Story: RPG Storyverse (Modernverse & generell AU)
Genre: Romance
Warnings: Alkoholkonsum
Rating: 16+
Charaktere: Alexandre & Simón (& Océane & Alyssé)
Ficathon:
daswaisenhaus, Prompt [3142]
Challenge: 120er (memory)
Sonstiges: soft bi boys mit unrequited crushes, die dann doch nicht so unrequited sind, sind mein jam, sorry not sorry.
I just hope that one day, preferably when we're both blind and drunk, we can talk about it.
I.
Simón ist sich ziemlich sicher, dass er Alexandre nie geliebt hat. Alles, was zwischen ihnen je war, ist die beste Freundschaft seines Lebens.
(Und vielleicht ein kleines Bisschen mehr.)
II.
Océane sieht glücklich aus, wenn Alex unter dem Tisch nach ihrer Hand greift und sie anlächelt. Sie errötet, wenn er sie auf die Wange küsst, er bringt sie oft zum Lachen und sie spielt verlegen mit einer ihrer hellen Locken, wann immer er ihr ein Kompliment macht. Sie wirkt auch nach all den Jahren noch wie frisch verliebt, genau wie damals, als sie noch ein kleines Mädchen war, gerade alt genug, um ihrem großen Bruder stolz zu verkünden: Simón? Ich hab' mich in deinen besten Freund verliebt. Genau wie damals, als sie, irgendwann zwischen dem ersten Kindheitsschwarm und der perfekten Ehe, unter Tränen und gleichzeitig freudestrahlend sagte: Simón? Ich werde deinen besten Freund heiraten.
Simón hasst es, dass er seiner kleinen Schwester ihr Glück nie voll und ganz gönnen kann. Dass er sich manchmal wünscht, sie hätte sich in eine andere Person verliebt. Dass er sich manchmal fragt, was gewesen wäre, hätte sie Alexandre nie wiedergesehen. Und er hasst es, dass es nie vollkommen ehrlich ist, wenn er sagt: Ich bin glücklich, solange du glücklich bist.
III.
In seiner Erinnerung kickt Alexandre einen Stein vom Wegrand vor sich her, vergräbt die Hände in den Taschen seiner Jeans und lächelt sein undeutbares Lächeln, den Blick gesenkt.
»Du bist ihre erste große Liebe«, sagt Simón. »Versau's bitte einfach nicht, in Ordnung?«
Sie gehen nebeneinander her Richtung Sonnenuntergang, Richtung nach Hause, und vielleicht ist es der falsche Moment für ein Gespräch über Océane, aber genau der richtige Moment für den scheuen Blick von der Seite, den Alexandre ihm zuwirft und der Simóns Puls einen Schlag lang aussetzen lässt. Unwillkürlich hält er einen Augenblick inne.
»Sie … ist doch auch deine, oder?«, fragt er, um zu überspielen, dass ihn mit diesem ganz bestimmten Blick auch eine ganz bestimmte Erkenntnis getroffen hat.
Alexandre hält ebenfalls inne. Ein scheint für ein paar quälend lange Sekunden erstarrt, wie im grellen Licht eines auf ihn zu rasenden Zugs, aber dann sieht er weg, der Moment ist vorbei und sie gehen weiter nebeneinander her durch die weite Landschaft, einen ausgetretenen Pfad zwischen von orangeroter Sonne beschienenen Feldern entlang.
»Vielleicht ist sie das«, murmelt Alexandre noch, bevor sie in stiller Übereinkunft beschließen, nicht weiter ins Detail zu gehen.
Vielleicht ist sie das, denkt Simón. Und vielleicht ist das das erste Mal, dass sie nicht darüber reden, obwohl sie wahrscheinlich sollten.
IV.
Eigentlich ist zwischen Familienfeiern in teuren Restaurants, einer unbeholfenen Umarmung zur Begrüßung, den höflichen Fragen (Und, wie lebt es sich so, mit meiner Schwester als Ehefrau?) und dem seltsam angespannten Schweigen, wenn sie für ein paar Minuten allein sind, kein Platz für die Blicke, die Simón einfach nicht ausblenden kann.
