Ein ganz besonderer Fall (Adventskalender: 11. Dezember)

Dec 11, 2011 04:15


Genre: Humor, h/c
Rating: P12
Wörter: ca. 3500
Kurzinhalt: Boerne schleppt Thiel auf einen abenteuerlichen Ausflug mit Folgen.
Beta: joslj (Vielen lieben Dank dafür!)
Disclaimer: Die Charaktere des Tatort Münster gehören nicht mir, sondern der ARD. Ich ziehe keinerlei finanziellen Nutzen aus der Geschichte.

Ich hoffe, ihr habt Spaß beim Lesen und wünsche euch allen einen schönen 3. Adventssonntag :)

Ein ganz besonderer Fall

An Thiels Wohnungstür klingelte es Sturm. Der Kommissar, der es sich gerade auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte, stöhnte auf. Das konnte ja nur einer sein, der da läutete. Er zog seine St. Pauli-Fleecedecke über den Kopf und stellte sich tot.

Allerdings hätte er nach all den Jahren eigentlich wissen müssen, dass dies absolut nichts nützen würde. Stattdessen wurde jetzt lauthals an die Tür geklopft, und eine vertraute Stimme rief: „Ich weiß, dass Sie da sind, Thiel - machen Sie auf!“

Thiel seufzte. Als nun jedoch der Klingelknopf dauerhaft gedrückt wurde, erhob er sich ächzend und ging zur Tür. Draußen stand, wie erwartet, Boerne - zur Abwechslung jedoch mal nicht in einem seiner üblichen Anzüge, sondern in einer merkwürdigen Arbeitskluft.

„Thiel, na endlich! Ich brauche ganz dringend Ihre Hilfe.“

„Bei was denn bitte? Ich wollte heute mal einen ruhigen Sonntag haben...“

„Eben darum müssen wir uns beeilen - weil heute bereits der dritte Adventssonntag ist“, entgegnete Boerne, als wäre damit alles geklärt. „Es geht um einen wichtigen... Fall.“

„Fall? Welcher Fall denn?“, sagte Thiel verwirrt.

„Los, kommen Sie, ich erklär's Ihnen unterwegs! Und ziehen Sie sich was Warmes an.“

***

Keine zwei Minuten später saß Thiel in einem enormen Geländewagen mit Ladefläche, den Boerne - wie dieser kurz erklärte - für einen Tag gemietet hatte. Der Grund dafür war Thiel allerdings nach wie vor schleierhaft, und Boerne zeigte sich diesbezüglich ungewohnt wortkarg.

„Jetzt sagen Sie mir endlich, worum es geht, Boerne“, verlangte Thiel schließlich nach 20 Minuten schneller Fahrt über eine einsame Landstraße. Er fröstelte ziemlich und fluchte innerlich bereits jetzt darüber, dass er sich hatte breitschlagen lassen und mitgekommen war - wohin auch immer.

„Ach, das erfahren Sie dann früh genug, wenn wir ankommen...“, antwortete Boerne ausweichend.

„Auf der Stelle!“, sagte Thiel drohend.

„Naja also... ich, nun ja... ich habe für dieses Weihnachten noch keinen... Weihnachtsbaum, wissen Sie“, druckste Boerne herum. „Und da dachte ich, Sie könnten mir doch dabei helfen...“

„Bei was helfen? Einen Tannenbaum zu kaufen?“ Thiel war einigermaßen fassungslos. „Und das kriegen Sie nicht alleine hin? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Boerne!“

„Ich bitte Sie, ein Boerne kauft seinen Weihnachtsbaum doch nicht. Wozu besitzt meine Familie schon seit Generationen dieses Waldgrundstück...“

Die Erkenntnis verschlug Thiel fast die Sprache. „Ich soll Ihnen dabei helfen, einen Baum zu fällen? Sind Sie noch ganz bei Trost? Sie haben gesagt, es würde sich um einen wichtigen Fall handeln!“

