Brothers

Feb 24, 2017 22:18

No Ficathon this time ...

Fandom: Original
Characters: Killua & Noel
Rating: P-16
Genre: drama
Warning: child abuse (angedeutet), suicidal thought, SVV (angedeutet), highly emotional

Er ... sollte nicht hier sein.
Etwas tief in ihm wehrte sich vehement dagegen, durch die Haustür zu gehen.
»Ich bin Ryan MacFarlene. Wir haben miteinander telefoniert.«
Er sah zu seinem Freund, der an der Anmeldung stand (wenn man es in einem betreuten Wohnheim überhaupt so nennen konnte, aber was spielte das schon für eine Rolle) und mit einer älteren Frau sprach, deren Englisch nicht sonderlich gut war, aber ausreichte, um sich verständlich zu machen.
»Es freut mich, dass sie gut in Deutschland angekommen sind. Bitte folgen Sie mir. Und Sie sind dann wohl Killua?«
Ryan und die Frau drehten sich zu ihm um und Ersterer reichte ihm die Hand. »Komm schon - jetzt dauert es nicht mehr lang.«
Er hatte keine Ahnung, wie Killua sich gerade fühlte. Seine Beine waren schwer wie Blei. Der Flug steckte ihm noch in den Knochen. Er hasste es zu fliegen. Aber diese Angst war nichts im Gegensatz zu der, die sich gerade durch seinen Körper fraß. Stunden hatte er Zeit gehabt, um darüber nachzudenken, was er tun oder sagen sollte, wenn er seinen Bruder wiedersah. Er wusste es jetzt noch nicht. Ryan hatte das alles in die Wege geleitet. Es sollte eine Art ... Heilung werden. Wenn er sich mehr an seine Vergangenheit erinnerte, dann hörten vielleicht die Alpträume auf, die ihn in letzter Zeit immer wieder heimsuchten. Killua hatte daran geglaubt, doch je näher der Tag gerückt war, desto nervöser war er geworden und ... er war nie nervös. Mit dem Gefühl konnte er einfach nicht umgehen.
Aber er griff nach der dargebotenen Hand und gemeinsam folgten sie der Betreuerin.

Es gab Gemeinschaftsräume und viele Zimmer, die sich aneinanderreihten. Killua sollte es nicht überraschen, dass sein Bruder hier untergekommen war. Wenn er darüber nachdachte, was der durchgemacht haben musste, verengten sich seine Innereien (zumindest die, die übrig waren).