Keine Absicht, sagt er sich in Gedanken immer wieder. Es ist bestimmt keine Absicht. Und erst recht kein Anlass, das Thema schon wieder aufzubringen. Kein Anlass, eine Grenze zu überschreiten, die sie beide vor langer Zeit gesetzt haben - und um die sie seither herumtanzen als läge dahinter das größte Abenteuer ihres Lebens; die eine Sehnsucht, die sie sich nie erfüllen dürfen. Kein Anlass für irgendwelche Abweichungen von ihrem üblichen Muster der Verdrängung, wirklich nicht. Keine Absicht. Nur Zufall.
»Du fehlst mir«, sagt Simón trotzdem, als Alexandre neben ihn an das Waschbecken im Vorraum der Restauranttoilette tritt.
»Und das, obwohl wir uns in letzter Zeit eigentlich regelmäßig sehen?« Alexandre versucht, es amüsiert und ungezwungen klingen zu lassen, aber sein nervöses Lachen und der Blick, den er ein kleines Bisschen zu schnell abwendet, verraten ihn.
Simón will sagen: Denk nicht, dass ich nicht weiß, dass du lügst. Denkt nicht, dass ich nicht weiß, dass du genau verstehst, was ich meine; dass du mich auch vermisst - auf diese ganz bestimmte Art. Denk nicht, dass -
Simón zuckt mit den Schultern und sagt gar nichts.
V.
Alexandre sieht glücklich aus; glücklich in seiner Ehe, in seinem Job, in seinem Dasein als junger Mann, der gerade dabei ist, sesshaft zu werden und sich ein eigenes Leben aufzubauen; ein Leben, das die Schrecken der Vergangenheit, die sie alle erlebt haben, mühelos in den Schatten stellen wird. Seine Augen leuchten, sein Lachen ist meistens echt und er wirkt unbeschwert, als er sich nach dem Essen verabschiedet, Alyssé lange umarmt, mit einem Mach’s gut und einem Winken in seinen Familienwagen steigt und mit Océane nach Hause fährt.
Simón hasst es, dass er seinen besten Freund nicht einfach in Ruhe lassen kann. Dass er Alexandre immer wieder daran erinnert, was war und was gewesen sein könnte, bei jeder sich bietenden Gelegenheit - obwohl er noch nicht einmal selbst darüber nachdenken will. Er hasst es, dass er immer noch denkt, dass Alexandre zu ihm gehört; dass er ein kleines Bisschen mehr Besitzanspruch auf ihn erhebt, als er eigentlich sollte.
VI.
In seiner Erinnerung sitzen sie nebeneinander auf dem aufgeheizten Pflasterstein der Altstadt. Es ist Spätsommer; Simón ist betrunken, ihm schwirrt der Kopf vor Rotwein und Whisky und er flucht seit Stunden über seinen letzten Streit mit Alyssé, über Frauen allgemein und sowieso über das ganze Leben. Alexandre hört ihm zu, ohne sich zu beklagen. Ebenfalls seit Stunden.
Simón seufzt, öffnet die obersten beiden Knöpfe seines Hemds, fährt sich mit einer Hand durchs Haar. Er weiß nicht mehr, was er noch sagen soll, also zuckt er bloß mit den Schultern und seufzt noch einmal.
Alexandre scheint es ähnlich zu gehen, denn auch er sagt gar nichts mehr. Aber einen Moment später legt sich seine Hand auf Simóns; und Simón zieht seine Hand nicht weg. Er ahnt bereits, dass er sich am nächsten Morgen dafür verfluchen wird, aber er kann es nicht lassen -
»Wenigstens«, flüstert er, »bist du immer da. Mit dir hab ich nie solche Probleme.«
Als er seinen Blick zu Alexandre schweifen lässt, zuckt der bloß mit den Schultern.
Vielleicht, denkt Simón, während er ein Bisschen zu lang Alexandres Blick erwidert, dann ein Bisschen zu lang auf seine Lippen starrt, dann ein Bisschen zu lang darüber nachdenkt, dass er es auf den Alkohol schieben könnte. Vielleicht könnte er einfach -
VII.
Alyssé ist glücklich; Simón spürt das ganz genau. Er spürt es, wenn sie ruhig neben ihm schläft, ohne Albträume, ohne Schreie und ohne Schlafparalysen. Er spürt es, wenn sie ihm sagt, dass sie ihn liebt und es mit jeder Faser ihres Seins so meint. Er spürt es auch an diesem Abend, als sie sich neben ihm auf die Matratze sinken lässt und sagt: »Liv schläft seelenruhig. Gott sei Dank.« Mit diesem kleinen, verschmitzten Lächeln, das bedeutet: So haben wir noch ein wenig Zeit für uns.
