Umwege 4

Mar 19, 2012 11:25

Originalgeschichte.
Zusammenfassung: Jo glaubt seinen Traummann gefunden zu haben: gutaussehend, reich und gut im Bett. Und er scheint seine Gefühle zu erwidern. Einziges Problem: Robert ist gut zwanzig Jahre älter als er, hat eine Frau und zwei Kinder...
Warnungen: Yaoi, M/M, 18+



Es folgte eine arbeitssame Woche, einfach deshalb, weil ich nicht die Kraft hatte, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Ich wollte einfach nicht nachdenken, denn ich hatte Angst vor der Schlussfolgerung, zu der es mich führen könnte.
Also setzte ich mich wirklich an allerlei aufgeschobene Arbeiten, beendete eine Semesterarbeit und war so eifrig wie nie im Nach- und Vorbereiten von Seminaren und Vorlesungen.
Am Mittwoch beschloss ich, in die vollen zu gehen und besuchte meine Eltern. Das war so ziemlich das Schlimmste, was mir als Ablenkungsmanöver hätte einfallen können, doch auch eindeutig das Effektivste. Über dem ewigen Nerv mit meiner Mutter vergaß ich beinahe alles, wenn auch nur beinahe.
Ich hatte ihr vor knapp zwei Jahren endlich die Wahrheit über meine Sexualität gesagt, obwohl ich mir selbst schon viel länger darüber im Klaren gewesen war. Einfach aus dem Grund, weil ich genau gewusst hatte, wie sie es aufnehmen würde.
Meine schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Meine Mutter, die streng religiös war, sah mich nun als verlorene Seele an und das musste ich mir immer wieder anhören. Obwohl sie sich einerseits zu freuen schien, mich wieder einmal zu sehen, trug sie die ganze Zeit einen besorgten Ausdruck auf dem Gesicht, als ob sie fürchtete, ich könne jeden Moment zur Hölle hinab fahren.
Mein Vater hielt sich solidarisch aus allem heraus und ich wusste nie, ob es ihm egal war oder er insgeheim mit meiner Mutter einer Meinung war.
Zwischen riesigen Tortenstücken und Kaffee erklärte sie mir also, wie jedes Mal, dass sie der Meinung war, ich leide an einer Krankheit, die aber heilbar wäre. Sie habe sich informiert, es gäbe Psychologen und Selbsthilfegruppen, die einem dabei helfen konnten, wieder normal zu werden. Sie habe auch schon bei einigen angerufen, es seien „ganz nette, freundliche Leute“ und sie wäre auch bereit, die Kosten zu übernehmen.
Als ich schließlich genervt entgegnete: „Du hast doch nur Angst, dass du mal keine Enkelkinder hast, mit den du vor deinen Freundinnen angeben kannst“, brach sie fast in Tränen aus.
„Du nimmst das alles nicht ernst!“ rief sie aus und ließ sich scheinbar entkräftet auf einen Stuhl fallen. „Du weißt gar nicht, wie viel du uns allen bedeutest. Wir machen uns nur Sorgen, weil du offensichtlich vom richtigen Weg abgekommen bist. Aber du bist Gottes Kind und er wird dich mit offenen Armen wieder empfangen. Du musst ihn nur annehmen, aber im Moment lebst du so, wie es dir passt und vergisst, dass wir alle die Erlösung brauchen.“
Ich hasste diese Situation, denn so genervt ich auch immer tat und versuchte, alles an mir abprallen zu lassen, so merkte ich doch, wie es mir nahe ging. Es war hart, von seiner Mutter zu hören, dass es falsch war, wie man lebte.
„Warum empfängt Gott mich nicht mit offenen Armen, wenn ich Männer liebe?“ begann ich die ewige Grundsatzdiskussion.
