Das Skizzenheft

Jul 07, 2017 01:37

Team: Aschenputtel
Prompt: Verletzung riskieren um jemand anderen zu beschützen (h/c - für mich)
Wörter: 917
Original: Uhrwerkträume
Zeit, Ort: 1906, Blenstett
Charaktere: Wendora Feder, Zevan Halberdt
Inhalt: In der letzten Woche vor Schulbeginn macht Wendora ihre erste Bekanntschaft in der Hauptstadt
Kommentar: Ich hatte viel mehr Hurt und viel mehr Comfort geplant, als es dann geworden ist. Das kommt davon, wenn man den Text zu weit vom Ende entfernt anfängt.


Blenstett, September 1906

Die ersten zwei Wochen in Blenstett verbringt Wendora größtenteils alleine.
Am Morgen frühstückt sie mit ihrer Mutter, sie sprechen wenig. Nach dem Frühstück verschwindet Emmit Feder in ihrem Arbeitszimmer, wo sie ein oder zwei Stunden bleibt. Wendora weiß nicht, was ihre Mutter dort tut, aber sie hat die strikte Weisung, sie nicht zu stören.
Wendora vertreibt sich die Zeit, indem sie die Buchrücken im Wohnzimmer studiert, ohne jedoch ein einziges Buch jemals aus dem Regal zu ziehen.
Am Institut hatte sie ganz selbstverständlich jedes Teil der Wohnung ihres Vaters als ihr persönliches Eigentum betrachtet. Im Haus ihrer Mutter ist das anders.
Die alten Möbel, die Fotografien ihrer Großeltern, das verstaubte Nippzeug auf dem Kaminsims und die traumwandlerisch verworrenen Ölmalereien ihres Onkels, die überall im Haus verteilt an den Wänden hängen, alles gibt Wendora das Gefühl bei Fremden zu Gast zu sein.

An einem Mittag, während ihre Mutter ihre Patienten besucht, will Wendora sich in die Werkstatt ihres Vaters und Großvaters schleichen, doch sie findet jeden Zugang fest verschlossen.
An einem anderen Tag beschließt sie, die Nachbarschaft zu erkunden. Sie klettert über die Gartenmauer und landet auf einer schmalen Gasse. Der Boden hier ist nicht gepflastert, am Wegrand wuchern Brennnesseln und Brombeeren.
Oberhalb der Gasse, hinter einer weiteren Mauer, streckt sich der Blenstetter Nordfriedhof den Hang hinauf. Das weiß Wendora weil man es ihr irgendwann einmal gesagt hat. Sie kann sich nicht entsinnen, selbst einmal den Friedhof besucht zu haben.

