Kinderspiel

Jan 10, 2021 22:31

Titel: Lichterfest
Challenge: Kinderspiel
Fandom: Original | Fortsetzung von Blut
Sprache: Deutsch
Wörter: 1200
Widmung: der_jemand, alea
Kommentar: Ich muss dringend früher damit anfangen…

Eine Reihe Kindernasen drückte sich in unterschiedlicher Höhe am Glas platt und hinterließ Schmierstreifen.

Lichterfest

“Guckt, da kommt die Deinos Savra!”
Eine Reihe Kindernasen drückte sich in unterschiedlicher Höhe am Glas platt und hinterließ Schmierstreifen.
„Ist sie ja gar nicht! Die hat ja gar keinen grünen Streifen. Und das Logo ist auch anders“, beschwerte sich ein Junge mit Brille, der sich aufgrund seiner elf Jahre für sehr klug hielt.
„Ist sie ja wohl!“, widersprach Liam, der zwar erst zehn war, sich aber auf dem Gebiet der Raumschiffe für einen Experten hielt. „Guck dir doch die Nase an! Diese Beule ist einzigartig!“
„Die sind doch alle total verbeult. Als ob du das von hier unterscheiden kannst!“
„Wetten?“, fragte Liam.
Das Gemurmel der restlichen Kinder verstummte schlagartig.
„Worum?“, fragte der andere misstrauisch.
Liam wühlte in seinen Taschen. „Ich biete… einen Schokoriegel.“ Der Riegel hatte schon bessere Tage gesehen, aber Schokolade war Importware und deshalb begehrt, selbst wenn sie bereits jemand darauf gesessen hatte.
„Einen Karamelbonbon“, bot der andere. Der Bonbon sah bereits etwas angeschmolzen aus.
Die anderen Kinder buhten. „Zu wenig!“
Ein rothaariges Mädchen namens Malia zerrte einen zerfledderten Zettel aus ihrer Hosentasche hervor und wedelte damit herum. „Zwei Bonbons für einen Riegel, so sind die Regeln!“
„Aber ich hab nur einen!“
„Ist okay“, sagte Liam schließlich gönnerhaft. „Ich akzeptiere die Bedingungen.“
Die beiden schüttelten sich die Hände. „Die Wette gilt!“, verkündete Malia, die inoffizielle Schiedsrichterin. „Sasha?“
Sasha, ein mausgesichtiges Mädchen, saß im Schneidersitz auf dem Boden und wischte auf ihrem wertvollsten Eigentum, einem Datapad der neuesten Generation, herum. „Moment, die Liste lädt noch… jetzt drängelt doch nicht alle so, davon geht’s auch nicht schneller!“
Einen Augenblick später machte es leise Ping.
„Liam hat Recht“, sagte Sasha, nachdem sie ein bisschen heruntergescrollt hatte.
Liam reckte die Faust in die Luft und stieß einen kleinen Siegesschrei aus.
Sasha redete weiter: „Aber Phineas hat auch Recht. Es ist das gleiche Schiff. Aber sie wurde letzten Monat verkauft und heißt jetzt Empolaios. Deshalb der neue Anstrich.“
„Also hatte ich Recht“, sagte Phineas. „Es ist nicht die Deinos Savra.“
„Liam!“, ertönte eine Stimme von hinten.
„Aber es ist das gleiche Schiff!“, protestierte Liam.
„Hey, Leute, da tut sich was!“
„Aber es ist nicht -“
„LIAM!“, rief Liams sechsjährige Cousine Enid, die als einzige der Anwesenden immer noch zum Fenster hinausgeschaut hatte, und verlieh dem Ganzen Nachdruck, indem sie ihm mit Schwung gegen das Schienbein trat.
„AU!“ Für einen Moment hüpfte er auf einem Bein. „Was soll denn -“
„Es geht los!“
Er schluckte den Rest seiner Beschwerde runter und eilte zurück zum Fenster. „Hab ich doch gesagt! Hab ich doch gesagt, dass es noch heute Abend losgeht!“
„Woher weißt du das nur immer?“, fragte ein kleiner Junge mit Lockenkopf bewundernd.
„Er hat an der Tür zur Cafeteria gelauscht“, sagte Sasha von ihrem Platz auf dem Fußboden, ohne aufzusehen.
Die Augen des Jungen wurden groß. „Woah.“
„Jetzt seid endlich mal leise, sonst erwischen die uns noch, bevor wir was gesehen haben!“, zischte Malia.
Wie die Orgelpfeifen standen die Kinder an den bodenlangen Fenstern. Vom Aussichtsdeck hatte man einen guten Blick auf die kleinen Passagier- und Lieferschiffe, die an den langen überdachten Stegen andockten. Die großen Frachter lagen hingegen auf der anderen Seite der Raumstation.
So manchen Nachmittag nach der Schule verbrachten sie hier, um die Schiffe beim Kommen und Gehen zu beobachten. Es war neben Sandfußball und Steinrodeln das spannendste, was ihrer Meinung nach auf Puna passieren konnte. Die Besesseneren unter ihnen kannten jedes Schiff, das regelmäßig vorbeikam, beim Namen.
Häufig mussten sie Stunden darauf warten, dass etwas passiert. Heute Abend aber war alles anders.