„Nun, das stimmt ja auch - der jährliche Fall eines Weihnachtsbaumes ist für mich sehr wichtig“, verteidigte sich Boerne grinsend, „Ich kann ja nichts dafür, wenn Sie meine Aussage anders interpretiert haben...“

„Halten Sie sofort an und lassen Sie mich aussteigen.“

„Nun geben Sie sich schon einen Ruck, Thiel“, sagte Boerne munter und erhöhte die Geschwindigkeit sogar noch - wahrscheinlich aus Sorge, sein Beifahrer könne versuchen, während der Fahrt aus dem Fahrzeug zu fliehen. „Es braucht nun einmal mindestens zwei Leute, um so einen Baum zu fällen und zum Auto zu tragen. Wenn Sie wollen, können wir für Sie auch gleich einen mitnehmen...“

„Nein danke!“, sagte Thiel wütend. „Sie sind doch komplett bescheuert - das grenzt an Entführung, was Sie hier machen!“

„Nun machen Sie mal halblang! Ich habe Ihnen nicht die ganze Wahrheit gesagt, das gebe ich zu. Aber wenn ich es getan hätte, dann wären Sie ja niemals mitgekommen...wo Sie mir in den letzten Wochen doch mehr als deutlich gemacht haben, dass Sie Weihnachten nicht ausstehen können.“

„Stimmt genau!“, antwortete Thiel grimmig. Für einige Minuten blieb es still im Auto, während sie weiterhin über die Landstraße fuhren. Draußen war es trüb und wolkenverhangen, aber immerhin noch trocken.

„Warum eigentlich?“ hakte Boerne auf einmal nach. „Was haben Sie denn gegen Weihnachten?“

„Das geht Sie überhaupt nichts an!“, sagte Thiel abweisend. „Sind wir wenigstens bald an Ihrem Wald? Sagen Sie es mir bitte gleich, wenn Sie heute noch bis Schweden fahren wollen...“

„Keine Sorge, wir sind gleich da“, versicherte ihm Boerne. „Wissen Sie, ich bin eigentlich auch kein großer Fan von Weihnachten, aber... diese Tradition, selbst einen Baum zu fällen und ihn dann zuhause zu schmücken...“

„Jaja, das hat bestimmt immer Ihr Papa früher mit Ihnen gemacht und es erinnert Sie an Ihre Kindheit, bla bla bla“, unterbrach ihn Thiel seufzend.

„Nein“, sagte Boerne ruhig. Mit einem Mal bemerkte Thiel, dass der sonst immer so zynische und sprücheklopfende Rechtsmediziner ziemlich ernst, fast traurig dreinblickte... Hastig sah Thiel aus dem Fenster.

„Nein, mein Vater hätte so etwas nie gemacht, der hatte doch nichts für uns Kinder übrig.“ Boernes Stimme hatte einen leicht bitteren Ton angenommen. „Aber mein Onkel Julius, der war zwar kinderlos, wusste aber toll mit uns umzugehen... er hat meine Schwester und mich jedes Jahr mit hierher genommen, um einen Baum zu holen. Er wusste, was für ein Riesenspaß das für uns war. Und dann hat er ihn gemeinsam mit uns geschmückt...“

Thiel schwieg. Er hatte schon öfter den Verdacht gehabt, dass Boernes Kindheit nicht gerade sehr erfreulich gewesen sein musste... aber so offen hatte sein Nachbar noch nie mit ihm darüber gesprochen. Doch er wusste nicht, was um alles in der Welt er nun dazu sagen sollte. Sein Ärger über Boerne war allerdings mit einem Mal verraucht.

Beide schwiegen eine Zeitlang. Schließlich bog Boerne auf einen Feldweg ab, und nach einigen hundert Metern hielten sie neben einem Wald.

„Wir sind da.“

***

Während sie auf dem schneebedeckten Boden quer durch den Wald stapften, redete Boerne pausenlos. Offenbar hatte er den Eindruck, vorhin zu viel von seiner Gefühlswelt verraten zu haben und wollte dies nun dadurch überdecken, dass er Thiel mit unwichtigen Dingen vollquatschte.

