Manche Bücher bekommt man einfach genau zur richtigen Zeit in die Hände. Manchmal stösst man vollkommen durch Zufall auf das fehlende Puzzleteil, das man lange gesucht hat. Risk, the Science and Politics of Fear von Dan Gardner war so ein Fall.
Ich habe das Buch an meinem letzten Tag auf meiner Reise in Kanada gekauft. In der
West Edmonton Mall - ihres Zeichens grösste Mall der Welt, gemäss Guiness Buch - wollte ich vor der Abreise noch meine letzten kanadischen Dollars loswerden und verbrachte sicher zwei Stunden in einer Buchhandlung. Am Ende musste ich mich entscheiden, welche der Bücher ich mitnahm. Dan Gardners Recherchen über unsere paradoxe Gesellschaft, hätte ich beinahe nicht gekauft und einiges verpasst.
Die ganze Kanadareise letztes Jahr war für mich eine grosse Auseinandersetzung mit den Themen Risiko und Angst. Das ist vielleicht noch präsent, wenn man sich an an Einträge in meinem
Kanadareisetagebuch erinnern kann. (Ich entschuldige mich dafür, dass diese Rezension so unstrukturiert ist und so vieles auf einmal sagen möchte. Sie ist auch ein Essay über ein Thema, das mich seit über einem Jahr immer wieder beschäftigt und wohl nicht der letzte Versuch, meine Gedanken dazu in Worte zu fassen.)
Dan Gardner geht in seinem Buch einem Paradox unserer Gesellschaft nach: Wir leben in der heutigen Zeit, zumindest in der westlichen Welt, in einer historisch einzigartigen Situation. Noch nie war das Leben so sicher. Noch nie hatten so viele Menschen die Chance, so alt zu werden - und erst noch in relativ guter Gesundheit. Dennoch scheinen die Menschen sich noch nie so gefürchtet zu haben, wie wir.
In seinem Buch zeigt er nicht nur Beispiele, in welchen Bereichen wir in unserer Gesellschaft völlig grundlos in Hysterie verfallen und welche echten Risiken wir dafür ignorieren. Er zeigt auch, welche Mechanismen dazu führen, dass wir grundlos Angst haben. Da ich das Buch letzten Frühsommer gelesen habe, werde ich wohl nicht mehr alle zusammenbekommen. Grundsätzlich unterscheidet er aber mindestens zwei Arten, wie wir eine Situation einschätzen: Instinkt und Verstand - bzw. "Gut" vs. "Head". Der Instinkt, der natürlich da ist, um unser Überleben zu sichern, reagiert meistens schneller als der besonnene Verstand. Weshalb wir ihm intuitiv oft mehr Beachtung schenken - selbst wenn seine Wahrnehmung völlig verzerrt ist. Gardner begründet das mit einer meiner Ansicht nach etwas obskuren Steinzeitmensch-Theorie, die ich so nicht teilen würde. Inhaltlich scheint seine Beobachtung aber zu stimmen. (Ich zweifle nur die Begründung an. Ich glaube, dass Dan Gardner selbst der "Narrative Fallacy" zum Oper fällt - dass er ein Phänomen eher glaubt, weil er eine schöne Geschichte dahinter hat.)
Also, hier die Effekte, an die ich mich noch erinnere:
1. Zum Überleben ist es wichtig, dass wir Gefahrensituationen besonders aufmerksam wahrnehmen und sie uns einprägen. Sprich: Dinge, die (scheinbar) so laufen, wie sie sollten, die ganz "normal" sind, nehmen wir kaum wahr. Unmittelbare Ereignisse, aber auch Berichte, Bilder und Erzählungen von Gefahrensituationen hingegen erregen unsere Aufmerksamkeit. Dumm nur, dass das auch jene, die von unserer Aufmerksamkeit leben - nicht nur Medien, sondern auch Politikerinnen und Politiker oder Firmen, die uns etwas verkaufen wollen - das wissen. Und uns deshalb gerne solche Geschichten auftischen.