„Es geht nicht darum. Es geht um die körperliche Lust, die du mit ihnen teilst. Es steht ganz klar geschrieben in der Bibel...“
„Mama, zitiere um Gottes Willen nicht wieder deinen Bibelvers.“
„Um Gottes Willen, sagst du! Du, der sich vor Gottes Wille verschließt. Es ist falsch, dass der Mann beim Manne liegt. Wie kann ich zusehen, wie mein einziger Sohn ins Verderben läuft?“
Das Schlimmste daran war, dass sie es wirklich ernst meinte. Meine Mutter glaubte an Himmel und Hölle, den himmlischen Retter, sie glaubte, dass man verloren war, wenn man Gottes Wort, das uns die Bibel verkündete, nicht befolgte. Als Kind hatte ich das alles auch einmal geglaubt. Ich war mit meiner Mutter in die Kirche gegangen und hatte mit vollem Herzen gebetet, hatte geglaubt, in Gottes Paradies aufgenommen zu werden, wenn ich so lebte, wie es die heilige Schrift befahl.
Und nun sollte ich also verstoßen sein. Die Pforten waren mir verschlossen worden, insofern ich nicht meine tiefsten Wurzeln ausriss, dieses schmutzige Begehren, dass ich so als gar nicht falsch empfand. Meine Natur sollte auf einmal falsch und verwerflich sein, ich war ein Sünder und das Schlimmste war, dass ich meine Sünden nicht einsah.
„Mama, ich habe niemanden ermordet, ich bin kein schlechter Mensch, ich stehle nicht, lüge nicht, tue niemandem etwas zu leide.“
„Aber du widerstehst den Versuchungen nicht.“
„Weil das Blödsinn ist. Wenn dir jetzt jemand erzählen würde, dass es Sünde ist, jeden Tag zu essen, würdest du dann damit aufhören?“
„Das hat mir nicht irgendjemand erzählt“ rief sie aus, den Tränen nahe. „Das steht in der Bibel, das ist Gottes Wort.“
„Nun lassen wir das“ brummte dann auf einmal mein Vater und ich war ihm so dankbar wie nie. „Er ist schließlich fast nie da und wenn du so weiter machst, kommt er überhaupt nicht mehr.“
Ich nickte ihm zu und meine Mutter seufzte verzweifelt.
„Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll“ jammerte sie und schüttelte den Kopf, als würde sie von einem heftigen körperlichen Schmerz geplagt. „Ich weiß einfach nicht mehr, was ich tun soll...“
„Tu einfach nichts“ murmelte ich und pickte ratlos die Kuchenkrümel von meinem Teller. Absurderweise fühlte ich mit ihr, denn Situationen, in denen ich nicht wusste, was ich tun sollte, kannte ich nur zur Genüge.
Nachdem sie von ihrem Trip heruntergekommen war, verlief der Nachmittag ganz akzeptabel. Sie fragte mich nach dem Studium und ich eröffnete ihr zum ersten Mal, dass ich meinen Master gerne in England machen würde. Ich hatte erwartet, dass sie mich sofort für verrückt erklären würde, doch sie nickte nur und fragte lediglich, wie ich es mit dem Geld machen wolle.
Schließlich verabschiedete ich mich und musste ihr versprechen, bald wieder zu kommen. Natürlich hatte mich der heutige Tag davon überzeugt, dass ich das ganz gewiss nicht tun würde, doch es tat gut, sie zu umarmen.
„Aber du schützt dich, nicht wahr?“ fragte sie mich zum Abschied.
„Wie meinst du?“
„Na, wegen AIDS.“ Ihr Blick war so ängstlich, dass ich beinahe lachen musste.
„Keine Sorge“ lächelte ich ihr beruhigend zu. „Ich bin weder dumm noch lebensmüde.“
Sie sah ein wenig beruhigt aus, so beruhigt, wie man eben sein konnte, wenn man sein Kind der ewigen Verdammnis überlassen musste.

Die Tage erschienen sinnlos und zogen sich hin wie Kaugummi, nachts schlief ich schlecht und fühlte mich am Morgen wie nach einer Schlacht. Vor allem hatte ich wirre Träume, in denen ich immer wieder Michi sah, nicht Robert, sondern Michi.
Michi erschien mir als unheilvoller Bote, er war das Symbol von Roberts Familienleben, das bisher immer nur eine abstrakte Instanz gewesen war und so weit von mir entfernt, weil ich es nicht erfahren hatte und nicht visualisieren konnte.