„... und wussten Sie eigentlich, dass nur 1,5 % der Bäume der deutschen Wäldern echte Tannen sind? Die meisten Nadelbäume, die von der Allgemeinheit als Tannen bezeichnet werden, sind in Wahrheit nämlich Fichten, sodass -“

„Meine Güte, jetzt halten Sie doch mal für fünf Minuten den Mund, Boerne“, unterbrach ihn Thiel entnervt. „Das interessiert mich nicht die Bohne.“

Zu seiner Überraschung schwieg der Rechtsmediziner tatsächlich, schritt nun stattdessen stumm neben ihm her und betrachtete die Bäume um sie herum. Thiel blickte zurück und stellte fest, dass sie bereits ziemlich tief in den Wald vorgedrungen waren.

„Wissen Sie eigentlich noch, wo wir sind? Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob ich noch zum Auto zurückfinden würde...“

Boerne sah ihn beleidigt an. „Ach, darf ich jetzt wieder mit Ihnen sprechen, ja? Und zu Ihrer Information, mein Mobiltelefon besitzt eine GPS-Funktion. Sie können sich also sowohl darauf als auch auf meinen hervorragenden Orientierungssinn verlassen.“

Thiel verdrehte die Augen. „Haben Sie jetzt bald mal einen Baum gefunden, der Ihnen genehm ist, Herr Professor? Mir ist schon saukalt.“

Boerne blickte sich um. „Ja, einer von denen da vorne, würde ich sagen. Was meinen Sie?“

Nach einigen Schritten standen sie vor mehreren Tannenbäumen, von denen der größte bestimmt zweieinhalb Meter hoch war.

„Mir egal, aber suchen Sie sich bitte schnell einen aus, ja?“ Fröstelnd rieb Thiel seine behandschuhten Hände aneinander.

„Nun, dann würde ich sagen, der hier.“ Boerne deutete auf den größten Baum.

„War mir irgendwie klar, dass Größe für Sie wichtig ist“, sagte Thiel mit einem fiesen Grinsen. „Na los, fangen Sie schon an mit Ihrem Fall, bevor wir hier erfrieren.“

Boerne nahm den Rucksack ab, den er die ganze Zeit getragen hatte, und holte eine Axt daraus hervor.

„Passen Sie auf, dass Sie immer hinter mir bleiben, Thiel - wenn Sie irgendwo herumgeistern, dann werden Sie womöglich noch vom fallenden Baum getroffen.“

„Jaja, ich bin ja nicht blöd... Nun machen Sie schon.“

Boerne begann, mit der Axt eine Kerbe in den Stamm des Baumes zu hacken. Ab und zu setzte er ab und prüfte, wie weit er schon vorgedrungen war und ob die Kerbe ausreichen würde, um den Baum zum Fallen zu bringen.

Thiel sah ihm von der Seite aus zu und wünschte, der Professor würde sich beeilen - mittlerweile war er halb erfroren, und das untätige Herumstehen machte es nicht besser. Als Boerne schon wieder die Axt sinken ließ, um den Baum zu umrunden, riss ihm der Geduldsfaden.

„Geben Sie die Axt her, Boerne - ich mach' jetzt mal weiter. Vielleicht wird mir dann wieder etwas wärmer.“

„Nun gut, wenn Sie meinen“, sagte Boerne achselzuckend und übergab ihm die Axt. „Aber passen Sie auf Ihre Finger auf...“

„Ich-bin nicht-so unfähig-wie sie vielleicht-glauben“, stieß Thiel keuchend hervor, während er mit regelmäßigen, kraftvollen Schlägen auf den Stamm einhieb und Boerne mit prüfendem Blick um den Baum herumging. „Aber-Sie mussten sich-ja auch den-größten- Vorsicht Boerne, er fällt!“

Doch sein Warnruf kam zu spät. Urplötzlich hatte der Baum unter den heftigen Hieben nachgegeben und kippte zur Seite weg. Thiel sah nur noch den überraschten Ausdruck auf Boernes Gesicht, dann gab es ein dumpfes, hässliches Aufprallgeräusch, und sein Nachbar wurde unter dem Tannenbaum begraben.

