Wie die Zeit vergeht, nun haben wir schon fast Weihnachten 2021 und das hier ist mein Beitrag zum diesjährigen Tatort-Adventskalender. Auch diesmal wieder: falls jemand so etwas ähnliches schon mal geschrieben hat, so wusste ich nichts davon und es war nicht meine Absicht, die Idee zu klauen.
Tatort Münster, Romanze, Slash, P16
Warnungen: Nicht nur Fluff. Nicht durchgängig politisch korrekt.
Quarantäne
Das Klingeln seines Telefons weckte Thiel, der gerade dabei gewesen war, vom gelangweilten Fernsehen auf der Couch in ein Nachmittagsschläfchen überzuwechseln. Mühsam rappelte er sich auf und nahm den Hörer ab.
„Herr Thiel?“ klang es fragend am anderen Ende.
„Ja.“
„Bitte antworten Sie in vollständigen Sätzen, damit ich Sie identifizieren kann.“
Thiels Hand klammerte sich fester um den Telefonhörer. „Hier ist Kriminalhauptkommissar Frank Thiel.“
„Wie geht es Ihnen heute?“
„Genauso wie die letzten zwölf Mal, als Sie mich das gleiche gefragt haben.“
„Also keine Symptome?“
„Nein.“
„Möchten Sie sonst gerne mit mir über etwas reden?“
„Nein.“
„Gut, Herr Thiel, dann noch einen schönen Tag, wir hören uns.“
Thiel legte auf. Einen schönen Tag? Vielleicht für den Mann vom Gesundheitsamt, der spätestens in einer Stunde seinen Stift fallen lassen und das Büro verlassen würde. Hinausgehen würde in den kalten Winterabend, mit klarer Luft und vielleicht sogar mit ein paar feuchten Schneeflocken im Gesicht. Der zu seiner Familie nach Hause gehen würde oder zu seinen Kumpels in der Eckkneipe auf einen Feierabendschnaps.
Thiel trat ans Fenster. Es wurde schon dunkel, wie üblich zu dieser Jahreszeit. Von Schnee war noch nichts zu sehen, aber die Wolken machten einen vielversprechenden Eindruck. Er öffnete das Fenster. Das half ihm oft dabei, der Enge der vier Wände seiner Wohnung zu entkommen. Er lehnte sich vor und atmete die kalte Luft tief ein. Das war etwas besser, aber nicht genug. Die klamme Eintönigkeit seines Wohnzimmers schien sich von hinten an ihn zu drücken. Mühsam unterdrückte er ein Schluchzen. Jetzt bloß nicht reinsteigern. An etwas anderes denken.
Aber an was? Seit fast zwei Wochen hatte er keinerlei Kontakte zur Außenwelt, abgesehen von einem frustrierenden Telefonat mit seinem Vater, der sich trotz Pandemie irgendwo in der Weltgeschichte rumtrieb. Ansonsten bestand sein Leben hauptsächlich aus dem Hin- und Herzappen zwischen Fernsehprogrammen, die seltsamerweise alle das gleiche zu berichten schienen. Der Höhepunkt seines Tages war die Entscheidung, welche Dose es zum Mittagessen geben würde.
Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er im Büro Bescheid gesagt hätte. Aber zunächst hatte es wie ein Glücksfall gewirkt, dass die Quarantäne in seinen Urlaub fiel. Eine Vertretung kümmerte sich um seinen Job, keiner machte sich unnötig Sorgen und nervte ihn mit überflüssigen Anrufen. Erst nach ein paar Tagen ging Thiel auf, dass ein gewisses Maß an Sorgenmachern ihn vielleicht von seinem Allein- und Eingesperrtsein abgelenkt hätte. Und frisches Obst wäre auch mal wieder nicht schlecht. Aber sollte er jetzt andere Leute anbetteln, damit sie für ihn einkaufen gingen? Er war doch kein Invalide. Wenn, dann wäre sein Nachbar Boerne die logische Wahl gewesen. Aber der hatte sicher besseres zu tun. Weihnachtskonzerte besuchen. Oder mit seinem Schlitten die Vertretungskommissarin beeindrucken. Wer weiß, ob ihm mit Frau Waldmeyer das Ermitteln nicht viel mehr Spaß machte.