Es begann damit, dass auf der Aurion die seitlichen Positionslichter angingen. Dann fuhren langsam die Schotten vor den Frontscheiben hoch. Das Schiff lag direkt unter ihnen, sodass sie genau sehen konnten, wie die Stabilisatorflossen ausgefahren wurden und sich das Schiff sehr vorsichtig aus seiner Parklücke manövrierte.
Liam rieb mit seinem Ärmel über die Scheibe, die durch seinen Atem beschlagen hatte. Er würde alles dafür geben, ein Schiff wie die Aurion zu besitzen, sogar sein beleuchtetes Modell einer Hummingbird Typ 3, das über seinem Bett hing.
„Guckt mal da“, sagte ein hochgewachsenes Mädchen neben ihm. Weiter hinten am Dock flammten Scheinwerfer auf, als die Pyra ihre Systeme hochfuhr. Direkt daneben brauchte ein abgetakelter Schmuggler, den Liam noch nie zuvor gesehen hatte, drei Anläufe, um seine Triebwerke in Gang zu setzen. Im Kern der Nukeris begannen die Generatoren für die künstliche Schwerkraft zu rotieren. Er meinte, die Scheibe unter seiner Hand leicht vibrieren fühlen zu können.
Und dann war es wie auf dem alljährlichen Lichterfest im Winter. Er wusste gar nicht, wo er zuerst hinschauen sollte. Überall leuchteten Cockpits auf, blinkten Kommunikationsleuchten, spien Triebwerke Feuerschweife in allen möglichen Farben in die Nacht hinaus.
„Ooh“, sagten die anderen um ihn herum, und „Aaaah.“
An Dock 1 lagen die Hydra und die Arguros, die erst vor kurzem auf Puna eingetroffen waren, direkt nebeneinander. Beide Schiffe hatten bereits ihre Triebwerke hochgefahren und waren jetzt im Begriff abzudocken. Liam erwartete, dass ein Schiff, wie üblich in einer solchen Situation, dem anderen den Vorrang geben würde. Stattdessen beobachtete er mit offenem Mund, wie sie synchron, Flosse an Flosse, in die Nacht hinaufstiegen.
„Das ist ja der Wahnsinn“, sagte der Junge mit dem Lockenkopf und verschluckte vor lauter Begeisterung fast seinen Kaugummi.
Überall vor ihnen stiegen Raumschiffe auf wie leuchtende Blasen in einem dunklen Aquarium. Wenn sie sich die Hälse verrenkten, konnten sie gerade noch sehen, wie sich die Schiffe in einer Gruppe über der Raumstation sammelten. Ein Mädchen zählte mit und nahm dabei ihre Finger zu Hilfe: „21, 22, 23…“
„Diese Leute sind Helden“, sagte Malia schließlich leise in die Stille.
„Die werden wahrscheinlich alle sterben“, sagte Theo. Liam empfand große Befriedigung, als Enid ihm (aus Versehen natürlich) auf den Fuß trat.
Liam tastete in seiner Tasche nach seinem Glückstein. Er war schwarz und rund wie eine Murmel, und er war magnetisch. Er hatte ihn in der Wüste beim Spielen gefunden, und sein Vater hatte gesagt, dass er wahrscheinlich Teil eines Meteoriten war.
„Nein, werden sie nicht“, sagte er laut. Die anderen Kinder wandten sich zu ihm um. „Sie werden die Aletheia retten. Und Puna wird im ganzen Universum berühmt werden, weil sie von hier gestartet sind. Und wir haben es gesehen.“
Einige der anderen Kinder murmelten und nickten.
„Und eines Tages haben wir auch Raumschiffe und fliegen damit bis an den Rand des bekannten Universums und noch viel weiter!“
„Ganz genau!“, rief Enid begeistert.
Ganz still sahen sie zu, wie sich das letzte Schiff in die wartende Gruppe einordnete. Dann wurde das Licht der Triebwerke immer heller, bis sie die Augen zusammenkneifen mussten, um nicht geblendet zu werden. Als sie wieder hinsahen, waren die Raumschiffe verschwunden.
„Lichtgeschwindigkeit“, sagte Enid beeindruckt. Es war eines ihrer Lieblingsworte.
„Viel Glück“, sagte Malia.
In dem Moment ertönten Schritte im Korridor. „Hey da! Ihr schon wieder! Ich hab euch doch schon hundert Mal gesagt, dass eine Raumstation kein Kinderspiel-“ Der Rest ging in dem Lärm trappelnder Kinderfüße unter, als die Gruppe wie ein Schwarm Fische auseinanderstob und in alle möglichen Richtungen flüchtete.
„Hey! Bleibt gefälligst stehen!“, schnaufte der Wachmann hinter ihnen her. „Ihr kleinen -“
Liam hatte Enid beim Handgelenk gepackt und zog sie hinter sich her, als sie die Treppe zum Ladedeck herunterhasteten. Von dort konnten sie mit einem Frachtaufzug unbemerkt zurück auf die Planetenoberfläche gelangen.
Mit der anderen Hand hielt er seinen Glückstein ganz fest umschlossen.
Sie schaffen es, dachte er. Sie müssen.

original: aletheia, original, servena, inspiration

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