„Boerne!“, rief Thiel erschrocken. Er warf die Axt beiseite und stürzte auf den gefällten Baum zu. Mit Mühe schob er ihn beiseite, sodass Boerne darunter zum Vorschein kam, der sich jedoch nicht regte. Seine Brille war in der Mitte durchgebrochen, und aus einer Wunde an der Stirn liefen dünne Blutrinnsale sein Gesicht hinunter.

„Ach du Scheiße“, sagte Thiel entsetzt und kniete neben ihm nieder, um ihm den Puls zu fühlen. „Hören Sie mich? Boerne, wachen Sie auf!“ Doch die Augen des Professors blieben weiterhin geschlossen, und er gab keinen Laut von sich.

Hilfesuchend sah Thiel sich um, doch natürlich war weit und breit kein anderer Mensch in Sicht. Sein Handy hatte er in der Eile des Aufbruchs zuhause vergessen, das wusste er. Aber Boerne hatte doch irgendwo eins... eilig durchsuchte er die Mantel- und Hosentaschen des Rechtsmediziners. Doch offenbar hatte dieser sein Handy im Auto oder sonstwo liegengelassen. Es war jedenfalls nicht auffindbar.

Thiel spürte, wie Panik in ihm hochstieg. Er konnte Boerne doch unmöglich zum Auto zurücktragen; ganz abgesehen davon, dass er den Weg nicht hundertprozentig wusste. Aber ihn hierlassen konnte er auf gar keinen Fall - auch ohne medizinische Ausbildung wusste Thiel, dass Boerne erfrieren würde, wenn er ihn bei diesen Temperaturen bewusstlos im Schnee liegenließ.

Außerdem war der Professor vielleicht schwer verletzt; das konnte Thiel nun wirklich nicht mit Sicherheit sagen. Die Wunde am Kopf sah jedenfalls schlimm genug aus. Irgendwie würde er Boerne zum Auto schaffen müssen; es blieb ihm einfach nichts anderes übrig.

Thiel atmete tief durch, dann zog er seine Jacke aus und legte sie Boerne vorsichtig um die Schultern. Erstens würde sein bewusstloser Nachbar dann nicht ganz so schnell auskühlen, und zweitens würde ihm, Thiel, wahrscheinlich gleich warm genug werden bei der Anstrengung, die ihn erwartete.

Er steckte die beiden Teile von Boernes Brille in die Hosentasche, legte sich dann dessen linken Arm um die Schultern und griff mit der rechten Hand um Boernes Oberkörper herum. Auf diese Weise hievte Thiel ihn, unter Aufbietung all seiner Kräfte, in die Senkrechte. Puh, Boerne war wirklich nicht der Leichteste, auch wenn er immer so tat...

Vorsichtig begann Thiel, sich vorwärts zu bewegen - in die, wie er hoffte, richtige Richtung. Es war äußerst mühsam, seinen bewusstlosen Nachbarn auf diese Weise zu transportieren. Boernes Füße schleiften über den Waldboden, während Thiel keuchend einen Fuß vor den anderen setzte. Kalt war ihm jetzt jedenfalls nicht mehr.

Wenn sie nur das Auto erreichen würden... dann würde er vielleicht Boernes Handy finden und Hilfe rufen können. Außerdem konnte er im Auto die Heizung aufdrehen und danach sofort in ein Krankenhaus fahren... aber Boerne war schwer, so verflixt schwer. Nach einigen Minuten blieb Thiel stehen und rang nach Luft. „Verdammt!“, fluchte er laut. Dann schloss er die Augen und atmete einige Male tief durch. Er musste weitergehen... wenn Boerne nicht bald Hilfe -

„Aaaauhh...“ Ein leises Stöhnen kam plötzlich von der Seite und als Thiel sich nach rechts drehte, sah er, dass Boerne die Augen wieder halb geöffnet hatte. Fast hätte er den Rechtsmediziner vor Erleichterung fallengelassen.