Thiel verdrehte die Augen bei dem Gedanken. Er war wirklich pathetisch. Wen interessierte, mit wem Boerne durch die Gegend fuhr. Immerhin hatte der Gedanke an den unmöglichen Mann ihn etwas aus seiner bedrückten Stimmung herausgeholt. Er ging zurück ins Wohnzimmer und machte es sich auf der Couch mit einem Sudoku-Heft bequem. Lange konnte ihn das Rätsel jedoch nicht fesseln. Genervt warf er es auf den Tisch. Es war alles so sinnlos. Er wollte endlich raus hier! Fälle lösen. Glühwein trinken. Mit dem Rad durch die Stadt fahren. Irgendwas, nur raus aus den vier Wänden.
Thiel ging zurück ans Fenster und begann die vorbeieilenden Leute zu beobachten. Die meisten waren allein und hatten eine Maske auf. Da war aber auch ein älteres Paar, das Händchen hielt und sich angeregt zu unterhalten schien. Er seufzte. Wie lange war es her, dass er in einer funktionierenden romantischen Beziehung gelebt und diese Art Nähe genossen hatte? Es lohnte gar nicht nachzurechnen, er war auch so schon depressiv genug.
Plötzlich machte er eine vertraute Gestalt auf der anderen Straßenseite aus. Die selbstbewusste Körperhaltung und der teure Anzug, das konnte nur einer sein… schnell versuchte Thiel sich wegzuducken, aber Boerne hatte ihn schon entdeckt. Der andere hob gewohnheitsmäßig die Hand zum Gruß, einen Moment später aber überzog Verwunderung sein Gesicht. Thiel versuchte ihm zu signalisieren, dass alles seine Ordnung habe, war aber offenbar nicht erfolgreich damit, denn Boerne ging nun deutlich schnelleren Schrittes auf den Hauseingang zu.
Thiel stöhnte. Das konnte nur eins bedeuten. Und wirklich klingelte es wenige Sekunden später an seiner Haustür. Als er nicht sofort reagierte, begann Boerne auch schon durch die Tür zu rufen: „Herr Thiel, ist alles in Ordnung? Sollten Sie heute nicht eigentlich in… Moment… Frankfurt sein?“
Thiel war beeindruckt. Ja, er hatte Boerne bei einem ihrer Kochabende erzählt, dass er in seinem Urlaub zu einem Fußballspiel in Frankfurt fahren und dort alte Freunde treffen wollte. Aber sie waren beide schon ziemlich angeheitert gewesen zu dem Zeitpunkt und Boerne interessierte sich eigentlich kein Stück für Fußball. Darum wusste er natürlich auch nicht, dass das Spiel sowieso ausgefallen war wegen der Pandemie.
Boerne war offensichtlich nicht begeistert von seinem fortgesetzten Schweigen. „Thiel, es wäre wirklich nett, wenn Sie die Tür öffnen und meine Fragen beantworten würden. In meiner Eigenschaft als Vermieter verlange ich…“ Oh bitte, nicht die Nummer. Thiel riss sich aus seiner Grübelei und stellte sich direkt hinter die Tür, um nicht schreien zu müssen. „Keine Sorge, Herr Vermieter, die Wohnung steht noch und alles andere geht Sie, gelinde gesagt, einen Dreck an!“
Im nächsten Augenblick bereute er seine Wortwahl, was war nur mit ihm los? Es fühlte sich an, als würde er Boerne insgeheim Vorwürfe machen. Weil diesem angeblich hochintelligenten Mann erst nach fast zwei Wochen auffiel, dass Thiel in seiner Wohnung eingesperrt vor sich hin vegetierte. Dabei hatte Thiel selbst dafür gesorgt und sich möglichst unauffällig verhalten, sogar abends das Licht ausgeschaltet. Er wollte kein Mitleid, schon gar nicht von Boerne. Was er von ihm wollte, war… gar nichts. Genau.