Irgendwann hielt die Frau vor einer Tür inne, an die sie klopfte. Es war schon recht spät. Vermutlich rechnete hier keiner mehr mit Besuch, denn die meisten Zimmertüren waren schon geschlossen.
»Noel! Du hast Besuch.«
»Ich warte dann unten. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst, okay?« Ryan ließ seine Hand los, hob die eigene kurz an die kühle Wange und gab Killua einen sanften Kuss. »Du schaffst das.«
»Ich ... weiß nicht.«
Killua hörte, wie eine tiefe Stimme im Zimmer fragte, wer denn zu Besuch kam und als die Frau seinen Namen nannte, setzte sein Herzschlag für einen Moment lang aus. Er hörte Geräusche im Zimmer. Dann Schritte.
»Killua? Ich kenne keinen ...«
Ein Mann Ende 20 trat auf den Flur hinaus und geriet in dem Moment ins Stocken, als er den ominösen Besucher erblickte. Killua starrte diesen jungen Mann einfach nur an. Fast so groß wie er, die gleichen schwarzen Haare, das gleiche kantige Gesicht, nur etwas schlanker war er. Frische Verbände waren um seine Unterarme gewickelt. Killua schluckte und wollte etwas sagen, aber ... da kam einfach nichts.
Seinem Gegenüber ging es ganz ähnlich. Hätte Noel etwas in der Hand gehabt, wäre es haltlos zu Boden gefallen.
Das ... konnte nicht sein.
»Die ... Ähnlichkeit ist verblüffend«, meinte seine Betreuerin aufmunternd und tätschelte dabei leicht seine Schulter. »Noel? Willst du nicht irgendetwas sagen?«
Aber der junge Mann hörte sie gar nicht.
»Das ... das ist unmöglich.«
Unmöglich ... ja.
Killua hatte in seinem Leben so einige Dinge für unmöglich gehalten. Unter anderem auch die, seinen Bruder jemals wiederzusehen. Und jetzt stand er hier und wusste nicht, was er fühlen oder tun sollte. Seine Gedanken waren wie leer gefegt. Nur sein Herz fing an, schneller zu schlagen. Ihm schnürte es die Kehle zu.
»Noel ...«, brachte er schließlich so leise hervor, dass er es selbst kaum hörte. Es war so viele Jahre her. So viele ...
Wäre die Ähnlichkeit nicht ... und diese viel zu vertraute Aura, trotz ihrer langen Trennung ... vielleicht hätte er den Anderen gar nicht mehr erkannt, aber ...
Sie waren Zwillinge.
Man konnte von dieser besonderen Verbindung, die zwischen solchen Geschwistern herrschte, halten, was man wollte, aber in diesem Augenblick spürte Killua, dass es sie gab. Es war, als hätte er ein Stück seiner verkorksten, völlig zerstörten Seele mit einem Pflaster versehen.
»Joshua ... du bist es, oder? Joshua ...«
Die stahlblauen Augen röteten sich, füllten sich mit Flüssigkeit und dann kamen die Schritte, brachten sie näher zusammen und als Noel Killua in die Arme fiel, war da nur noch Wärme. Und so lange es auch her sein mochte - auch Killuas Augen brannten.
Keiner der beiden bemerkte, wie sich Noels Betreuerin entfernte und sie beide allein ließ.
Es gab nichts Unwichtigeres in diesem Augenblick.
Killua spürte die Erschütterungen, die bei jedem Schluchzen durch Noels Körper zogen und er hielt ihn nur noch fester, weil auch sein eigener Atem stockte. 24 Jahre ... 24 lange Jahre.
»Ich ... ich dachte, du bist tot. Ich ... wo ... wo bist du all die Jahre gewesen?«
Auch Noel krallte sich wie ein Ertrinkender an seinen verloren geglaubten Bruder.
Killua konnte noch immer nichts sagen. Nicht einmal dann, als sich der etwas Kleinere von ihm losmachte, sein Gesicht in beide Hände nahm und ihm in die Augen sah, ehe er lachte. So glücklich und gleichzeitig so verletzlich.
Als sich ihre Blicke auf diese Art und Weise begegneten, sah Killua alles. Das komplette Leben, das hinter seinem Gegenüber lag. Mit all den Dingen, die geschehen waren. Und es schnürte ihm noch mehr die Luft ab, ließ seine Knie zittern und er lehnte seine Stirn hilflos an die andere.
Er war die vielen Tode gestorben, die Noel hatte sterben wollen. Und der Schmerz ruhte noch immer tief in dem anderen. Killua legte seine eigenen Hände auf die warmen, die sein Gesicht umfassten und glitt langsam an den bandagierten Unterarmen hinunter.
»Es ... tut mir so leid ...«, hauchte er leise und schloss die Augen. »Ich ... ich hätte bleiben sollen ... ich ... ich hätte dich nie allein lassen dürfen.«
»Josh ... Josh ...«
Druck in den Fingern. Killua gab ihm nach, hob den Blick und nach einem Blinzeln sah er die Konturen seines Bruders wieder schärfer. »Ich habe dir nie einen Vorwurf deswegen gemacht. Nie ...«
»Aber ... du ... du hast ...«
Noel schüttelte den Kopf und ließ los. Nur eine Hand ließ er an Killuas Arm. »Komm mit rein. Reden wir drinnen weiter.«
Es gab viel zu besprechen.
Zu viel, als dass ein Abend dafür reichen konnte.