Simón hasst es, dass er der Einzige ist, der mit den Dingen so, wie sie sind, nicht glücklich sein kann -
Er hasst jedes Was wäre, wenn.
Er hasst es, dass er immer mehr will als er haben kann.
VIII.
Wieso tust du das?
Die SMS ist irgendwann in den frühen Morgenstunden eingetrudelt. Simón hat noch geschlafen und das Handy auf lautlos gehabt. Er liest die Nachricht zweimal, dreimal, zwangzigmal und fragt sich, ob Alexandre sie geschrieben hat, kurz bevor er zur Arbeit gefahren ist, oder eher nach einer schlaflosen Nacht, nach dem Erwachen aus einem Albtraum, oder vielleicht alles davon oder ganz anders.
Er stellt sich jedes Szenario vor, das ihm einfällt -
Alex vor der Haustür, in seiner Uniform, noch einen Klecks Zahnpasta im Mundwinkel, seinen Schlüsselbund in der Hand, kurz innehaltend auf dem Weg zum Auto, um mit der freien Hand die halb wütende, halb träumerische Nachricht zu verschicken, die ihm seit Tagen im Kopf herumgeistert. Seufzend und den Kopf schüttelnd, aber gleichzeitig lächelnd.
Alex, der sich im Bett hin- und her wälzt, stundenlang, sich immer wieder an Océane ankuschelt, sich das verschwitzte Haar aus der Stirn streicht, bis er schließlich aufgibt und aufsteht und duschen geht. Alex, nur im Handtuch, Wassertropfen auf den Schultern, der sich die müden Augen reibt und zehnmal die gleiche Nachricht tippt, immer neu formuliert, bevor er sie dann doch so abschickt, wie er sie beim ersten Versuch geschrieben hat.
Alex, der schweißgebadet aufwacht, Océane nicht aus ihrem ausnahmsweise ruhigen Schlaf reißen will, und mit jemandem reden muss, aber es nicht ertragen könnte, jemandem zur Last zu fallen; Alex, der nicht weiß, wie man Ich hab scheiße geschlafen und Mist geträumt, bitte lenk mich ab sagt, weil er nie gelernt hat, anderen mit seinen Problemen auf die Nerven zu gehen, und stattdessen nur schreibt: Wieso tust du das? - Ein Bisschen Vorwurf und ein Bisschen der verzweifelte Versuch, irgendetwas zurückzubekommen für all das, was er für diese Freundschaft bereitwillig hergegeben hat, irgendetwas nur, ohne direkt danach fragen zu müssen.
- »Was ist los, chéri?«, will Alyssé wissen, und Simón schüttelt all die Szenarien ab und tut so, als gäbe es keine Szenarien, keine Gedanken, in denen er sich einen Moment lang verloren hat.
Wieso tue ich was?, schreibt er zurück, obwohl er genau weiß, was Alexandre meint.
Er legt das Handy auf den Nachttisch und dreht sich noch einmal um, schmiegt sich an Alyssé und versucht, zu vergessen, wieso er das tut, immer wieder, seit Jahren. »Nichts«, sagt er. »Nichts ist. Lass uns noch ein wenig schlafen.«
IX.
In seiner Erinnerung wacht er zu graublauem Licht durch weiße, seidene Vorhänge auf - neben Alexandre. Nichts Unübliches. Nicht das erste Mal, dass sie nebeneinander schlafen, nachdem sie einen Abend zusammen verbracht haben. Aber das erste Mal, dass ihn ein wenig mulmig wird - auf die gute Art -, als er danach aufwacht und sein Blick als erstes auf Alexandres nackte Schultern im Morgenlicht fällt. Morgenlicht, das alles weichzeichnet und die ganze Szene irgendwie unwirklich scheinen lässt; als sei alles nur ein schöner Traum und nichts weiter.
Simón ringt nicht lange mit sich. Er denkt noch nicht einmal großartig darüber nach, bevor er eine Hand nach Alexandre ausstreckt, seine Fingerspitzen über Nacken, Schultern, Wirbelsäule wandern lässt. Ganz leicht nur, kaum etwas, was man als Berührung bezeichnen könnte.