Boerne schwieg, was nie ein gutes Zeichen war. Schließlich räusperte er sich und sagte mit angesäuerter Stimme: „Wenn Sie Besuch haben und nicht gestört werden wollen, können Sie das auch freundlicher sagen und mir dabei ins Gesicht sehen. Aber gut, ich habe verstanden und belästige Sie nicht mehr mit meiner Anwesenheit!“
„Sehr gut!“ rief Thiel zurück. Er hörte Boernes wütende Schritte und das Knallen der Wohnungstür. Thiel lauschte noch mehrere Minuten, aber es war nichts mehr zu hören. Die Stille der letzten Tage holte ihn wieder ein, und wenn er vorher geglaubt hatte, sich nicht noch einsamer fühlen zu können, wurde er nun eines Besseren belehrt.
***
Der nächste Morgen war der schlimmste bisher. Thiel lag in seinem Bett und konnte sich partout nicht aufraffen aufzustehen. Die ersten beiden Male, als er aufgewacht war, gegen 7 und dann gegen 10 Uhr, hatte er sich einfach auf die andere Seite gedreht und weitergeschlafen. Aber nun war es schon nachmittags und er fühlte sich zwar immer noch schlapp, aber nicht müde genug, um sich wieder in den Schlaf zu retten. Er hörte das Telefon und ignorierte es. Eine Weile später klingelte es an der Tür, doch auch das brachte ihn nicht dazu, das Bett zu verlassen. Wozu reagieren? Er durfte sowieso niemanden reinlassen.
Thiel war gerade dabei, sich in eine bequemere Position zu drehen und es nochmal mit dem Einschlafen zu versuchen, als er plötzlich hörte, wie sich ein Schlüssel in seiner Wohnungstür drehte und diese aufging. Mit einem Satz sprang er aus seinem Bett und rannte zum Flur. Wer brach da am helllichten Tag in seine Wohnung ein? Gut, wenn ein Einbrecher davon gehört hatte, dass er eigentlich im Urlaub war, nahm er das vielleicht als Einladung… wobei es schon ziemlich frech (und dumm) war, bei einem Kriminalkommissar einzubrechen.
Im Flur angekommen, sah er den Übeltäter. Boerne hängte gerade seelenruhig seine Jacke an der Garderobe auf. Natürlich, der Herr Vermieter. Das Adrenalin ließ nach und kurzfristige Erleichterung ging in Ärger über. „Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind, Boerne? Nur weil Sie einen Ersatzschlüssel haben, dürfen Sie nicht einfach in meine Wohnung spazieren, wenn es Ihnen gefällt!“
Boerne drehte sich zu ihm um und musterte Thiel schweigend von oben bis unten. Diesem wurde unangenehm bewusst, dass er nur in Unterhose und St. Pauli-Shirt herumstand. Aber war das vielleicht seine Schuld? Wütend setzte er seine Tirade fort: „Außerdem dürfen Sie meine Wohnung gar nicht betreten, ich bin…“
„...in Quarantäne?“ ergänzte Boerne und setzte mal wieder diesen Gesichtsausdruck auf, als hätte er etwas ungemein Schlaues gesagt, das die Welt retten würde. Man musste schon sehr betrunken sein, um diese Miene attraktiv zu finden. Jetzt gerade fand Thiel sie einfach nur nervtötend. „Woher wissen Sie denn das schon wieder auf einmal?“ Boerne zuckte arrogant mit den Schultern. „Wir Mediziner, wozu ich im weitesten Sinne auch Mitarbeiter des Gesundheitsamtes zähle, sind eben ein geselliges Volk, das sich untereinander austauscht.“
„Soviel zum Thema Datenschutz.“ grummelte Thiel. „Wie auch immer, Professor, Sie dürften nicht hier sein und wir können beide riesigen Ärger bekommen, wenn Sie nicht sofort gehen.“ Insgeheim fühlte er sich zunehmend besser, nun wo er Gesellschaft hatte. Aber so ging das ja nun auch nicht. Er hatte sich nicht die ganze Zeit an die Regeln seiner Einzelhaft gehalten, nur um zum Schluss doch noch negativ aufzufallen. Und wenn zwei hohe Beamte wie sie beim Quarantänebruch erwischt wurden, konnte das durchaus sogar politische Dimensionen annehmen.