2. Während sich diese Aufmerksamkeit früher auf die nähere Umgebung beschränkt hatte und damit durchaus sinnvoll war, erfahren wir heute von Katastrophen auf der ganzen Welt. So haben wir das Gefühl, dass ständig immer und überall schlimme Dinge passieren. Meine Urgrossmutter erfuhr etwa zwei Wochen nach dem Unglück, dass die Titanic gesunken war - wir konnten bei den Terroranschlägen am 11. September 2001 live am Fernsehen dabeisein. So ist es sehr leicht, das Bild einer permanenten Bedrohung aufrecht zu erhalten, wenn es eigentlich gar nichts unmittelbar zu befürchten gibt. Wenn ein Student in der inneren Mongolei heute seine Uni stürmt und um sich schiesst, weiss ich das hier in Mitteleuropa 10 Minuten später. Wenn am gleichen Tag in den USA ein frustrierter Angestellter bei seinem Arbeitgeber das gleiche tut, habe ich das Gefühl, es passierten ständig solche Dinge. Dabei war keines von beidem nahe genug, dass es Auswirkungen auf meine Realität haben müsste - meine Urgrossmutter hätte von beidem nichts gewusst.
3. Dieser weltweite Informationspool kann auch dazu führen, dass extrem seltene, statistisch praktisch inexistente Ereignisse so dargestellt werden, als würde diese Gefahr täglich lauern. Bei einer Auswahl von bald 8 Milliarden Menschen besteht eine grosse Chance, dass auch extrem seltene Ereignisse einen davon treffen können - und je seltener ein Ereignis ist, desto mehr erfahre ich darüber. Weil unsere Aufmerksamkeit sich ja nicht für das gewöhnliche interessiert. Gardner bringt das Beispiel von Hai-Attacken. Diese sind so selten, dass jährlich mehr Leute von Kokosnüssen erschlagen, als von Haien angegriffen werden. Häufig ist die Gefahr von Hai-Attacken auch überhaupt nicht in unserem Bewusstsein (wobei Filme wie "der weisse Hai" hier doch einen grossen Beitrag geleistet haben), und kleinere Angriffe schaffen es kaum über eine Randnotiz in den lokalen Nachrichten hinaus. Es sei denn, es ist gerade irgendwo sonst auf der Welt ein ähnliches Ereignis passiert. Dann schafft es ein glimpflich abgelaufener Angriff ohne Verletzte plötzlich auf die Titelseite. Oder ist euch noch nie aufgefallen, dass sich schlimme Ereignisse ähnlicher Art immer zu häufen scheinen? Das ist kein Zufall, denn:
4. Wir Menschen neigen dazu, uns kollektiv in eine Sache hineinzusteigern. Sobald uns eine neue - oder alte - Gefahr, (wieder) ins Bewusstsein kommt, lechzen wir nach ähnlichen Geschichten. Erfahren wir, dass Acrylamid bei verbrannten Pommes möglicherweise bei Laborratten in hohen Mengen krebserregend war - wollen wir wissen, wo Acrylamid sonst noch vorkommen könnte. Dann tauchen täglich neue Geschichten auf - Acrylamid kann auch in Brathähnchen entstehen (Oh, aber das Schweizer Lieblingsgericht Poulet und Pommes! Hilfe! Ist es gefährlich?) und in Kuchen (oh nein, Kuchen auch noch!). Plötzlich fühlt man sich von Gefahren umzingelt, die man vorher nicht beachtet hat - und ohne, dass sich an der realen Bedrohungslage auch nur das geringste geändert hätte.
Neulich war diese Aufmerksamkeitsspirale bei zwei Ereignissen sehr schön wieder zu beobachten: Seit dem verheerenden Erdbeben in Haiti hat man den Eindruck, als würden ständig und gehäuft irgendwo irgendwelche Erdbeben stattfinden. Dabei beachten wir diese Nachrichten nur stärker als davor.
Ein anderes Beispiel ist der Eindruck, dass in allen Internaten im deutschsprachigen Raum ständig sexuelle Missbräuche stattfinden müssten. Hier wirkt natürlich noch ein anderer Effekt - nämlich die Tatsache, dass sich etwas, das lange verschwiegen wurde, nun Bahn bricht - aber im Grunde hat sich gerade eine Aufmerksamkeitsspirale entwickelt, die dazu führt, dass jeder kleine Verdacht es sofort auf die Frontseite aller Medien (egal, ob Boulevard oder selbsternannte "Qualität") schafft, während die gleichen Geschichten z.B. letzten Sommer, als alles von der Schweinegrippe sprach, irgendwo eine Randnotiz gewesen wären. Wenn überhaupt. (Die Schweinegrippe ist auch ein sehr interessanter, ja fast klassischer Fall einer solchen Massenhysterie, in dem es kaum eine empirische Grundlage gab. Überlegt euch nur einmal, wie anders die Geschichte ausgesehen hätte, wenn man nicht am Anfang fälschlicherweise gedacht hätte, es wären innerhalb weniger Tage mehrere hundert Menschen in Mexiko daran gestorben und hätten nicht mehrere Grippeexperten jahrelang vor einer Pandemie gewarnt... danach war die Spirale nicht mehr aufzuhalten. Zumal es ja mehrere Gruppierungen gab, die ein handfestes wirtschaftliches Interesse daran hatten, dass die Leute sich davor fürchteten.)
