen würde, sich Miranda Priestly’s Anordnungen zu widersetzen.
Sie hatte sie gut versteckt. An einem Ort, wo kein Hausangestellter sie jemals finden würde.
Mirandas übergroßes Bett hatte eine Klappe am Bettkasten, von der nur sie wusste, dass man sie öffnen konnte. Niemand wusste von diesem Versteck. Nicht mal ihre Töchter. Und ihre ganzen vorigen Ehemänner erst Recht nicht.
Vorsichtig kniete sich Miranda auf den Teppich vor das Bett und öffnete leise die Klappe leicht. Sie griff hinein und fand ohne große Probleme was sie suchte und hob es heraus.
Es war nichts weiter als eine kleine weiße unscheinbare Schachtel. Eine weiße Schuhschachtel ohne Aufdruck.
Hier drin lag sie, Miriam Princhek.
Alles, was sie von ihr behalten hatte, auch wenn es nicht viel war.
Miranda rang mit ihrer Fassung. Sie wollte die Kontrolle behalten. Sie musste sie behalten.
Dennoch zitterten leicht ihre Hände, als sie langsam den Deckel abnahm.
Langes blondes Haar kam zum Vorschein. Eine Perücke. Sorgfältig verpackt. Miriam Princhek’s Haar.
Miranda Priestly hatte kurzes silberfarbenes Haar. Jeder erkannte sie umgehend aufgrund dieser Frisur, teil ihres Markenzeichens.
Sie nahm die Perücke heraus und betrachtete sie. Echtes Haar. Auch wenn sie inkognito auf ihren üblichen Luxus-Standart verzichten musste, wollte sie wenigstens ihre frühere natürliche Haarfarbe und Länge besitzen. Eine billige Imitation kam nicht in Frage.
Sie legte die blonden Haare beiseite und nahm den britischen Pass heraus. Sie betrachtete das Foto und seufzte.
„Sehr lange her, was Miriam?“ sagte sie zu sich selbst.
Fast musste sie lächeln.
Woher dieser Drang kam, wusste sie nicht. Es wäre nur ein trauriges Lächeln geworden, aber es erstarb bereits auf ihrem Gesicht, bevor es sich überhaupt ansatzweise zeigen konnte.
Der Pass war gültig, dafür hatte sie gesorgt. Sie wusste, dass Miriam Princhek eine letzte Reise nach England antreten musste. Das hatte sie nun mal Mary Ann Princhek versprochen. Das war der Deal, um sie gehen zu lassen. Nach Amerika. Nach New York City.
Miranda Priestly brauchte keine Versprechen zu halten. Niemand konnte sie dazu zwingen, mit Ausnahme ihrer Töchter natürlich, die sie über alles liebte und ihnen notfalls die Sterne am Himmel versprach. Aber Miriam Princhek war unwiederbringlich an das Versprechen gegenüber ihrer Mutter Mary Ann Princhek gebunden.
Auch den Pass legte sie sorgfältig zur Seite. Ihr Blick blieb bei den letzten beiden Gegenständen haften, die sich in der Schachtel befanden. Ein Foto und ein kleiner weißer Umschlag.
Sie nahm das Foto heraus und sah es an. Vorsichtig glitten ihre Finger über das Foto und streichelten das Gesicht eines jungen blonden Mädchens, was neben ihr abgebildet war. Es lachte in die Kamera. So war sie schon immer. Das pure Sonnenlicht, während Miriam eher zurückhaltend lächelte, dennoch den Arm um die Schulter des anderen Mädchens gelegt hatte.
Miranda konnte nicht anders. Sie musste schlucken. Der Anblick dieses Fotos, was vor über 40 Jahren geschossen wurde, der Anblick von ihr lies ihre noch so sehr cool aufgesetzte Ice Queen Mine schmelzen. Ihre Lippen zitterten. Sie taste nach dem Umschlag, öffnete ihn vorsichtig und nahm einen kleinen Brief heraus. Schon seit mehr als 20 Jahren hatte sie ihn nicht gelesen, aber sie konnte die wenigen Zeilen, die er enthielt auswendig. Trotzdem las sie die geschwungene Handschrift erneut:
Liebste Miriam,
ich weiß, dass Du nicht verstehen wirst, warum ich weggehen muss. Vielleicht wirst Du es nie… Dennoch hoffe ich, dass Du mir eines Tages verzeihen kannst. Irgendwie.
Ich kann dieses Leben nicht mehr weiterführen. Nicht hier. Ich muss frei sein, Mimi.
Du weißt es, Du hast es immer gewusst. Ich kann und werde dieses Haus verlassen, aber Dich niemals. Egal wie viele Kilometer uns trennen, wir werden immer zusammen sein.
Ich liebe dich über alles, vergiss das nie.
Alles Liebe
D.
Während sie diese Zeilen las, klopfte ihr Herz mit voller Gewalt gegen ihren Brustkorb, ihre Augen glänzten feucht und ihre Hände zitterten erneut.
Nach all diesen Jahren würde sie sie wieder sehen. War sie bereit dazu?
Miranda konnte mit einem einfachen Lippenkräuseln Designer dazu bringen, ihre gesamte Kollektion umzuwerfen und nun saß die mächtigste Frau der Modebranche zusammengesunken auf dem Teppich in ihrem Schlafzimmer vor einer schlichten weißen Schachtel, einen Brief in der Hand und war kurz, so kurz davor in Tränen auszubrechen, aufgrund der Tatsache, bald wieder der Person zu begegnen die sie so sehr über alles in der Welt geliebt hatte und sie zugleich abgrundtief hasste für das, was sie ihr angetan hatte.
Ich muss frei sein, Mimi. Hörte sie es in ihrem Kopf.
Immer und immer wieder.
„Einen Scheiß musstest du!“ schrie sie in den Raum, mit den Tränen kämpfend. Sie schämte sich normalerweise für eine solche Ausdrucksweise, aber jetzt nicht.
Sie war drauf und dran den Brief zu zerreißen, zu zerfetzen…
Aber sie steckte ihn einfach zurück in den Umschlag und in die Schachtel, zusammen mit dem Foto. Den Pass und die Perücke ließ sie draußen.
Miranda erlangte die Fassung zurück und wischte sich über die Augen. Sie sah auf ihre Uhr. In wenigen Minuten würden Caroline und Cassidy zu Hause sein. Sie musste sich beeilen.
Eilig legte sie die Schachtel zurück in ihr Versteck, schloss die Klappe, schnappte sich den Pass und die blonde Perücke und lies sie in einer Schublade ihres Nachttisches verschwinden.
Vorsichtig erhob sie sich vom Boden und richtete die Falten in ihrem Chanel-Kostüm.
Sie rannte ins Bad und ließ kaltes Wasser über ihr Gesicht laufen, trocknete sich ab, frischte ihr Make Up und die Frisur neu auf.
Sie atmete tief durch, dann schloss sie die Tür wieder auf und ging nach unten, um ihre Töchter in Empfang zu nehmen.
Das Schwerste an diesem Tag stand ihr noch bevor.