Alexandre schaudert und Simón zieht seine Hand zurück. Das ist der Moment, in dem er etwas sagen sollte. Irgendetwas Neckisches, Schlagfertiges. Irgendetwas, was sie beide zum Schmunzeln bringt und überspielt, wie seltsam intim dieser Augenblick war. Doch er bleibt stumm und sieht dabei zu, wie sein bester Freund sich langsam zu ihm umdreht.
Morgenlicht. Klares, weiches, helles Morgenlicht, das sich in meerblauen Augen bricht, die ihn anfunkeln, erfüllt von demselben warmen Lächeln, das auch auf Alexandres Lippen liegt.
»Guten Morgen«, murmelt er. Lächelnd. Undeutbar lächelnd.
»Guten Morgen«, entgegnet Simón, zu perplex, um irgendetwas anders zustande zu bringen.
Wieder hebt sich seine Hand. Wieder ohne dass er darüber nachdenkt. Dieses Mal fahren seine Fingerspitzen an Alexandres Schlüsselbein entlang, mit derselben Vorsicht, derselben Leichtigkeit wie gerade eben.
Wie in Trance sieht er dabei zu, wie Alexandre nach seiner Hand greif und sie festhält. Wie er sie zu seinen Lippen führt, während er Simóns Blick auffängt. Dann dieses flüchtige Bild, so schnell wieder verschwunden, dass alles umso mehr einem Traum gleicht: Alexandres Lippen an Simóns Fingerknöcheln, nicht mehr und nicht weniger. Und dabei die ganze Zeit diese furchtbar ehrlichen Augen, dieser Blick, der alles zu sagen scheint, was sie noch immer nicht aussprechen können.
X.
Du weißt genau, was ich meine. Dich immer wieder in meinem Kopf einnisten. Das tust du. Wieso?
Die Antwort kommt, als er gerade mit Alyssé beim Abendessen ist. Sie haben Sushi bestellt und Alyssé sieht Simón mit hochgezogener Augenbraue an, während sie ein Stück Avocado-Maki zwischen die Stäbchen nimmt. Sie fragt nicht, mit wem er schreibt, aber es steht zwischen ihnen im Raum wie ein Fragezeichen, das sich nicht greifen lässt.
»Alex«, erklärt er. Und dann die Lüge: »Wegen nächstem Wochenende.«
Alyssé nickt, beäugt ihn noch einen Moment lang skeptisch, isst dann aber weiter und schenkt ihm und seiner SMS keine weitere Beachtung.
Es war ein Fehler. Vier Worte. Eine Lüge. Aber er schreibt die Lüge schnell und schickt sie sofort ab, als sei sie gar nicht so wichtig, wenn er bloß nicht zu lange darüber nachdenkt. Und dann die Ergänzung: Hätte nicht vorkommen sollen. Tut mir leid. Nächstes Mal halte ich die Klappe.
Simón streckt eine Hand nach Alyssé aus, streichelt ihr mit dem Daumen über den Unterarm, lächelt sie an. Sie erwidert das Lächeln und er hält sich mit Mühe davon ab, das Handy sofort wieder zur Hand zu nehmen und von da an alle fünf Minuten zu checken, ob nicht doch eine neue SMS angekommen ist.
XI.
Alexandre antwortet nicht. Einen Tag lang. Zwei Tage. Drei Tage. Er telefoniert einmal kurz mit Alyssé, und Océane schreibt, es sei alles in Ordnung bei ihnen, aber er antwortet nicht. Wenn Simón sich ganz genau darauf konzentriert, dass er eine Firma zu leiten, eine Tochter zu erziehen und eine Ehefrau zu lieben hat, dann stört es ihn fast gar nicht, dass die SMS, die er nicht will und doch will, einfach nicht kommt.
XII.
In seiner Erinnerung küsst er Alexandres Schulter. Seinen Nacken. Seinen Hals. Simón kann sich nicht daran erinnern, je einem anderen Mann so nah gewesen zu sein, nicht auf diese Weise, aber in diesem Augenblick fühlt es sich seltsam richtig an; es fühlt sich an wie etwas, was er schon längst hätte tun sollen.
Er schließt die Augen, seine Zähne hinterlassen einen leichten Abdruck in Alexandres Haut, und er ist sich sicher, er wird diesen Moment nie vergessen: Dieses leise Geräusch, halb Stöhnen, halb unausgesprochene Frage; wie Alexandre sich unter seiner Berührung anspannt, zusammenzuckt mit jeder kleinsten Bewegung; dieses unfassbare Herzklopfen, als er sich die Worte zurecht legt, die er sagen will und dann doch nicht sagt. Wie so oft.