Boerne schien das alles nicht zu kümmern. Er ging in die Küche, schüttete den Inhalt einer Tüte vom Bäcker in eine Schale und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. „Fühlen Sie sich ruhig wie zu Hause“ kommentierte Thiel sarkastisch, ohne eine Reaktion zu bekommen. Er war es zwar gewohnt, dass sich Boerne gern wie der Hausherr aufführte, wenn er bei ihm zu Besuch war, aber in dieser Situation wirkte sein Verhalten doch ziemlich fehl am Platze. Offenbar war mit ihm auch nicht zu reden, bis er fertig war mit seinen Küchenaktivitäten. Resigniert, und mehr als ein bisschen erleichtert, nicht sofort wieder allein zu sein, ging Thiel ins Schlafzimmer und zog sich eine Jogginghose über.
Plötzlich hörte er wieder das Telefon klingeln. „Nicht rangehen, Boerne, es ist bestimmt…“ Aber schon hörte das Klingeln auf und Boerne begann zu sprechen. „Oh nein.“ stöhnte Thiel. Wieso benahm der andere sich heute nur so unglaublich ignorant? Selbst für seine Verhältnisse ging das deutlich zu weit. Zumal es hier auch um Boernes Karriere und Ruf ging, also Dinge höchster Wichtigkeit.
Er rannte ins Wohnzimmer, wo Boerne gerade den Hörer auflegte. „Was… zum Teufel… ist mit Ihnen los?!“ schrie Thiel ihn an. „Das hätte das Gesundheitsamt sein können und dann…“
„Es war das Gesundheitsamt.“ antwortete Boerne ruhig und wollte sich gerade wieder in die Küche verdrücken, als sich ihm Thiel resolut in den Weg stellte. „Es reicht, Boerne. Sie verheimlichen mir doch was. Haben Sie irgendwas gedreht, den Mann bestochen oder erpresst oder was?“ Gott, dann saßen sie wirklich tief in der Scheiße.
Nun sah Boerne beleidigt aus. „Natürlich nicht, Thiel. Ich habe einfach heute Vormittag das Amt aufgesucht und klargestellt, dass wir Lebenspartner mit einem gemeinsamen Haushalt sind und ich nur auf Dienstreise war die letzten Tage. So darf ich hier wohnen, auch wenn wir natürlich Abstand halten sollten. Es bedurfte etwas Überzeugungsarbeit, weil ich in der Wohnung nebenan gemeldet bin, aber ich konnte den Herrn glauben machen, dass wir das Getrenntleben nur vortäuschen, um ein ungewolltes Outing zu vermeiden. Er hatte da durchaus Verständnis, weil sein Bruder auch homosexuell ist und…“
Während Boerne weiter ausholte beim Erklären seiner Heldentat, starrte Thiel ihn mit geöffneten Mund an. Der Mann hatte sich als schwul ausgegeben, nur um ihm Gesellschaft zu leisten? Das war absurd. „Warum, Boerne??“ unterbrach er schließlich den Redefluss des anderen.
Boerne zögerte mit der Antwort, plötzlich etwas verlegen. „Sie wirkten, als würde es Ihnen nicht gut gehen. Als Sie da am Fenster standen.“ sagte er schließlich.