Nun war es auf einmal so präsent und immer wieder sah ich die Bilder aus dem Fotoalbum vor mir, Roberts junge Frau mit Michi als Baby auf dem Arm, Robert zwanzig Jahre jünger mit einem unschuldigen Lächeln auf dem Gesicht und noch nichts von der Bedrängnis ahnend, in die ich ihn stürzen würde.
Und dann wieder sein gealtertes Gesicht, schlafend neben mir, die grauen Strähnen, die Zeichen der Zeit, die uns trennte. Es war ein endloser Kreis, immer wieder kam ich an der gleichen Stelle an.
Es gab keine Zukunft.
Umso mehr sehnte ich mich dennoch plötzlich nach einem Zeichen von ihm, wartete wie nie zuvor auf seinen Anruf, der nicht kommen wollte, denn eines war mir klar geworden: Wenn wir schon keine Zukunft hatten, dann war es die Gegenwart, die zählte. Und ich wollte so viel aus ihr herausholen, wie nur irgendwie möglich war.
Am Donnerstagabend der darauffolgenden Woche sah ich endlich seinen Namen auf dem Display und mein Herz pochte heftig, wie immer, wenn ich abnahm.
„Hey“ murmelte ich und wartete darauf, seine Stimme zu hören.
„Hey“ kam es vom anderen Ende. „Wie geht’s dir?“
Das war die Eingangsfrage, wie ein Ritual, sie wurde jedes Mal gestellt.
„Gut“ sagte ich und wurde auf einmal von einer Welle von Emotionen überkommen. „Gut. Und dir?“
„Na ja“ kam es ehrlich von ihm und ich war überrascht. Normalerweise war an dieser Stelle keine Ehrlichkeit angebracht, normalerweise schwindelten wir uns unser perfektes Leben vor und ich war absolut nicht vorbereitet gewesen, die Wahrheit zu hören.
„Was ist los?“ fragte ich besorgt.
„Viel zu tun in der Firma.“ Seine Stimme klang leer und kraftlos wie nie zuvor und es erschreckte mich, ihn so zu hören.
„Und dein Sohn? Hat er etwas gesagt?“
„Nein“ kam es schlicht vom anderen Ende. „Ich glaube, er hat es uns abgenommen. Er hat nichts mehr gesagt und verhält sich so wie immer.“
Ich entspannte mich etwas und eine Sorge, die mich die letzten Tage ständig begleitet hatte, fiel von mir ab. Er würde mir nicht sagen, dass die ganze Sache aufgeflogen war und wir uns nicht mehr sehen konnten. Immerhin.
„Gut“ sagte ich leise.
„Ich vermisse dich“ kam es auf einmal vom anderen Ende und ich horchte auf. Trotz meiner chronischen Traurigkeit der letzten Tage fühlte ich mich auf einmal wieder leicht und unbeschwert, einfach, weil er mir sagte, dass ich ihm fehlte.
„Du mir auch“ antwortete ich wahrheitsgetreu.
„Ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen können“ kam es dann ernüchternd. Ich fühlte, wie der Boden unter meinen Füßen zu wanken schien. „Ich habe Angst... das letzen Samstag hat mir gezeigt, wie leichtsinnig wir geworden sind. Ich will so sehr Zeit mit dir verbringen, dass ich manchmal nicht mehr nachdenke, und dann passiert so was...“
„Das war ein blöder Zufall, mehr nicht“ unterbrach ich ihn und hoffte, er würde glauben, was ich selbst nicht einmal glaubte.
„Jo, sie will zu einem Paartherapeuten“ meinte er auf einmal. „Sie meint, ich verhalte mich so distanziert in letzter Zeit und irgendwie hat sie ja recht. Natürlich vermutet sie dahinter, was die meisten Frauen dahinter vermuten würden... und damit hat sie natürlich auch recht.“
Der Schwindel, der mich erfasst hatte, wurde stärker und ich musste mich setzen.