„Boerne! Boerne, hören Sie mich?“ Er schüttelte ihn sanft.

„Was... was... wo...“ Boernes Blick war ziemlich trüb, und er schien nicht recht auf etwas fokussieren zu können.

„Ich bin's, Thiel“, sagte der Kommissar beruhigend. „Sie hatten einen Unfall, der Baum hat Sie am Kopf erwischt - aber vielleicht ist es doch nicht ganz so schlimm... Wir müssen aber unbedingt zum Auto.“

„Baum?... Achso, der Tannenbaum... “ Langsam schien sich Boerne wieder an die Ereignisse zu erinnern. Er hob die Hand und tastete nach seiner Stirn. „Aua... wie lange war ich denn bewusstlos?“

„Keine Ahnung, zehn Minuten vielleicht“, antwortete Thiel; jetzt wo Boerne zumindest so halb wieder auf eigenen Füßen stand, war es nicht mehr ganz so anstrengend, ihn zu stützen. „Mensch, diesmal haben Sie mich wirklich erschreckt, Boerne...“

„So, Sie hatten also Angst um mich, wie?“, sagte Boerne mit einem leicht schiefen Lächeln. Dann sah er an sich hinunter. „Und wie ich sehe, trage ich sogar Ihre Jacke... sehr freundlich. Zum Auto müssen wir übrigens in diese Richtung.“ Er deutete nach schräg links.

„Sind Sie sich da ganz sicher?“, sagte Thiel zweifelnd. Man wusste ja nie, nach so einem heftigen Schlag auf den Kopf...

„Selbstverständlich.“

Sie gingen weiter und Thiel stützte Boerne, so gut er konnte. Der war wieder verstummt und nach ein paar Minuten schien er fast schon wieder wegzudämmern.

„He, Boerne, wachbleiben!“ sagte Thiel laut und schüttelte den anderen erneut. „Nicht wieder einschlafen!“

„Hmmm...“, sagte Boerne schläfrig, „Das ist... der Schock...“

„Wenn Sie wachbleiben, dann erzähl' ich Ihnen auch, warum ich Weihnachten nicht mag“, sagte Thiel schnell. Er wollte auf jeden Fall verhindern, dass sein Nachbar erneut zusammenklappte. Zum Glück schien die Taktik zu wirken: Boerne schlug die Augen wieder auf und sah ihn an.

„Also?“

„Ich mag Weihnachten nicht, weil... weil ich mich da immer so einsam fühle“, murmelte Thiel verlegen. „Seit Susanne mit Lukas fortgezogen ist... ich meine, auf sie kann ich wirklich verzichten, aber ich... ich vermisse meinen Sohn. Und an Weihnachten immer ganz besonders.“

So, nun war es heraus. Resigniert dachte er, dass jetzt wahrscheinlich ein spöttischer Kommentar von Boerne kommen würde, wie üblich... aber der andere überraschte ihn erneut damit, dass er stumm blieb. Einige Minuten lang gingen sie sich schweigend durch den Wald.

Dann sagte Boerne mit leiser Stimme: „Das kann ich vielleicht besser nachvollziehen, als Sie denken... ich habe zwar keine Kinder, aber ich verbringe Weihnachten eigentlich auch immer allein. Seit meine Mutter auch tot ist... ich meine, Sie haben immerhin noch Ihren Vater.“

„Ja, mein Vater...“, seufzte Thiel; er war unendlich froh, dass Boerne auf sein Geständnis nicht so sarkastisch wie sonst immer reagiert hatte. „Der hat's auch nicht so mit Weihnachten, er findet das alles spießig. Aber an Heiligabend wird er wohl doch zu mir kommen.“ Er überlegte kurz und gab sich dann einen Ruck. „Also, wenn Sie wollen... ich meine, wenn Sie Lust hätten... dann können Sie gerne auch zu uns rüberkommen.“