5. Wir fürchten uns mehr vor konkret und real erscheinenden Gefahren, als vor solchen, die wir uns nicht vorstellen können. Gardner nennt das "narrative fallacy" - je ausgeschmückter eine Geschichte um eine Gefahr ist, desto realer erscheint sie uns. Darauf fallen selbst Experten hinein. Oder überlegt euch einmal, welche dieser beiden Gefahren euch realistischer erscheint:
- Es gibt dieses Jahr einen Atomkrieg
- Der irre Präsident im Iran schafft es dieses Jahr, Atomwaffen herzustellen, sein Volk kann sich nicht wehren und er findet einen Vorwand, Israel mit diesen Waffen anzugreifen, worauf die USA atomar zurückschlagen.
Die Antwort ist, wenn man nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung geht, absolut klar: Es ist viel wahrscheinlicher, dass es dieses Jahr einen Atomkrieg gibt, als dass zweiteres Szenario eintritt. Denn damit sich die Geschichte so abspielt, müssen mehrere Ereignisse zusammenspielen: Nur, wenn es der irre Präsident im Iran schafft, Atomwaffen zu besorgen, können die anderen Möglichkeiten eintreffen. Und auch nur, wenn er entscheidet, Israel damit anzugreifen. Und auch nur, wenn Obama danach entscheiden würde, atomar zurückzuschlagen. Es sind mehrere Bedingungen, die mit "und" verbunden sind, was das Szenario unwahrscheinlicher macht. Währenddem ein Atomkrieg in unzähligen verschiedenen Variationen passieren kann. Es kann auch der ebenso irre Diktator in Nordkorea sein, der eine Bombe an die US-Westküste schickt, oder China dreht durch, oder ein paar Terroristen. Oder jemand, den wir noch gar nicht auf der Rechnung haben.
Trotzdem haben in den 1980er-Jahren auf eine ähnliche Frage selbst die allermeisten Experten der internationalen Sicherheit das "ausführliche Szenario" gewählt. Die Statistik ist hier kontra-intuitiv. Je weniger Bedingungen eingeführt werden, desto mehr Möglichkeiten gibt es und desto wahrscheinlicher ist ein Szenario. Intuitiv "lernen" wir aber in Geschichten und Beispielen. Das heisst, je mehr für sich stehend plausible Details wir kennen, desto eher können wir uns eine Szenario vorstellen - und desto plausibler erscheint es uns. Wir können uns sehr gut vorstellen, dass der irre iranische Diktatur Atomwaffen bekommt. Wir können uns sehr gut vorstellen, dass er Israel angreift. Wir können uns sehr gut vorstellen, dass die USA zurückschlagen würden. Also schliessen wir, dass es sehr gut so ablaufen könnte. Während wir uns unter dem abstrakten "Atomkieg" wenig vorstellen können. Deswegen sprechen Medien auch selten von abstrakten Statistiken, sondern illustrieren sie mit konkreten Beispielen. Obwohl diese für sich alleine wenig aussagen.