Thiel schluckte. Er wusste natürlich, dass Boerne tief drin Freundschaft für ihn empfand, auch wenn sie grundverschieden waren und sich oft stritten. Schließlich empfand er genauso. Aber dass Boerne mit einem Blick erkannt hatte, wie schlecht es ihm ging, dass er die Gründe dafür erriet und sich selbst vor einem Fremden bloßstellte, um ihm zu helfen… Etwas wallte in Thiel auf, eine Mischung aus Dankbarkeit und Zärtlichkeit, die ihn überwältigte. Er umarmte Boerne und klammerte sich an ihm fest. Als der andere Mann vorsichtig seine Arme um ihn schlang, begann Thiel zu seinem eigenen Entsetzen leise zu weinen. Es war alles zu viel, die letzten Tage der absoluten Einsamkeit und nun das genaue Gegenteil davon.
Boerne hielt ihn im Arm und strich ihm über den Rücken, bis sich Thiel etwas beruhigt hatte. „Ich schlage vor, dass Sie jetzt erstmal duschen und wir danach etwas essen.“ sagte er schließlich in seinem üblichen Bestimmer-Tonfall. Siedend heiß fiel Thiel ein, dass er die letzten Tage wohl etwas nachlässig mit der Hygiene gewesen war. Er gab ein zustimmendes Geräusch von sich und stürmte ins Bad.
Die heiße Dusche kurz danach tat Thiel gut, obwohl ihm immer wieder die Tränen in die Augen traten, wenn er an den Moment zuvor dachte. Für einen erwachsenen Mann benahm er sich heute wirklich übermäßig emotional. Peinlich. Aber er konnte sich nicht dazu bringen, wieder alles in sich reinzufressen, auf Distanz zu Boerne zu gehen. Wenn die letzten Tage ihn etwas gelehrt hatten, dann, dass er kein Einzelgänger war, der problemlos auf menschliche Nähe verzichten konnte.
***
Als Thiel in die Küche kam, hatte Boerne den Tisch fertig gedeckt und sie ließen es sich zusammen schmecken. Es gab eine bunte Mischung aus dem Angebot der nahegelegenen Bäckerfiliale einschließlich eines frischen Salates, auf den sich Thiel untypischerweise als erstes stürzte. Boerne lächelte bei dem Anblick und sagte: „Einkaufen bei Edeka habe ich leider nicht mehr geschafft, aber wie ich sehe, kommen wir auch so zurecht.“ Warum er es so eilig gehabt hatte, in Thiels Wohnung zu gelangen, dass die Zeit zum Supermarktbesuch fehlte, erklärte er nicht und Thiel wagte es nicht nachzufragen.
Danach begann Boerne, über die Ereignisse der letzten Woche in der Gerichtsmedizin zu berichten. Es tat unheimlich gut, seine Stimme zu hören. Er gestikulierte beim Erzählen und seine Augen leuchteten. Auch wenn manches eher unappetitlich war, was er sagte, machte das doch seine Begeisterung für das Thema problemlos wett. Thiel mochte Menschen, die ihre Arbeit gern taten und ihr mit Leidenschaft nachgingen. Er mochte Menschen, die intelligent und selbstbewusst waren und Ausstrahlung hatten. Kurz gesagt: er mochte Boerne.
Das war eigentlich nichts neues, aber die Intensität der Empfindung überraschte Thiel. Sonst war seine Zuneigung meistens verborgen geblieben unter einem Wust von anderen, teilweise negativen Empfindungen, die Boerne in ihm auslöste wie Irritation, Ärger oder manchmal auch Neid. Nachdem er nun so eindringlich die fürsorgliche Seite des Mannes kennengelernt hatte, traten diese Dinge in den Hintergrund. Natürlich war Boerne immer noch Boerne und Thiel zweifelte keinen Moment daran, dass der Professor ihm auch weiterhin in manchen Situationen gewaltig auf die Nerven gehen würde. Aber seine Wahrnehmung von ihm hatte sich verändert.
Sie verbrachten den Tag gemeinsam mit Erzählen, Essen und Gesellschaftsspielen. Abends saßen sie vor dem Fernseher und sahen sich zusammen einen Krimi an. Es war lächerlich, wie unrealistisch sich die Fernsehkommissare benahmen und Boernes trockene Kommentare brachten Thiel mehrfach zum Lachen.