„Kein Problem“ beeilte ich mich zu sagen. „Du musst vorsichtig sein, schon klar. Dann sehen wir uns eben eine Weile nicht. Kein Problem. Melde dich einfach, wenn... wenn du wieder Zeit hast.“
Er schwieg einen Moment lang und ich hatte schon Angst, er würde etwas sagen, was mit Trennung zu tun haben könnte. Doch am Ende sagte er nur: „Ich wollte deine Stimme hören. Ich hoffe, die Dinge entschärfen sich ein bisschen und wir können uns bald wieder sehen.“
„Das hoffe ich auch.“
„Schön, dass du mich verstehst.“
Ich presste meine Lippen zusammen, um das verräterische Zittern meiner Stimme zu unterdrücken, als ich sagte: „Bis dann.“
„Mach’s gut, Jo.“
Das war es. Keine lieben Worte, keine Zuneigungsbekundungen. Unsere Telefonate waren schon immer nüchtern gewesen, doch nie hatte es mir so geschmerzt wie jetzt. Ein paar zärtliche Äußerungen hätten mir darüber hinwegtrösten können, dass ich wieder ohne ihn würde sein müssen und dass ich diesen Gedanken fast nicht aushielt. Doch nun blieb mir mal wieder nichts als endlose Leere, die die Zeit bis zu unserem nächsten Wiedersehen ausfüllen würde.

Ich hatte keine Lust, Paul zu sehen, genauso wenig wie irgendjemand sonst, doch er kam trotzdem vorbei. Sonntagnachmittag hörte ich die Klingel und mein erster Impuls war, sie zu ignorieren und weiter im Bett liegen zu bleiben. Zur Zeit schlief ich viel, obwohl ich jede Nacht ungefähr zehn Stunden im Bett verbrachte, fühlte ich mich nie ausgeschlafen und hatte immer das Bedürfnis nach mehr Schlaf.
Schließlich gab ich mir doch einen Tritt und schlurfte in meiner Boxerhorts zur Tür. Als ich Paul sah, hätte ich ihm beinahe die Türe wieder vor der Nase zugeschlagen, nicht wegen ihm, sondern weil ich absolut keine Lust hatte, zu reden. Doch sein besorgtes Gesicht hielt mich davon ab.
„Erklärst du mir bitte mal, was um Himmels Willen bei dir los ist?“ waren seine ersten Worte. „Du ignorierst meine Anrufe und hast dich seit letzter Woche kein einziges Mal gemeldet. Wenn du mir nicht einen sehr guten Grund lieferst, bin ich dir ziemlich böse deswegen.“
Ich seufzte.
„Komm rein“ sagte ich dann und trat zur Seite, um ihn hereinzulassen. Wir begaben uns in die Küche, wo ich die zweite Kanne Kaffee des Tages aufsetzte.
„Du hast abgenommen“ stellte Paul mit einem sachlichen Blick auf meinen Oberkörper fest.
Ich wusste das, schließlich aß ich kaum noch etwas, sondern ernährte mich vorwiegend von Kaffee und manchmal Tee, wenn mein Magen drohte, zu rebellieren.
Trotzdem zuckte ich nur mit den Achseln und meinte neutral: „Kann sein.“
Ich hatte bereits gemerkt, dass Paul seine Drohung, er würde mir böse sein, nicht wirklich ernst gemeint hatte, denn er kam nicht noch einmal auf die Frage zurück, warum ich mich nicht gemeldet hatte. Er schien gespürt zu haben, dass ich noch ein wenig Zeit brauchte, bis ich von mir aus erzählen würde.
Wir setzten uns mit dem Kaffee auf die Couch und ich fand noch ein paar Kekse im Schrank, das Erste, was ich heute zu mir nahm. Paul wühlte in meinen DVDs und wir schauten „African Queen“ mit Katherine Hepburn und Humphrey Bogart. Es fiel mir schwer, mich auf die Handlung zu konzentrieren und wurde immer wieder abgelenkt von der weiblichen Hauptrolle, die mich auf erschreckende Weise immer wieder an meine Mutter erinnerte.
Als der Abspann lief, saßen wir schweigend da und ich aß den letzten Keks. Auf einmal hatte ich gemerkt, was für einen Hunger ich eigentlich hatte, die ganze Zeit gehabt hatte.