6. Katastrophen, die sich innerhalb der letzten Generationen (seit "menschengedenken") ereignet haben und grossen Schaden, bzw. grosse Verbreitung fanden, erscheinen uns plausibler und damit gefährlicher als solche, für die wir keine unmittelbare Referenz haben. Ein sehr gutes Beispiel ist der Tsunami. Ich war Mitte der 1990er-Jahre über das Wort gestolpert, weil ich mit einer Freundin zusammen einen umfangreichen Vortrag über Japan halten wollte und das Wort "Tsunami" japanischen Ursprung hat. (Ausserdem ist Japan eines der am häufigsten von Naturkatastrophen heimgesuchten Länder.) Eigentlich wurde ich aber vor allem darauf aufmerksam, weil die Zeitschrift "Geo" damals eine (eher populärwissenschaftlich ausgerichtete) Titelgeschichte über Tsunamis gebracht hatte, die mich wegen des imposanten Bildes am Anfang fasziniert hatte. Der Artikel in "Geo" erzählte auch von mehreren historischen Tsunami-Katastrophen. In Europa zuletzt beispielsweise im 17. Jahrhundert nach einem Erdbeben in Lissabon. Es wurde sogar gemunkelt, dass die biblische Sinthflut, die ja in fast allen alten Texten und Geschichten aus der Mittelmeerregion auftaucht, eine Tsunamiwelle hätte sein können. Die meisten Leute, denen ich von diesen faszinierenden Tsumanis erzählen wollte, interessierten sich dennoch nicht dafür. Riesenwellen. Wo ist da die Gefahr? Was interessiert uns die biblische Sinthflut oder ein Erdbeben vor 300 Jahren?
Bis am 26. Dezember 2004 ein Erdbeben in Südostasien einen riesigen Tsunami auslöste und die zerstörerische Gewalt dieser Riesenwellen auf bedrückende Art klarmachte. Neulich hab ich sogar von der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise als "wirtschaftlichen Tsunami" sprechen gehört. Und nach jedem grösseren Erdbeben in Meeresnähe, berichten die Medien darüber, ob es Tsunamiwarnungen oder gar wirklich einen Tsunami gegeben habe. Vor 2004 war das noch anders. Jetzt ist uns die Gefahr wieder bewusst.
Ein ähnliches Beispiel ist die Gefahr, die von Asteroideneinschlägen ausgeht. Ein Asteroideneinschlag hat das Potential, auf einen Schlag einen grossen Teil der Menschheit zu töten - und zwar direkt, ohne allfällige Folgetote mitzurechnen. Asterioden können so gross sein, dass sie beispielsweise ganz Mitteleuropa zum Verschwinden bringen könnten - oder grosse Ballungsräume an der US West- oder Ostküste. Nur glauben wir das nicht so recht - denn es gibt seit Menschengedenken kein solches Unglück, das immerhin im Verdacht steht, die Dinosaurier ausgerottet zu haben. Der letzte grosse Asteroideneinschlag war Ende des 19. Jahrhunderts und hätte verheerende Folgen gehabt, wenn er nicht glücklicherweise in einer dünn besiedelten Gegend irgendwo im nördlichen Sibirien gewesen wäre. Die Gefahr eines Asteroideneinschlags ist um ein vielfaches höher, als wir wahrhaben wollen. Dennoch haben die USA kürzlich entschieden, nicht in die Erforschung dieser Gefahr zu investieren - denn niemand kann sich vorstellen, dass so etwas ernsthaft passieren könnte.
7. Wir (in der westlichen Welt zumindest) denken intuitiv in schwarz-weiss-Kategorien. Wir müssen ständig Entscheidungen treffen und die fallen uns leichter, je klarer uns die Auswahl scheint. Gardner zeigt sehr schön, wie wir manche Dinge als "böse" und andere als "gut" klassieren. So haben wir zum Beispiel das Wort "Atom" bzw. "nuklear" so sehr auf der Seite "böse" eingeteilt, dass nützliche Technologien, die auf der Basis von Nukleartechnologie funktionieren, erst umbenennt werden müssen, damit wir sie nutzen. (Die Computer-Tomographie/Magnetresonanztomographie beispielsweise.) Das kann völlig absurde Ergebnisse bringen - so hat sich z.B. der Irrglaube etabliert "natürlich" sei gut und "künstlich" sei böse. Obwohl es auch in der Natur sehr starke Gifte gibt, die unkontrolliert wirken können - und man solche Risiken z.B. mit künstlich hergestellten Medikamenten umgehen kann. Heisst nicht, dass chemisch hergestellte Medikamente "immer" besser sind - nur, dass sich die Linien zwischen gut und böse nicht so klar sind und uns in die Irre führen können. Einmal gemachte Assoziationen bleiben zudem bestehen. Selbst, wenn sie sich als falsch erweisen. So erstellen wir dann auch gerne Ursache-Wirkungs-Ketten (kausale Verbindungen) zwischen Dingen, die nichts miteinander zu tun haben.