Später, als Boerne sich ins Schlafzimmer zurückgezogen hatte - es war leicht gewesen, ihn davon zu überzeugen, dass ihm als Gast das bequeme Bett zustand - lag Thiel im Dunkeln auf der Couch im Wohnzimmer und dachte über den Tag nach. Für Stunden hatte er völlig vergessen, dass er er in seiner Wohnung eingesperrt war und das war allein der Verdienst seines Freundes. Und nun… was? Fühlte er sich einsam? Albern. Er schlief seit vielen Jahren allein, da würde ihn die eine Nacht nicht umbringen. Und überhaupt, was wollte er denn noch von Boerne, Kuscheln? Die Vorstellung war, nunja… zumindest gewöhnungsbedürftig. Wenn auch nicht ganz so unmöglich, wie es ihm noch gestern erschienen wäre.
Fast eine Stunde wälzte sich Thiel schlaflos auf der Couch hin und her, bis er genug hatte. Er stand auf und ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Das Trinken lenkte ihn etwas ab von seinem Dilemma, aber danach blieb alles beim alten: er konnte einfach nicht einschlafen. Ob es nun an der unbequemen Couch lag, an seinem ausgiebigen Schlaf der letzten Nacht oder etwas ganz anderem, blieb unklar. Schließlich gab er auf und griff nach der Fernbedienung, um sich etwas abzulenken.
Plötzlich hörte er ein Geräusch im Schlafzimmer. Konnte Boerne auch nicht schlafen? Vielleicht könnten sie dann zusammen… oh bitte, lass doch den armen Mann in Ruhe, dachte Thiel bei sich, hat er heute nicht schon genug für dich getan?
Aber er kam einfach nicht gegen den Drang an aufzustehen und nach dem Rechten zu sehen. Leise ging er zum Schlafzimmer, öffnete die Tür und sah hinein. Das Licht war angeschaltet. Boerne hatte es sich im Bett bequem gemacht und hielt ein Buch in der Hand, das ihn ziemlich zu fesseln schien. Er blickte auf und sah ihn überrascht an. „Thiel, was ist los? Warum schlafen Sie nicht?“
Thiel fielen nur absurde Antworten ein wie „Es ist so einsam auf der Couch“ und das konnte er nicht bringen. Stattdessen zuckte er nur mit den Schultern.
Eine Weile sahen sie sich schweigend an und Thiel wurde mit jeder Sekunde nervöser. Was zum Geier tat er hier, mitten in der Nacht? Im Gegensatz zum eleganten Seidenschlafanzug seines Kollegen trug er ein ziemlich altes Modell, das zwar immer noch besser war als seine sonst übliche Aufmachung, aber sicherlich nicht besonders attraktiv wirkte. Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg und war gerade dabei die Tür zu schließen, als Boerne sein Buch zur Seite legte und leise sagte: „Komm her.“
Wie in Trance ging Thiel hinüber zum Bett und setzte sich auf die äußerste Kante. Passierte das alles grade wirklich oder war es nur ein skurriler Traum? Die warme Hand, die Boerne auf sein Knie legte, fühlte sich jedenfalls ziemlich real an.
„Also was ist los?“ fragte Boerne noch einmal, in verändertem Tonfall. Er sah besorgt aus, aber in seinen Augen tanzte auch ein Verlangen, eine Sehnsucht, die unübersehbar war. Und Thiel antwortete: „Es war so einsam auf der Couch“. Boerne lächelte. Er zog Thiel zu sich herunter und der Kuss, der dann folgte, war intensiver als alles, was er je erlebt hatte.
Kurz danach drückte Boerne Thiel resolut auf das Bett, so dass er auf dem Rücken zu liegen kam, und begann sich an seinem Körper entlang zu küssen. Mit dem altmodischen Schlafanzug wurde dabei kurzer Prozess gemacht. Nicht, dass Thiel noch groß dazu gekommen wäre, sich Gedanken über sein Aussehen zu machen. Einmal losgelassen, kannte Boerne offensichtlich keine Hemmungen und gab genauso freizügig, wie er sich nahm, was er brauchte.