„Hm“ meinte Paul nachdenklich und starrte ein wenig geistesabwesend auf den Boden. „Meinst du, die Beiden werden zusammen glücklich?“ bezog er sich auf die beiden Hauptcharaktere des Films.
„Wieso nicht? Sie haben ja genug Zeit miteinander verbracht.“
„Aber sie sind so verschieden... sie sind die ganze Zeit alleine auf diesem Boot und sind aufeinander angewiesen. Und wenn sie jetzt zurück in die Zivilisation kommen... glaubst du, das hält?“
Mein Kopf war wie leergefegt und ich hatte einmal wieder das seltsame Bedürfnis, zu heulen.
„Ich weiß nicht“ sagte ich nur und während ich sprach, fiel mir auf wie brüchig meine Stimme auf einmal geworden war. Pauls Blick richtete sich auf mich und ich sah wieder die anfängliche Sorge darin.
„Jetzt musst du mir aber erzählen, was los ist“ sagte er und er drückte mir sanft die Schulter. „Hat er Schluss gemacht?“
Ich schüttelte den Kopf und starrte zu Boden um vor ihm zu verbergen, dass meine Augen auf einmal in Tränen zu schwimmen begannen. Die ganze Zeit seit letztem Samstag hatte ich alles in mir zurückgehalten und nun brach auf einmal alles heraus, was sich angesammelt hatte.
„Mein Gott, Jo“ flüsterte Paul erschrocken, als ich den Kopf schließlich hob und die Tränen begannen, über meine Wangen zu laufen. Ich konnte es nicht verhindern, dass mein Körper vor unterdrückten Schluchzern zu beben begann.
„Nein, er hat nicht Schluss gemacht“ brach es aus mir heraus und auf einmal begannen die Worte zu sprudeln. Ich erzählte ihm alles, von letztem Samstag, von Michis überraschender Ankunft und meiner Flucht aus der Wohnung, den Babyfotos, vom Weinen in der U-Bahn und von Roberts Anruf am Donnerstag. Er hörte die ganze Zeit mit einer seltsamen Spannung im Gesicht zu, bis ich geendet hatte und mutlos ins Sofa zurücksank.
Eine Weile sagte er nichts, er schien meine Worte noch einmal zu überdenken, sie zu bearbeiten in seinem Kopf, dann fragte er leise: „Und jetzt?“
Ich fühlte einmal wieder, wie mich diese grundlose Wut überkam, wie ich wütend auf Paul war, weil er mir keinen Rat geben konnte, weil er die Situation nicht durchschaute und mir nicht sagen konnte, was ich tun sollte- im Gegenteil, dass er genauso ratlos war wie ich.
„Was weiß ich“ fauchte ich und starrte zum Fenster heraus in den Himmel, der begonnen hatte, sich mit Wolken zu überziehen.
Wieder schwiegen wir und mir wurde bewusst, wie dumm ich mich verhielt, dass ich sogar meinem besten Freund gegenüber aggressiv wurde, obwohl er überhaupt nichts dafür konnte.
„Sorry“ murmelte ich schließlich zerknirscht, schaffte es aber nicht, ihn dabei anzusehen. „Ich bin nur... ach, ich habe keine Ahnung, was ich machen soll. Ich habe immer gedacht, ich kann damit leben, dass er Frau und Kinder hat, aber langsam erkenne ich, dass ich nicht damit leben kann. Und dass ich eigentlich von Anfang an nicht damit leben konnte, aber dass ich es mir immer eingeredet habe.“
Paul sah mich die ganze Zeit von der Seite an, ich sah das aus dem Augenwinkel. Dann, als ich geendet hatte, rückte er ein Stück zu mir und legte mir die Arme um den Hals. Zuerst fand ich diese Geste beinahe lächerlich, aber dann spürte ich diese wohltuende menschliche Wärme, Wärme, die nicht, wie bei Robert, gleichzeitig auch mit Schmerz verbunden war, und lehnte mich zu ihm, ließ zu, dass er mich fest an sich zog und einen Moment lang nur so mit mir dasaß.