Überschwemmungen sind gefährlicher und richten mehr Schäden an als Brände. Aber weil das Element "Wasser" für unser überleben wichtig ist, das Element "Feuer" aber nicht, betrachten wir zweiteres als gefährlicher. Und weil uns Fliegen ohnehin immer ein wenig suspekt war - die Luft ist kein natürlicher Aufenthaltsraum von Menschen - glauben wir eher, das Fliegen gefährlich ist, als z.B. Autofahren. Obwohl das Gegenteil der Fall ist.
8. Noch fataler ist es, dass wir die Gefahr von Unbekanntem oft über-, die Gefahr von Bekanntem aber unterschätzen. Unser Instinkt ist natürlich nicht falsch, schliesslich liegt es im Wesen des Unbekannten, dass wir es (noch) nicht einschätzen können, während wir bei Bekanntem im irrigen Glauben leben, wir würden es kennen. Das ist auch ein Schutz, um uns davor bewahren, an der Unberechenbarkeit der Welt, wie sie tatsächlich ist, komplett zu verzweifeln.
So droht Kindern etwa viel mehr Gefahr von ihrem nahen, familiären Umfeld als von Unbekannten. Die allermeisten Kindesmorde und Fälle von Kindesmisshandlungen und -missbrauch finden im familiären Umfeld statt. Die Täterinnen und Täter sind Mütter (wie neulich in dem Fall des Zwillingsmordes von Horgen), Väter (bei zahllosen harmlos als "Familiendrama" bezeichneten Morden), Onkel, Tanten, Grosseltern... und nur sehr selten unbekannte Fremde. Diese Tatsache ist extrem unbequem - denn man kann die Kinder schlecht davor schützen. Kinder brauchen das Vertrauen in ihr familiäres Umfeld und bei den meisten ist dieses Umfeld nicht gefährlich - sie daraus herauszunehmen ist keine bzw. eine noch schlechtere Option. Oder, um es noch drastischer zu sagen: Das, was gut für die Kinder ist, ist gleichzeitig gefährlich. Und jetzt? Was tun?
Die Lösung in der Gesellschaft scheint aktuell zu sein, über der Angst vor dem Unbekannten hysterisch zu werden, hinter jedem Busch einen potentiellen pädophilen Kindermörder zu sehen, die Kinder dauernd beaufsichtigen zu wollen und sie ihrer Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit zu berauben. Wir tun so, als würde Kindern nur draussen und ohne Aufsicht Gefahr drohen; weil die Wahrheit zu unerträglich wäre.
Übrigens: Habt ihr gewusst, dass bis im Alter von etwa 25 Jahren die grosse Mehrheit der Opfer von (körperlicher) Gewalt männlich sind? Über 25 steigt der Anteil der Frauen. Die grösste Gefahr für eine Frau, Opfer von Gewalt zu werden, ist, mit einem Mann in einer Beziehung zu leben. Statistisch gesehen. Aber ist das ernsthaft ein Grund, Single zu bleiben? Da ist es doch besser, wir tun einfach so, als gäbe es diese Tatsache nicht und installieren noch drei Alarmanlagen mehr, um uns gegen böse, gewalttätige Einbrecher zu schützen (die es ja schliesslich auch gibt.)
Ganz allgemein kann man sagen: jede Entscheidung, jede Entwicklung, jeder Umstand... alles hat immer mindestens zwei Seiten - alles hat sowohl positive als auch negative Konsequenzen. Übrigens, ganz wichtig, auch die Entscheidung, sich nicht zu entscheiden. Zuwarten und nichts tun, kann manchmal schädlicher sein. als einen kurzfristigen Schaden zu erleiden. Wir tun nur so, als wären die Entscheidungen eindeutig - und machen es uns damit sehr einfach.
9. Verhinderte Tote tauchen in keiner Statistik auf. Wir können nur Ereignisse erfassen, die eingetreten sind - nicht jedoch solche, die nicht eingetreten sind. Deswegen erscheint uns die Welt tendentiell gefährlicher, als sie ist. Damit lässt sich die Angst ständig aufrecht erhalten. Ein Toter ist beunruhigender, als eine Million verhinderter Toter uns beruhigen könnte. Denn wir wissen nichts von ihnen. Ein verhinderter Toter ist kein Problem. Dieses Ungleichgewicht lässt sich nur ausgleichen, indem man immer mal wieder einen Schritt zurücktritt und sich erlaubt, Risiken und Gefahren mit etwas kühler Distanz anzuschauen.
Was hat jetzt diese Aufzählung mit unserer Zeit zu tun?