Als Boerne später schlief, einen Arm besitzergreifend über die Brust seines Partners geworfen, lag Thiel noch eine ganze Weile wach und dachte über diese neue Entwicklung nach. Seine Welt war auf den Kopf gestellt und die Zukunft sah plötzlich viel rosiger aus. Mit einem Mann wie Boerne an seiner Seite konnte man wohl alles durchstehen. Oder sollte er ihn jetzt Karl-Friedrich nennen? Daran müsste er sich aber erst gewöhnen. Mit einem Lächeln im Gesicht schlief er schließlich ein.
***
Zwei Tage später fuhren Boerne und Thiel zusammen aus der Stadt und unternahmen einen langen Spaziergang durch den Winterwald. Die kalte, klare Luft wehte Thiel Schneeflocken ins Gesicht und übermütig versuchte er, sie mit dem Mund aufzufangen. Er schlitterte über zugefrorene Pfützen und genoss jede Sekunde seiner neu gewonnenen Freiheit. Boerne sah ihm dabei mit zärtlicher Nachsicht kopfschüttelnd zu, bis er einen Schneeball ins Gesicht bekam und die Schlacht begann.
Es hätte alles perfekt sein können, aber ein Gedanke ließ Thiel nicht los, während sie auf dem Rückweg zum Auto waren. „Boerne“ sagte er - und nein, er hatte sich noch nicht an „Karl-Friedrich“ gewöhnt und war unsicher, ob das je passieren würde. Boerne wandte sich zu ihm. „Ja?“ Sein Gesicht war so offen und zugewandt, dass es Thiel den Atem raubte und er am liebsten einfach das Thema fallen gelassen und sich ganz in ihrer neuen Beziehung verloren hätte. Aber es half ja nichts, es lag ihm zu sehr auf der Seele.
„Als du zu mir gekommen bist in der Quarantäne, was wäre gewesen, wenn ich mich infiziert und dich angesteckt hätte? Ich hätte schuld sein können daran, dass du krank wirst oder sogar schlimmeres. Ist ja nicht gerade so, als hätten wir Abstand voneinander gehalten.“ versuchte er zuletzt seinen Worten etwas das Gewicht zu nehmen.
Boernes Miene war jedoch ernst geworden. Er schien erst nicht antworten zu wollen, entschloss sich dann aber doch dazu. „Nun, es war ja nicht das erste Mal, dass wir Risiken füreinander eingehen, oder?“ Thiel erinnerte sich an all die Situationen im Beruf, wo Boerne ihm beigestanden hatte und umgekehrt, oft unter Einsatz ihres Lebens. Er nickte, auch wenn er sich nicht ganz sicher war, ob man das vergleichen konnte. War sein seelisches Wohlbefinden diesen Einsatz wirklich wert?
„Natürlich habe ich vorher berechnet, wie hoch das Risiko einer Ansteckung ist.“ erklärte Boerne weiter.
„Natürlich.“ stimmte Thiele schmunzelnd zu. „Und was kam dabei heraus?“
„Da du auch nach einer Woche noch keine Symptome gezeigt hast und nur kurzen Kontakt zu dem Infizierten hattest laut Gesundheitsamt, lag die Wahrscheinlichkeit bei circa 0,037 Prozent.“
Das war wirklich nicht viel, dachte Thiel erleichtert, obwohl er immer noch ein schlechtes Gewissen hatte, Boerne überhaupt irgendeiner Gefahr ausgesetzt zu haben.
Plötzlich nahm Boerne ihn in den Arm und flüsterte in sein Ohr: „Egal was die Rechnung ergeben hätte, ich wäre auf jeden Fall zu dir gekommen.“
Damit endete das Gespräch abrupt und da waren nur noch zwei Männer im Schnee, die sich küssten.