„Soso, erst machen sich Sorgen um mich, dann geben Sie mir aufopfernd Ihre Jacke, tragen mich halb durch den Wald, und nun auch noch eine Weihnachtseinladung“, sagte Boerne, der mittlerweile schon wieder ein süffisantes Lächeln im Gesicht hatte. „Fast könnte man meinen, Sie wollten was von mir...“

„Na, Ihnen scheint's ja schon wieder viel besser zu gehen“, entgegnete Thiel und verdrehte die Augen. „Oh, na endlich, da vorne steht Ihre Karre.“

„Ich nehme die Einladung übrigens gerne an.“

***

Eigentlich hätte er wissen müssen, dachte Thiel auf der Heimfahrt resigniert, dass der Versuch, Boerne ins Krankenhaus oder zumindest zu einem Arzt zu bringen, vollkommen sinnlos war. Der Rechtsmediziner hatte seine Wunde im Rückspiegel „fachmännisch begutachtet“ und war zu dem Schluss gekommen, dass es sich „nur um einen Kratzer“ handelte. Thiels gegensätzliche Meinung wurde mit dem Hinweis abgetan, dass er schließlich „nur Hauptkommissar und kein Arzt“ sei.

Da Thiel keine große Lust hatte, sich mit Boerne herumzustreiten, gab er bald nach. Immerhin sah Boerne ein, dass er mit seiner zerbrochenen Brille unmöglich das Auto selbst fahren konnte, sodass Thiel nun am Steuer saß und den Wagen durch die einbrechende Dunkelheit lenkte. Sein Beifahrer spielte derweil mit seinem Handy herum, das er zwischen den Autositzen wiedergefunden hatte.

„Thiel!“, sagte Boerne unvermittelt. Der Kommissar schrak zusammen und hätte fast das Lenkrad verrissen. „Was?!“

„Wissen Sie, was wir vergessen haben?“

„Nämlich?“

„Den gefällten Tannenbaum natürlich! Der liegt ja immer noch im Wald... wir könnten ihn eigentlich schnell noch holen...“

„Bei Ihnen piept's wohl!“, sagte Thiel ungläubig. „Auf gar keinen Fall gehen wir wegen diesem blöden Baum jetzt nochmal in den Wald. Und Sie schon gleich gar nicht, Sie müssen sich zumindest ein wenig ausruhen. Ende der Diskussion“, fügte er hinzu, als Boerne den Mund öffnete, um zu widersprechen. „Ich fahre, und ich fahre Sie nach Hause. Ein Weihnachtsbaum lässt sich in den nächsten Tagen auch noch woanders auftreiben.“

***

Wie es der Zufall allerdings wollte, waren sie kurz vor Münster an einem Parkplatz vorbeigekommen, auf dem Weihnachtsbäume verkauft wurden. Boerne hatte solange auf ihn eingeredet, bis Thiel sich erweichen hatte lassen und abgebogen war.

Nun waren sie endlich bei sich zuhause angekommen, mit einer großen Fichte auf der Ladefläche. Gemeinsam schleppten sie diese in Boernes Wohnung. Kaum war der Baum im Wohnzimmer abgelegt, als Boerne auch schon mit einem erschöpften Stöhnen auf seine Couch sank.

„Puh, das war... wirklich anstrengend.“ Er sah ziemlich blass aus und Thiel befürchtete, dass sein Nachbar gleich wieder zusammenklappen würde. Er ahnte, dass es Boerne viel weniger gut ging, als dieser behauptete.