Sie folgt der Gasse, zwischen privaten Gärten und dem Friedhof entlang. Ein schmaler Pfad, die Grenze, die die Lebenden von den Toten trennt. Sie läuft und läuft, bis sie an das Ende der Gasse gelangt. Der Weg verläuft sich einfach so in Unkrauthecken.
Zu Wendoras Linken liegt immer noch der Friedhof. Zu ihrer Rechten haben die Wohnhäuser einer Brachfläche Platz gemacht. Wendora folgt einem schmalen Trampelpfad, der sich hier durch Gras und Grünzeug schlängelt. Es ist ganz Märchenhaft, hier. Blaue Blumen recken ihre Köpfe aus der Wiese und Schmetterlinge kreisen darum.
Wendora läuft ein wenig schneller, den Kopf vorstreckend, in neugieriger Erwartung jenes geheimen Gartens, der sie am Ende des Trampelpfads erwartet.
Doch sie findet keinen Garten. Im Tal mündet die Wiese in einer Baustelle. Gerüste und Lastenzüge drängen sich hier zwischen Sand und Schutt aneinander.
Wendora will schon wieder umkehren, da hört sie Stimmen und als sie genau hin sieht erkennt sie Kinder, die auf der Wiese spielen. Sie sieht ihnen eine Weile zu, wie sie einander jagen, und versucht festzustellen, ob sie diese Kinder kennenlernen möchte. Da rennt plötzlich der Gejagte auf Wendora zu. Er sieht sie überhaupt nicht, schenkt ihr wenigstens keine Beachtung, sondern rennt an ihr vorbei und versteckt sich in der nächsten Hecke.
Kaum ist er verschwunden, da kommen schon seine Verfolger an.
Mit den Armen rudernd bleiben sie vor Wendora stehen.
Fünf Jungs. Alle ungefähr so alt wie Wendora selbst, aber viel größer als sie, viel schmutziger auch. Ihre Hosen sind löchrig, ihre Hemden staubgrau und fadenscheinig. Der größte von ihnen hebt seine Faust und wedelt damit drohend in der Luft herum.
„Wo ist er?“, fragt er und es klingt gar nicht so, als sei es ein Spiel gewesen, das Wendora eben beobachtet hat.
„Wer?“, fragt Wendora zurück.
Der Junge packt Wendora am Kragen. Sie solle so eine Ratte nicht in Schutz nehmen, knurrt er.
Einer seine Freunde packt ihn am Arm und macht ihn darauf aufmerksam, dass das da ein Mädchen ist.
„Na und? Ist sie doch selbst schuld, wenn sie sich uns in den Weg stellt!“
Seine Freunde sind da anderer Meinung. Den Halberdt wollen sie gewiss alle dran kriegen, aber ein Mädchen verprügeln, das ginge zu weit. Ihr mutmaßlicher Anführer zieht Wendora noch ein Stückchen Näher zu ihm heran.
„Aber lass dich hier nicht mehr blicken“, zischt er ihr ins Ohr. Dann winkt er seinen Freunde zum Abzug.
Wendora bleibt stehen, unfähig zu verarbeiten, was gerade geschehen ist.
Hinter ihr raschelt es im Gebüsch.
„Sind sie weg?“, fragt eine Stimme.
„Ich glaube schon“, antwortet Wendora.
Der Junge, den die anderen Halberdt genannt haben, krabbelt aus seinem Versteck. Er ist noch dreckiger als sie gewesen waren, über seiner Augenbraue klafft eine Wunde und um das Auge darunter beginnt ein Veilchen seine Blüte zu öffnen. Als er ganz aus dem Gebüsch geklettert ist und auf Wendora zu läuft humpelt er ein wenig.
In seinen Händen hält er ein zerfleddertes Schulheft. Auf den herunterhängenden Seiten sind Zeichnungen zu sehen.
„Was haben die von dir gewollt?“, fragt Wendora.
Halberdt hält ihr das Heft mit den Zeichnungen hin. Kleine Bildergeschichten sind darin, in denen kleine Menschen große Missgeschicke geschehen. Die meisten dieser kleinen Menschen zeigen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit den Jungen die eben so wild darauf waren Halberdt zu verprügeln.
„Oh“, sagt Wendora und ein kurzes Grinsen flackert über ihre Lippen.
„Du kennst sie?“
„Das sind meine Nachbarn“, Halberdt nimmt das Skizzenheft wieder an sich. Er streicht die zerknickten Seiten glatt und stopft es dann in seine Jackentasche.
„Oh“, sagt Wendora noch einmal. Sie überlegt kurz, dann fügt sie hinzu: „Soll ich dich heimbringen?“
Halberdt schüttelt den Kopf. Das nächste Mal sei es denen bestimmt egal, dass sie ein Mädchen ist.
„Aber danke, für gerade“, sagt er und will schon in dieselbe Richtung verschwinden, wie die anderen Jungen zuvor.
„Du könntest mit zu mir kommen“, ruft Wendora ihm hinterher.
„Mein Mutter könnte sich dein Bein ansehen. Und deine Stirn.“
Halberdt hält inne.
„Kriegst du da keinen Ärger?“, fragt er.
„Bestimmt nicht“, verspricht Wendora, auch wenn sie sich nicht ganz sicher ist.

leni, original, original: uhrwerkträume, team: aschenputtel, inspiration

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