Einer flog über das Kuckucksnest für die Hipster-Generation:
Drei junge Menschen, als elitäre Hoffnungsträger ihrer Altersklasse allesamt erfolgreich durch alle nur erdenklichen Mühlen der bildungslandschaftlichen Exzellenzinitiative hindurchgedreht und unterdessen auf dem besten Wege zur normierten Bilderbuch-Karriere, treffen am schwindelerregenden Abgrund einer effizienzgemanagten, profithungrigen Konsum- und Leistungshölle unverhofft aufeinander.
Da ist zum einen der stromlinienförmige Schwerenöter Thorsten Kühnemund, seines Zeichens ambitionierter Manager für einen Mineralölkonzern, der unermüdlich vorgibt, sein hedonismusersäuftes und den Lifestyle-Magazinen dieser Welt entsprungenes Leben in vollen Zügen zu genießen. Dem stets verdrängten Entfremdungs-Störgeräusch am äußersten Rande seines Bewusstseins versucht er indes vergebens und zunehmend zwanghaft mit orgiastischen Exzessen, schnellem Sex und Alkohol in rauen Mengen zu jeder Tages- und Nachtzeit zu Leibe zu rücken.
Mit von der Partie ist außerdem auch noch die Juristin Laura, Kühnemunds melancholische Lebensgefährtin, eine diaphane Schönheit, die heimlich von der Geburt einer neuen, androgynen und edleren Menschengattung träumt; von Menschen, „die in Haikus reden. Oder wie Blumfeld, in gebrochenen Versen, von Liebe und Protest.“ Und während „Kaskaden von Leere“ durch ihre Brust stürzen, während die stofflich spürbare Stille ihrer um jedes Gefühl betrogenen Wirklichkeit sie zusehends zu ersticken droht, avanciert die Selbstverletzung für Laura schon bald zum einzigen, noch nicht versperrten Hintertürchen, das ihr einen letzten, unverfälschten Zugang zum Ich ermöglicht.
Vervollständigt wird das seelenversehrte Dreigestirn zuletzt von Magnus Taue, einem sensiblen und hochintelligenten Schöngeist, der zugleich auch der heimliche Held des Romans ist. Einmal durchs gefräßige Räderwerk der wuchernden Kreativ-Kulturindustrie hindurchgejagt, bloß um sich und die einst hehren Künstler-Träume ausgespien und zerschlagen als verdaute, nicht mehr länger benötigte Hinterlassenschaften wieder vorzufinden, verabscheut er seinen Journalisten-Job als „Worthure“ der großen Konzerne seither mit still-entschlossener, fast schon paranoid anmutender Wut; - bis der unnachgiebige Würgegriff eines akuten Psychoseschubs seine Rebellion vorübergehend vereitelt.
Im Auffangbecken des beschädigten Lebens, der geschlossenen Station einer psychiatrischen Klinik, begegnen sich die drei zuletzt wieder - und schmieden von da an gemeinsam Pläne für eine fulminante, noch nie da gewesene Revolution der Entmündigten und Marginalisierten.
Wollte man den Deleuzeschen Anti-Ödipus oder Marcuses Eindimensionalen Menschen in vibrierende, hochexplosive Erzählprosa verpacken, könnte es sich womöglich so anhören.
Thomas Melle liefert mit seinem vielbejubelten Debütroman
Sickster jedenfalls die bewegende und dabei doch nie rührselige Psycho-Chronik eines schleichenden, aber absehbaren Kollapses, eines tückischen Infarktes, der sich mitten im Hochleistungsherzen des kapitalistischen Schlaraffenlandes ereignet.
Doch wer nun mit den Augen rollend aufstöhnt und glaubt, Melle souffliere dem Leser hierbei allein ideologieverblendete, bloß monokausal argumentierende Systemkritik, der irrt gewaltig. Ganz im Gegenteil belässt Melle es in angenehmer Vagheit, wie sich das Verhältnis von Ursache und Wirkung denn nun genau gestaltet. Ist es die neoliberale Ellenbogenmentalität, die die Entstehung verschiedenartigster Psychopathologien provoziert oder ist es gar der neurotische Wiederholungszwang selbst, der überhaupt erst jene benötigten Produktivkräfte freisetzt, die die Basis der kapitalistischen Ökonomik bilden?
Melle gibt keine eindeutigen Antworten hierauf. Stattdessen führt er den Leser neutral, fast schon indifferent und durchweg ohne den moralisch erhobenen Zeigefinger zu rühren, durch die Dioramen seines literarischen Patchworks, wo er als stets zurückhaltender Voyeur, als aufmerksamer Beobachter und Dokumentator hinter den Kulissen seine Protagonisten durch alle intimsten Höhen und Tiefen begleitet. Zuweilen begnügt er sich gar gänzlich mit der Rolle des stimm- und gesichtslosen Herausgebers, der lediglich E-Mails, Tagebucheinträge, Chat-Dialoge oder transkribierte Diktiergerät-Aufzeichnungen weiterreicht, die seine Hauptfiguren hinterlegt haben.
Und Melle erweist sich in all dem als wahrer Wortmagier des Hermetischen. Wenn er davon erzählt, wie das Leben seiner Akteure Tag um Tag mehr verflacht und sich selbst die persönlichsten Gemütsbewegungen peu à peu als vorgefertigte Schablonen und fremdkonzipierte Fließbandware entpuppen, wenn der „Krebs des Verstehens“ allerorten seine Metastasen zu streuen beginnt und Melle seine dekonstruierten Irrfahrer auf ihren halluzinatorischen Trips mit den Dämonen der Städte Bekanntschaft schließen lässt, dann knistert seine Sprache wie ein synaptisches Wetterleuchten, ja, wie ein neurasthenisches Feuerwerk am bedeckten Nachthimmel des Unbewussten.
Seine Diktion durchdringt dabei fortlaufend eine ungewöhnlich beklemmende, sehr organische Metaphorik, die nicht nur permanent für ein surreales, untergründiges Schwelen und Brodeln sorgt, sondern mancherorts sogar manifeste und geradezu sich eruptiv entladende Body Horror-Elemente in die sprachliche Textur einwebt.
Fazit:
Thomas Melles Sickster ist das ernüchternde diagnostische Sittengemälde einer materiell saturierten, hyperbeschleunigten und doch zugleich abstoßend ennuyierten Postmoderne, das mit einer unvergleichlichen Sprache von urgewaltig-origineller Expressivität aufzutrumpfen versteht und sich dank seiner fraktalen Collagenstruktur passagenweise genau so klaustrophobisch liest und anfühlt, wie die dissoziativen Delir-Zustände, die es in eindringlichen, aber nie sentimentalen Worten beschreibt.
Nichts für schwache Nerven, aber dennoch definitiv ein Roman, der zu meinen persönlichen Lese-Geheimtipps der vergangenen Monate zählt und 2011 auch völlig zu Recht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises landete.
Einen geringfügigen Punktabzug gibt es allerdings für das zwar folgerichtige, aber dennoch leicht enttäuschende und etwas zu abrupte Ende, das meines Erachtens einfach nicht so recht zu Melles sonst durchaus wohlgetaktetem Erzählrhythmus passen will.
Gesamtwertung daher: 4,5 von 5 Sternen
Teresa Maienschein
Thomas Melle: Sickster
19,95 Euro (Hardcover)
336 Seiten
Rowohlt Berlin; 2. Auflage 2011
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3871347191