-

»Ich ... war sechs, als ich in eine Pflegefamilie kam. Sie waren gut zu mir. Ich hatte noch andere Geschwister. Drei Jahre später ... kam ich mit einem Schädel-Hirn-Trauma ins Krankenhaus. Ich bin immer wieder gegen die Wand gelaufen. Ich ... ich wollte es so sehr. Ich konnte mir nie verzeihen, dass ... dass ich immer nur zugesehen habe, wenn er dich ... aber da ... da war es anders. Ich ... spürte, wie mir irgendetwas durch die Finger rinnt ... und ich wollte einfach ... dass es aufhört.«
Noel saß hinter ihm, hatte die Arme um seine Taille geschlungen und den Kopf auf seinen Schultern abgelegt. Die Stimme drang leise über die Lippen. Und brüchig. Killua wusste es bereits. Als er neun Jahre alt gewesen war, hatte Lenzer ihn gefunden. Da hatte alles angefangen. Noel musste es gespürt haben. Killua wusste alles von seinem Bruder, aber ... der wusste gar nichts und ... um Himmelswillen! Wie sollte er es ihm nur erklären?
»Danach kam ich von einer Psychiatrie in die nächste. Sie konnten einfach nicht herausfinden, was es ist. Ich ... ich habe mir immer wieder gewünscht, sie würden mich einfach sterben lassen. Aber ich war nie unbeobachtet. Ich war immer nur eingesperrt.«
Killua schluckte, streichelte die Hände auf seinem Bauch und rang nach Luft. Er war ein emotionales Wrack. Kein Gedanke ließ sich richtig greifen. Sie wirbelten einfach nur wild durcheinander.
»Also ... wo warst du? Was ... was hast du all die Jahre gemacht?«
Killua schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie ... ich dir das sagen soll. Es ist so viel passiert. Ich ...«
... bin nicht einmal mehr ein Mensch, wollte er den Satz beenden, aber die Worte blieben unausgesprochen. Killua wusste, dass er Noel nicht erzählen konnte, was geschehen war. Aber er konnte es ihm zeigen. Vorsichtig machte er sich los, drehte sich in der Umarmung und schob dabei ein Bein auf das Bett.
»Ich weiß nicht, ob du es verstehen wirst und ... was danach sein wird. Aber ich will, dass du eins weißt.« Ihre Blicke trafen sich. Killuas Lippen bebten. »Ich liebe dich. Ich habe es immer getan. Und ich ... ich hätte es viel eher tun sollen. Hierher kommen, nach dir sehen ... ich ... ich habe so schrecklich viele Dinge falsch gemacht.«
»Shht ... das ist nicht wahr.« Noel legte einen Finger auf seine Lippen. Sie beide weinten noch. Es hörte einfach nicht auf. »Sie ... sie haben es verdient. Sie haben verdient, dass du sie tötest. Und ... dass ich nicht auch weggelaufen bin ... war meine Strafe dafür, dass ich nie etwas getan habe. Wir ... wir waren noch kleine Kinder. Wie ...«
Killua schüttelte den Kopf, legte die Hände an Noels Wangen und lehnte seine Stirn gegen die seines Bruders. Zum wiederholten Mal. Aber es würde anders sein, als der letzte Kontakt.
Es war nur fair, dass auch Noel alles erfuhr. Und das Einzige, wovor sich Killua fürchtete, war, dass das, was Noel sehen würde, sie wieder auseinanderbrachte.