„Jetzt legen Sie sich erstmal hin, und ich mache Ihnen einen heißen Tee.“

„Vielen Dank, Herr Thiel, aber ich bedarf keiner weiteren Pflege. Sie können sich nun gerne einen ruhigen Sonntagabend in Ihrer Wohnung machen...“

„Kommt überhaupt nicht in Frage“, entgegnete Thiel bestimmt. „Solange Sie dermaßen wackelig auf den Beinen sind und sich weigern, zu einem Arzt zu gehen, haben Sie mich erstmal am Hals.“

Boerne war anscheinend zu angeschlagen, um groß zu widersprechen. „Na gut... aber wo Sie schon mal hier sind, Thiel, könnten Sie mir eigentlich gleich beim Baumschmücken helfen, das wollte ich unbedingt heute noch machen...“

Thiel seufzte. Er wusste, dass er sich zu all den Nettigkeiten eigentlich nur hinreißen ließ, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen - immerhin hatte er den Baum zum Umfallen gebracht und Boerne verletzt.

„Wo finde ich Ihr Dekozeug?“

***

Eine halbe Stunde später war die Fichte im Weihnachtsbaumständer befestigt, und ein inzwischen schon wesentlich agilerer Boerne war eifrig damit beschäftigt, seinen sorgfältig verstauten Baumschmuck auszupacken. Prüfend begutachtete er ihn durch seine Brille, die er provisorisch mit Klebeband geflickt hatte.

„Sie können schon mal die Christbaumkugeln und die Strohsterne aufhängen, Thiel... ich werde die Glasspitze oben draufmachen, dafür sind Sie ja zu klein.“

„Danke für das Kompliment“, bemerkte Thiel ironisch. Er hätte es zwar um nichts in der Welt zugegeben, aber das Schmücken des Tannenbaums machte ihm insgeheim... Spaß. Selbst wenn er sich dabei schon wieder Boernes Kommentare anhören durfte. Aber er hatte schon seit langer Zeit keinen Weihnachtsbaum mehr gekauft und geschmückt... obwohl er dieses Ritual jahrelang mit Lukas gemacht und es immer gemocht hatte.

„Haben Sie eigentlich auch 'ne Lichterkette?“, fragte er nach einer Weile, während Boerne mittlerweile jede Menge silbernes Lametta über die Zweige hängte. Offenbar war der Professor jener Typ Mensch, der gar nicht genug Schmuck am Baum haben konnte.

„Natürlich“, antwortete Boerne und durchwühlte die Kiste mit den Weihnachtssachen. „Die war doch hier irgend- ah, da ist sie ja.“ Er förderte eine ziemlich verstaubte Schachtel zutage und reichte sie Thiel. Der betrachtete sie skeptisch.

„Boerne, die stammt doch bestimmt noch aus Vorkriegszeiten! Wollen Sie die wirklich anschließen? Haben Sie denn nichts Moderneres?“

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich den Tag noch erlebe, an dem Sie mal etwas Modernes fordern. Und ja, natürlich gedenke ich die anzuschließen. Die stammt noch von meinem Urgroßvater...“

„So sieht sie auch aus“, sagte Thiel trocken. „Aber bitte... wie Sie wünschen.“ Sorgfältig befestigte er die Lichterkette an verschiedenen Zweigen um den Baum herum.

„Gut, ich glaube, das reicht dann erst einmal mit dem Schmuck“, sagte Boerne zufrieden und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. „Fehlt nur noch die Beleuchtung...“ Er nahm den Stecker der Lichterkette und schob ihn in die Steckdose hinter dem Weihnachtsbaum.

Im gleichen Augenblick krachte es, und aus der Steckdose sprühten Funken. Die Lichterkette leuchtete für den Bruchteil einer Sekunde auf, bevor die Wohnung um sie herum in kompletter Finsternis versank.

Einen Moment lang blieb es still.

„Keine Sorge, Boerne“, erklang schließlich Thiels amüsierte Stimme aus der Dunkelheit, „Ich hab jede Menge Kerzen in Ihrer Weihnachtskiste gefunden.“

***ENDE***

Tatort Münster, fanfiction, thiel/boerne, adventskalender 2011

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