Alexandre atmet schnell ein, als wollte auch er etwas sagen, aber dann tut er es nicht, und wieder schweigen sie nur.
Es braucht nicht mehr als einen fragenden Blick über die Schulter hinweg. Ein Nicken. Ihre Lippen, die sich berühren, und ihre Körper, die sich dichter aneinander drängen, ohne dass sie sich dagegen wehren könnten - oder wollten.
Es braucht nur das: Die Ehrlichkeit in allem, was nicht ausgesprochen werden muss. Damit ist alles zwischen ihnen gesagt.
XIII.
Es tut dir nicht leid. Und es war auch kein Fehler. Das wissen wir beide.
Simón liest die SMS immer wieder. Seit er im Bett liegt und das Licht gelöscht hat, taucht das leuchtende Handydisplay das Schlafzimmer in einen kühlen Schein und seine Augen suchen diese drei simplen Sätze immer wieder ab - wonach genau, weiß er selbst nicht. Nach einer versteckten Bedeutung vielleicht. Nach irgendetwas, was den Worten ihre entwaffnende Ehrlichkeit nimmt, ihre Klarheit, die ihn so unvorbereitet und zielsicher trifft, dass er am liebsten so tun würde, als hätte gäbe es diese Worte gar nicht.
Was auch immer er sucht - er findet es nicht. Die ganze Nacht lang, bis in den frühen Morgenstunden sein Wecker klingelt.
XIV.
»Alex …« Simón atmet ganz bewusst lang ein und wieder aus, und er versucht, zu ignorieren, dass er dadurch nur Alexandres Geruch noch intensiver wahrnimmt - sein Parfüm (das, das er schon seit Jahren benutzt - das, das Simón ihm irgendwann geschenkt hat, einfach weil es so gut zu ihm passt), gemischt mit seinem vertrauten Eigengeruch, den Simón nicht so gut kennen will, wie es ihm in diesem Augenblick bewusst wird. »Alex, du bist betrunken.«
»Scheiße, ja. Ich bin sowas von betrunken.« Alexandre lacht leise auf, aber es klingt nicht fröhlich, nicht im Geringsten. »Aber das macht es nicht weniger wahr.«
Simón lehnt an seinem Schreibtisch; seine Fingerknöchel treten weiß hervor, weil er die Tischkante so fest umklammert. Alexandre steht direkt vor ihm. So nah, dass ihre Körper sich berühren, an all den flüchtigen Stellen, an denen man es kaum spürt, und doch gerade genug, dass das Herz wie von allein ein wenig schneller schlägt. Es ist die Art von Distanz, die die reinste Qual darstellt, gerade, weil sie so gering ist, dass es nicht mehr bräuchte als eine kleine Bewegung -
»Ich fühle dasselbe, wenn ich nüchtern bin. Ich weiß das. Du weißt das.« Dieser Blick ist kaum zu ertragen, denkt Simón. So klar und weich und voller aufrichtiger Zuneigung, dass es beinahe wehtut. »Ich … könnte es dir nur nüchtern nie sagen.«
Vielleicht, denkt Simón, ist das der richtige Zeitpunkt. Vielleicht der absolut falsche. Vielleicht ist es gar kein Zeitpunkt für irgendwas, sondern nur das Fragment eines Traums, das sich an einem heißen Juliabend in sein Büro verirrt hat, ein flüchtiger, unwirklicher Moment zwischen stapelweise Formularen, dem Rauschen der Computerlüftung, der flirrenden Hitze und der Tatsache, dass Simóns Blick Alexandres Fingern folgt, als diese zu seinem Hemdkragen wandern und diesen zurechtrücken, beiläufig, als sei nichts dabei -
XV.
In seiner Erinnerung sagt Alexandre: »Meine erste große Liebe …« Es ist kaum mehr als ein Hauch und Simón versucht, sich gegen das, was jetzt unausweichlich kommt, zu wappnen, aber es gelingt ihm nicht, nicht zusammenzuzucken, als die Worte endlich fallen: »Das warst du.«
Er starrt lange ins Leere, und dann sagt er: »Ich - …«, ohne zu wissen, wo der Satz, den er gleich wieder abbricht, überhaupt hinführen sollte.
Es gibt diese Wahrheit, die schon lange zwischen ihnen steht, und jetzt wurde sie endlich ausgesprochen.
