Titel: ZEIT
Autor: KitKaos
Theme: 33 - please stop
Teile: 1 |
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Zeit ist relativ. Was vor hundert Jahren noch eine Unvorstellbarkeit war, lernt heute jedes Kind in der Schule. Wie viel davon vergeht, hängt immer vom Blickwinkel des Betrachters ab, wo und wie er sich im Raum befindet.
Und manchmal kommt es einem eben so vor, als ziehe das Leben - also die Zeit, die jedem individuell gegeben worden ist - an einem einfach so vorbei und man weiß gar nicht, was man eigentlich verpasst hat. Hin und wieder ist der Raum gnädig und manchmal sieht man dann sogar, was es nun eigentlich war, das man da verpasst hat. Man beschließt, das nachzuholen, doch da beschleunigt die Zeit auch schon wieder, und alles ist wie vorher.
Die Zeit zieht an einem vorbei wie die Landschaft vor einem Zugfenster, und man hört nur selten etwas über das monotone Rauschen und Rattern des Zuges, in dem man sitzt.
Renée starrte gedankenverloren hinaus, auf die Berge in der Ferne, die sich kaum zu bewegen schienen. Sie war auf dem Weg von ihren Eltern zurück, bei denen sie für ein paar kurze Tage eine Auszeit genommen hatte. Auf dem Weg zurück in die Stadt, in ihre eigene Wohnung, zu ihrem eigenen Leben.
Auch wenn dieses Leben momentan ein wenig chaotisch war. Gerade erst letzte Woche hatte sie in einem neuen Job angefangen. Sie war jetzt 23 und versuchte immer noch - oder vielleicht auch gerade jetzt mehr denn je - zu sich selbst zu finden. Imagewechsel, Stilwechsel, neue Wohnung, neuer Job. Heute morgen im Spiegel hatte sie bereits die ersten Falten entdeckt. Die Zeit lief, und sie hatte sich vorgenommen, das Beste daraus zu machen, immerhin war sie jung, Single und ihr stand praktisch die Welt offen. Sie hatte genug verpasst, jetzt war es an der Welt, sie dafür zu entschädigen.
Bis jetzt hatte sie mäßigen Erfolg. Was ihr die Welt gegeben hatte, war zwar ein neuer Job, aber auch Stress - und ihren eigenen Stalker. Renée bezweifelte zwar, dass in der Großstadt Stalker so eine Seltenheit waren, allerdings zehrte es an ihren Nerven. Der Stalker hatte sie sogar zu ihren Eltern, bis hinaus aufs Land, verfolgt und auch wenn er stets seinen Abstand hielt, so wusste sie doch meistens, dass er da war. Auch jetzt, hier im Zug, war er ganz in ihrer Nähe, im nächsten oder übernächsten Abteil. Ob er ahnte, dass sie so genau über ihn Bescheid wusste? Sicher nicht... Renée hatte bereits mehrmals überlegt, zu Polizei zu gehen, doch war irgendwie ständig etwas dazwischen gekommen.
Hin und wieder ertappte Renée sich selber dabei, wie sie darüber nachdachte, wer dieser Mann wohl sein mochte und was ihn dazu trieb, sie so zu verfolgen. Wieso trat er nicht direkt in Kontakt mit ihr, sondern hielt sich immer nur in der Peripherie ihres Wahrnehmungsbereichs auf? Natürlich war sie eine Frau des 21. Jahrhunderts - sie wusste, sie würde Fremden, die sie einfach so auf der Straße ansprachen, nicht weiter trauen als sie der miserablen Kochkunst ihres Großonkels traute. Da gingen schöne Worte zu einem Ohr hinein und zum anderen hinaus, und am besten noch unter ihren Absatz, denn da gehörten sie hin. Drauftreten, dass damit auch wirklich Schluss war.
Noch über eine Stunde Zugfahrt. Es kam Renée so vor, als hätte sie mehr als nur die drei Wochen verpasst, die sie im Krankenhaus gelegen hatte. Drei Wochen künstliches Koma, die ihrem Leben eine neue Perspektive wiedergegeben hatten - auch wenn sie nicht ganz sicher war, ob dieser Perspektivenwechsel ihre Zeit nicht beschleunigt anstatt verlangsamt hatte...
Unwillkürlich wanderte Renées Blick nach hinten, als das Quietschen der sich öffnenden Abteiltür alles andere für einen kurzen Moment übertönte. Sie hatte es gespürt noch ehe sie es rational wahrgenommen hatte, warum auch immer - in der Tür stand ihr Stalker. Er sah ein wenig übernächtigt aus, fand sie. Geschah ihm recht. Unter seinen grauen Augen waren Schatten durchwachter Nächte zu sehen - ob er in den frühen Morgenstunden dasaß und manisch Bilder von ihr anstarrte? Bei diesem Gedanken lief Renée ein leichter Schauer über den Rücken. Seine Kleidung war ordentlich, auch wenn sie an ihm ein wenig zu groß erschien - denn trotz seiner durchaus imposanten Körpergröße wirkte er eher hager.
Sein Blick ruhte auf einem Punkt irgendwo zu Renées Füßen, seine Lippen bewegten sich, flüsterten etwas, das Renée nicht verstand.
Es war das erste Mal, dass Renée ihn so ausgiebig und aus der Nähe betrachten konnte, seit sie gemerkt hatte, dass dieser Stalker hinter ihr her war. Die vollen, dunklen Locken, die sein Gesicht umrahmten, standen in starkem Kontrast zu dem bereits an ein paar Flecken ergrauenden, kurzen Vollbart, was seine hellen Augen nur noch leuchtender erscheinen ließ, sowie seinen kantigen Zügen ein wenig von ihrer Strenge nahm. Wie ein Stalker sah er nicht aus, überlegte Renée, doch wer legte schon fest, wie Stalker auszusehen hatten - den wenigsten Verrückten sah man ihren geistigen Zustand an.
Sie wusste, sie würde ihn anschreien, gefälligst aufzuhören und sie in Ruhe zu lassen, als er sich erneut in Bewegung setzte. Sie wusste, sie würde um Hilfe rufen.
Er setzte sich auf den freien Platz neben sie. Kurz hob er seine Arme, als wollte er sie allen Ernstes berühren, seine Arme um sie schlingen. Er ließ sie jedoch gleich wieder sinken, beinahe kraftlos. Er sah sie nicht an. "Renée, bitte... hör auf..."
Renée saß nur da. Und die Zeit beschleunigte noch einmal, zog an ihr vorbei. Sie konnte nur zusehen.
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