„Wäre es dann nicht...“ begann er, brach dann aber ab. „Nein, egal, vergiss es.“
Ich wusste was er sagen wollte und schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Ich weiß, was du sagen willst... ,Wäre es dann nicht besser, du machst gleich Schluss, wenn du jetzt schon merkst, dass es keinen Sinn hat?‘“
Er strich mir ein wenig über den Arm, hin und her, und ich hatte schon lange vergessen, wie beruhigend so eine Geste sein konnte.
„Ja“ sagte er dann leise nach einer Weile. „Wäre es das nicht?“
Ich seufzte und schloss die Augen.
„Das wäre es bestimmt“ meinte ich schließlich und wieder zitterte meine Stimme so verräterisch.
Ich befürchtete, er würde mich nun wieder belehren, aber Paul schwieg nur und ich war ihm dankbar. Im Grunde war seine Botschaft ja angekommen und ich verstand sie.
„Ich kann es irgendwie nicht“ überwand ich mich schließlich zu sagen. Es war schwer, diese Worte zu formulieren, hatte ich es mir ja selbst noch nicht eingestanden bisher. „Ich weiß nicht, wieso, aber der Gedanke... er ist so furchtbar. Es ist nicht so, dass ich Angst habe vor dem Alleinsein, ich war schon vorher alleine, ich weiß auch nicht, es...“
An dieser Stelle wurde meine Stimme zu brüchig dass ich aufhören musste zu reden und wieder ein lauter Schluchzer meine Kehle verließ. Verdammt, was war mit mir los? Ich war nichts mehr als ein weinendes Wrack, ein verzweifeltes, weinendes Wrack. Nichts mehr war übrig von dem alten Jo, der Nächte durchgefeiert hatte, immer gute Laune gehabt hatte und alle aufgemuntert hatte, wenn es ihnen einmal nicht so gut ging. Was war nur passiert?
„Du bist verliebt“ kam es schließlich leise von Paul. „Warum gibst du es nicht einfach zu? Deswegen ist es so schwer für dich. Du bist in ihn verliebt und deshalb willst du nicht, dass er aus deinem Leben verschwindet. Nichts anderes. Ganz simpel.“
Aus Pauls Mund klang es so einfach, so klar. Auf einmal hatte auch diese Floskel ihren Schrecken verloren. Mich zu verlieben war mir immer zuwider gewesen. Aber nun ging mir auf, dass dies die simple, einfache Erklärung für alles war. Mein Kummer, mein Schmerz, meine Angst, ihn zu verlieren, das alles hatte auf einmal einen Namen.
Ich schluchzte auf und merkte gleichzeitig, dass sich in mein Weinen ein trockenes Lachen gemischt hatte. Zögerlich löste ich mich von Paul und richtete mich ein wenig auf. Mit einer Hand wischte ich mir die Tränen vom Gesicht und meinte schließlich bitter:
„Dann muss ich mich wieder ein wenig zusammenreißen, hm? Das muss ja irgendwann wieder aufhören.“
Paul grinste mich an, obwohl es kein heiteres, fröhliches Grinsen war, sondern eher ein freudloses, mitleidiges.
„Sicher hört es irgendwann auf“ meinte er, aber es hörte sich nicht im Geringsten überzeugend an.

Zwei Wochen lang hörte ich nichts von Robert, zwei bittere Wochen.
Obwohl ich mir bewusst war, dass ich mich wirklich besser zusammengerissen hätte, war ich fast die ganze Zeit am Heulen. Es war total unmännlich und kindisch, das war mir bewusst, aber es half mir, mit der Situation fertig zu werden. Ich hatte das Gefühl, dadurch gereinigt und ein wenig ernüchtert zu werden und wieder zur Realität zurückzufinden.