Seine konzentrierten Gedanken bahnten sich ihren Weg in jene seines Bruders. Dessen Finger krallten sich in seine Unterarme, als fremde Bilder durch seinen Kopf schossen. Von dem Tod ihrer damaligen Pflegeeltern, Killuas Leben in der Kanalisation samt den Ratten, von denen er sich ernährt hatte. Wie Lenzer ihn damals aufgegriffen und mitgenommen hatte. Wie er zu dem wurde, was er nun war. Die vielen Tode, wie er wieder aufwachte - immer und immer wieder. Dann der Übergriff auf die Forschungseinrichtung, der Marshall, das Projekt Phobia und so viele Menschen, die er töten musste, um zu überleben, bis er es irgendwann getan hatte, weil er nichts anderes kannte. Und letztlich ... seine Freunde. Abbilder von Mischa, von Ryan, Nash ... und anderen Menschen, die ihm wichtig geworden waren. Und der Wunsch, wieder wie ein Mensch zu leben und dass er für eben dieses Ziel Hilfe brauchte. Noels Hilfe, weil er die letzten Fetzen, die Killua von der Vergangenheit vor all dem, was geschehen war, noch besaß, ergänzte und verstärkte.
Der Griff wurde immer fester. Irgendwann begann Noel zu wimmern, aber er löste die Verbindung nicht. Er verstand, dass es ... sein musste. Dass sie einander wieder näher kamen. Sie beide spürten es.

Als Killua den Kontakt löste, schluchzte Noel nur noch. Blind strichen seine Hände über das Gesicht seines Bruders, seinen Hals, die Schultern und die Brust.
»Oh mein Gott ... Joshua ...«
Er schob vorsichtig den dunklen Pullover unter der Lederjacke nach oben, berührte mit dem Daumen die Narben und schüttelte nur noch mehr den Kopf.
»Das ... wie können Menschen anderen so etwas antun? Wie ... wie ist das alles nur möglich? Joshua ... es tut mir so leid. Es ...«
»Dir muss nichts leidtun«, hauchte sein Gegenüber leise, setzte einen leichten Kuss auf Noels Stirn und umarmte ihn noch einmal. »Man kann seine Vergangenheit nicht ändern. Niemand kann das. Was geschehen ist, ist geschehen. Ich ... all das, was ich jetzt bin ...«
»Ich verstehe«, unterbrach Noel ihn und suchte nach seinen Händen. Ihre Finger verfingen sich ineinander. »Du kannst nicht hierbleiben. Du ... kannst nirgendwo bleiben, wenn du nicht lernst, wie du dich gegen ... dich selbst wehren kannst. Und ... und es ist gut, dass du das nicht allein durchstehen musst. Keiner von uns. Ich habe auch Freunde gefunden. Ich ... habe sogar eine Beziehung, weißt du? Es ... es ist okay. Aber wir dürfen nie wieder den Kontakt zueinander verlieren.«
Noel zog sein Handy hervor und lächelte leicht. »Du gibst mir doch deine Nummer, oder? Und Skypen können wir sicher auch mal. Sechs Stunden Zeitdifferenz sind ja kein Hindernis.«
»Nein ... nein, das sind sie nicht. Du musst nur eher aufstehen.«
»Das kriege ich hin.«

Langsam trockneten ihre Augen wieder. Ein Lächeln ruhte auf ihrer beider Lippen und sie sprachen noch sehr lange miteinander, ehe es irgendwann vorsichtig an die Zimmertür klopfte.
»Killua?«
Es war Ryan. Es wurde wohl langsam zu spät, um noch länger hier zu verweilen.
»Komm ruhig rein«, sagte Noel und lächelte, als der hochgewachsene Mann mit Brille zögerlich die Tür öffnete.
»Hey. Ich unterbreche euch wirklich ungern, aber ... wir müssen leider gehen. Das wurde mir gerade durch die Blume mitgeteilt.«
Noel und Killua erhoben sich und Ryans Blick glitt zwischen den beiden hin und her. Die Ähnlichkeit war wirklich immens und gleichzeitig verwirrend. Aber noch viel betroffener machte ihn der Umstand, dass Killuas Gesicht von getrockneten Tränen gezeichnet und dessen Augen gerötet waren. Sein Bruder sah noch schlimmer aus. Eine geringe Körpertemperatur zu haben, wirkte wohl positiv auf geschwollene Augen, die dann eben einfach ... nicht anschwollen.

Die letzte Umarmung dauerte lange. Ein weiteres Einschreiten der Betreuerin war nötig, um die Brüder endlich voneinander zu trennen. Aber es war kein endgültiger Abschied.
Das war vor 24 Jahren noch ganz anders gewesen.

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