... Neben dem synergetischen Konstruieren und dem experimentellen syntopischen Forschen verkörpert das geistige Tun den dritten Schauplatz der Synergie in der Kunst. Der Moskauer Künstler Gor Čachal (*1961) knüpft an das synérgeia-Verständnis der Ostkirche an, demzufolge menschliche und göttliche Energien im Heilsprozess interagieren und der Mensch, der paulinischen Tradition folgend, synergós, Gottes Mitarbeiter und Helfer ist (I Kor 3,9). In seinen Arbeiten setzt sich Čachal mit der mystischen Tradition des Hesychasmus 24) byzantinischer und slavisch-orthodoxer Mönche und insbesondere mit dessen Theologen Gregorios Palamas (anfang 14. Jh.) auseinander, der das Licht in das Zentrum theologischen Denkens stellte.
In der Videoinstallation „Der Name Gottes“ aus dem Zyklus „Die Sonne des Wahren, des Guten und des Schönen“ von 2003
(Abb.9) leuchten hundert Anrufungen des Namen Gottes (Vater, Schild, Geist, Mächtige, Der Unsichtbare, Feuer Essender, Herz schauende, Der Lebende, Befreier, Hirte, Beschützer, Herrscher, Gericht, Frieden, Liebe, Schöpfer, Licht usw.) in unterschiedlichen Größen auf, überblenden einander, verschwinden wieder. Bei dieser dynamischen Topographie der Gottesnamen handelt es sich um die Verbildlichung der Namensverehrung (Onomatodoxie, russisch: imjaslavie)25) in der Tradition des Hesychasmus. Die Anrufung Gottes im Gebet ist das „geistige Tun“ der Mönche, eine Übung, die sie zur ekstatischen Schau Gottes führen soll. Čachals Installation betont durch die Überblendungen der feuerroten Worte die Idee einer einzigen Energie, die durch die unzähligen Namen Gottes hindurchfließt.
Das Gebet, sprachlich-physikalischer Ausdruck und Ort der Innenschau im Prozess der Selbsttransformation, ist auch Gegenstand der Installation „Stupeni/Stages“ von 2005
(Abb.10). Auf einer Projektionsfläche erscheinen mittels Flash-Animationstechnik die Worte des Trisagion (von griechisch τρις dreimal und αγιον heilig), einer der ältesten christlichen Hymnen, die noch heute in der orthodoxen Kirche verbreitet ist: „Heiliger Gott, Heiliger Starker, Heiliger Unsterblicher, erbarme Dich unser“ (russisch: „Святый Боже, Святый Крепкий, Святый Бессмертный, помилуй нас“). Während diese Formel im Gebet dreimal wiederholt wird, interagieren in Čachals „visueller Interpretation“26) des Transformationsraums, der sich dem Menschen durch das Gebet öffnet, drei übereinander angeordnete spiralförmig rotierende Flächen konzentrischer Kreise. Der innere Blick des Betenden wird in der Installation nach außen gekehrt, die Aufmerksamkeit des Betrachters konzentriert sich auf die (hypnotisierende) Rotationsbewegung der Kreise, die sich zum aufleuchtenden Kreismittelpunkt hin verengen. Letzterer symbolisiert den Höhepunkt des hesychastischen Gebets: die Schau des Taborlichts, eine Lichtvision des an der göttlichen Gnade Teilhabenden. Die vertikale Anordnung der Gebetskreise versinnbildlicht dabei das innere Prinzip des Gebets als Prozess des geistigen Aufstiegs, d.h. die Stufen der Himmelsleiter auf dem Weg zum Absoluten, zu Gott.
Čachals Medienkunst nimmt eine Mittlerrolle zur religiösen Praxis ein. Doch die unkonventionellen Interpretationen religiös-metaphysischer Konzepte und Praktiken der Verklärung, Verwandlung und Transformation des Menschen, die auf dem Zusammenwirken menschlicher und göttlicher Energien beruhen, werden in konservativen Kreisen der russischen Orthodoxie kritisch betrachtet.27) Denn die mediale Produktion technisiert das mystische Erleben der synergoi, das aus dem menschlichen Streben nach dem Einswerden mit dem Göttlichen erwächst. Mehr noch: Sie durchkreuzt die Sprache der Theologie und Inszenierungsformen der Kirche in der postsäkularen Gesellschaft.
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