All die abstrusen, bedeutungslosen Wörter bekamen auf einmal einen Sinn: Affäre, Verlassen, verliebt sein, Schmerz. Ich wurde mir bewusst, was in den letzten Wochen und Monaten mit mir passiert war: Ich hatte mich mit einem verheirateten Mann eingelassen, der mein Vater sein könnte, hatte mich heillos in ihn verliebt, hatte dafür mein Leben und meine Freunde vernachlässigt, hatte mich verändert, war nicht mehr derselbe wie früher. Irgendwie hatte ich das alles ja schon vorher gewusst, aber nun sah ich all diese Dinge mit einer ernüchternden Klarheit und ohne romantische Verklärtheit. Und ich merkte, dass das alles mich viel zu unglücklich machte, um wirklich gut für mich zu sein.
Nach zwei Wochen klingelte am Donnerstagabend das Telefon. In meinem Herz meldete sich das altbekannte, schmerzhafte Ziehen und die Freude, die ich immer bei seinem Anruf verspürte.
„Hallo“ meldete ich mich. Ich musste lächeln, als ich seine Stimme hörte. Wieder einmal schien die bloße Tatsache, dass er mir anrief, all die Zweifel und vorangegangenen Sorgen auszuwischen. Aber diesmal eben nur fast.
„Hey“ hörte ich ihn endlich wieder. „Wie geht’s dir?“
„Nicht so gut“ sagte ich wahrheitsgetreu.
„Was? Wieso? Ist was passiert?“ fragte er sofort und die Sorge, die in seiner Stimme lag, ließ mir ganz warm werden.
„Nichts wirklich, es ist einfach viel los. Ich denke viel nach.“
Er klang beunruhigt, als er fragte: „Über uns?“
„Auch“ antwortete ich. „Aber das ist jetzt egal. Wie geht es dir?“
„Auch nicht so gut.“ Die Ehrlichkeit, mit der wir uns neuerdings unterhielten, gefiel mir.
„Wieso?“
„Ach, meine Frau dreht ziemlich am Rad. Ich bin mit ihr zu dieser Therapie gegangen und...“ er atmete tief ein. „Sie haben uns all diese blöden Tipps gegeben, weißt du... ach, keine Ahnung. Nun scheint sie wenigstens ein bisschen beruhigt zu sein und meint ständig, wir würden alles wieder in Griff kriegen.“
„Hm. Hoffentlich.“
Einen Moment lang herrschte Stille, ich hörte nur seinen tiefen Atem und spürte, dass er nicht wirklich wusste, was er sagen sollte. Dass er sich lange überlegt hatte, was er sagen würde und nun die richtigen Worte nicht fand.
„Es tut mir leid, dass du so lange warten musstest. Du meintest doch letztens, du willst mal mit mir ausgehen? Wenn du willst, können wir das morgen machen, was meinst du?“
Mein Herz tat einen freudigen Hüpfer bei diesen Worten. Die schwarzen Wolken, die über meiner kleinen Welt gehangen hatten, schienen sich etwas zu lichten und auf einmal schien da doch eine kleine Ruhepause von dem ganzen Nachdenken, dem ganzen Für- und Wider, zu sein. Vielleicht war alles doch noch nicht so unrettbar verloren.
„Ja, gerne“ entgegnete ich strahlend. „Dann machen wir das. Hast du lange Zeit?“
„Nein“ sagte er. „Aber vielleicht ein paar Stunden. Ich habe gesagt, dass ich mit alten Freunden was trinken gehe und sie hat nicht näher nachgefragt. Wahrscheinlich, weil ihr der Therapeut gesagt hat, dass sie auch loslassen können muss.“
Ich musste lächeln. „Schön. Also dass es klappt. Ist egal, wie lange, nützen wir einfach die Zeit. Kommst du nach der Arbeit zu mir?“
„In Ordnung“ sagte er. „Essen wir was und gehen dann weg, in Ordnung?“
„Ja. Super“ antwortete ich.
Wir verabschiedeten uns und legten auf. Mir war bewusst, dass ich die ganzen Gedanken, die mich beschäftigten, für den morgigen Abend beiseite würde schieben müssen, aber das war es wert. Ein Abend mit Robert, wir beide, in der Öffentlichkeit. Wir würden Händchen halten können, tanzen, alle würden uns sehen und keinen würde es kümmern.
Zumindest für morgen würde alles beim Alten sein. Nur noch ein bisschen länger, nur noch ein bisschen.

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