Simón seufzt und lässt es zu, dass Alexandre den Kopf gegen seine Schulter lehnt.
»Es ist okay«, sagt er nach einer Weile, als von Simón immer noch keine Antwort gekommen ist. »Du musst nichts dazu sagen. Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest. Nichts, worüber wir reden müssen. Ich wollte nur, dass du das weißt.«
Die Melancholie hüllt sie ein wie eine dichte, graue Decke, durch die alles surreal aussieht, sich surreal anfühlt, als sei das hier eine Szene irgendwo zwischen Zeit und Raum, irgendwo fernab ihrer normalen Realität, mit der sie sich mittlerweile so gut arrangiert haben.
Simón haucht Alexandre einen Kuss auf die Schläfe und sagt: »Ich hoffe, wir können trotzdem irgendwann darüber reden. Auch wenn wir nicht müssen.« Er spürt ein Lächeln, das an seinen Lippen zieht, aber sein Inneres nicht erreicht. »Am besten, wenn wir beide betrunken sind und nichts anderes mehr im Kopf haben als uns.«
XVI.
Simón weiß nicht, ob er glücklich ist. Er weiß nur: Sein Leben ist toll, ist es wirklich, die meisten würden ihn darum beneiden. Man könnte beinahe sagen, es sei perfekt, aber irgendetwas fehlt, irgendjemand, und jetzt sitzt er mit diesem irgendjemand auf dem Dach seines Bürogebäudes und sieht dem Himmel dabei zu, wie er langsam von Nachtschwarz zu Graublau wechselt; der Anfang eines neuen Tags, und vielleicht, klischeehafterweise, der Anfang von viel mehr als nur das.
Alexandre hat den Kopf auf Simóns Schoß gebettet, und nachdem er eine ganze Weile vor sich hingedöst hat, müde vom Alkohol und von dessen abklingender Wirkung, schlägt er nun wieder die Augen auf. Blinzelt irritiert. Und blinzelt noch mal, als er aufblickt und sich daran erinnert, wo er ist. Und mit wem.
»Hey«, sagt Simón. Seine eigene Stimme kommt ihm ungewöhnlich sanft vor, beinahe befremdlich. Er kann sich nicht davon abhalten, Alexandre eine der dunklen Haarsträhnen aus der Stirn zu streichen.
»Hey«, kommt ein wenig verzögert die Erwiderung. So leise, dass es beinahe im fernen Rauschen der Großstadt untergeht.
In seiner Erinnerung hört Simón sich selbst sagen: Ich hoffe, wir können trotzdem irgendwann darüber reden.
Über der Stadt bricht träge ein neuer Tag herein, und Simón sollte eigentlich seit Stunden zu Hause sein, in seinem echten Leben anstatt in dieser Traumwelt aus Erinnerungen und Sehnsucht, in der Momente wie dieser möglich sind. Er ist weit davon entfernt, betrunken zu sein und an nichts mehr zu denken, was sich nicht genau jetzt zwischen ihnen abspielt, und auch Alexandre ist längst wieder mehr nüchtern als alles andere, und es ist ganz bestimmt nicht der richtige Moment dafür - aber es fühlt sich an, als sei jetzt gar kein so schlechtes irgendwann.
»Was ist?«, fragt Alex, als hätte er erraten, dass Simón sich gerade den Kopf darüber zerbricht, ob er dieses Mal vielleicht wirklich etwas sagen wird.
Simón lächelt unwillkürlich. »Zwei Dinge.«
»Die da wären?«
»Ich will dich küssen.« Simón ist selbst erstaunt darüber, wie leicht es ihm fällt, das geradeheraus zu sagen.
Alexandres Lippen öffnen sich, doch er weiß nicht sofort etwas zu erwidern. Sieht Simón mit großen Augen an und beißt sich verlegen auf die Unterlippe, bevor er antwortet: »Das … lässt sich bestimmt einrichten. Und die zweite Sache?«
Simón atmet tief durch und schiebt all die Gründe, doch weiter zu schweigen, beiseite. Irgendwann, hat er damals gesagt. Auch wenn wir nicht müssen. »Können wir reden? Über …« Er stockt für einen kurzen Moment, während er nach den richtigen Worten sucht und mit einem Mal feststellt, dass es einfach keine richtigen Worte gibt - und vermutlich auch keine falschen. Nur Worte, die endlich gesagt werden müssen. »Über das, worüber wir nie geredet haben?«