Wir leben in einer Erfolgsgeschichte und keiner will sie sehen. Ich kann nur wiederholen, was ich schon einmal einleitend gesagt habe: Noch nie hatten so viele Menschen die Chance, so alt zu werden - das erkennt man an der allgemeinen Lebenserwartung - und noch nie waren die Menschen so lange so gesund (das erkennt man an der Prognose sogenannter "gesunder Lebensjahre"), noch nie gab es so wenig kriegerische Auseinandersetzungen (wie in der heutigen westlichen Welt), noch nie so wenig Gewalt (was übrigens statistisch nur schwer nachweisbar ist, weil die meiste Gewalt früher als so "normal" angesehen wurde, dass sie niemand registriert hat). Im Vergleich zu vor 100, 150, 200 Jahren leben wir im Paradies.
Und wir sperren uns vor lauter Angst in unsere Häuser ein, wissen nicht mehr, wem wir noch trauen sollen, was wir noch essen können - und brechen über jeder kleinen Erinnerung daran, dass das Leben doch immer noch in 100% aller Fälle tödlich ist, in völlig irrationale Panik aus. Der Staat, die Welt und wer sonst noch alles soll uns gefälligst vor allen Unberechenbarkeiten der Welt bewahren. Und wenn doch etwas passiert, müssen Köpfe rollen. (Womit wir uns nicht sonderlich weit weiterentwickelt haben seit der heiligen Inquisition, aber das ist ein anderes Thema.)
Nun muss man das natürlich differenzieren. Diese Betrachtungen sagen schliesslich nur etwas darüber aus, wie die allgemeine Lage heute aussieht. Sie sagt nichts über meine persönliche Lage und Perspektive aus. Sie sagt auch nichts über die Zukunft der Welt aus. Es hindert überhaupt nichts daran, dass mir in zwei Minuten die Decke auf den Kopf fallen oder mich morgen ein Irrer auf offener Strasse erschiessen könnte. Aber dagegen kann ich überhaupt nichts tun. Die einzige Möglichkeit, mich davor zu schützen, auf offener Strasse erschossen zu werden, ist, nicht mehr auf die Strasse zu gehen. Dann steigt aber das Risiko, dass ich von der Decke erschlagen werde. Oder in der Dusche ausrutsche (einer der häufigsten Unfälle überhaupt). Wir tun heute geradezu so, als wäre es möglich, uns vor allen Risiken dieser Welt mit absoluter Sicherheit zu schützen. Das ist nicht möglich und wird nie möglich sein.
Wir sind entsprechend wählerisch, aber nicht sehr überlegt in den Risiken, vor denen man uns schützen soll - es zählen immer nur jene, die uns gerade präsent sind. Über die man gerade spricht und sich empört. Mit Vorteil vor Wahlen und mit einem klaren Sündenbock, der nicht wählen kann (Ausländer, Jugendliche). Das ist aber nicht so unschuldig, wie wir gerne denken. Der Staat soll uns vor Verbrechern schützen, das verlangen wir ultimativ. Und das ist auch legitim. Eine Kernaufgabe des Staates. Aber heutzutage ist jeder Fehler einer zuviel - wenn der Fehler Menschen ins Elend stürzt, die unschuldig sind, nehmen wir das billigend in Kauf. Ich behaupte, jeder Politiker, der sein Amt heutzutage ernst nimmt, würde eher 200 Unschuldige einsperren als verantwortlich dafür sein, dass ein Schuldiger herumläuft, der mit einer mittleren Wahrscheinlichkeit rückfällig würde. Die 200 Unschuldige können ihn kaum belangen. Der eine Schuldige kann die Karriere kosten. Man rechne. (Und hoffe, nie zu diesen bemittleidenswerten Unschuldigen zu gehören.) Und: Je mehr wir ultimativ verlangen, dass jeder potentiell Schuldige erwischt wird, desto mehr Unschuldige kommen zu schaden. Wenn wir wirklich jeden Schuldigen eingesperrt haben wollen, müssen wir alle bald 8 Milliarden Menschen einzeln einsperren. Die Unschuldsvermutung und die Maxime "im Zweifel für den Angeklagten" gelten längst nicht mehr.
Wir sperren schon heute lieber unsere Kinder in die Wohnungen ein, füttern sie mit schlechtem Essen und verweigern ihnen Bewegung und frische Luft - aus Angst, ihnen könnte in der grossen, bösen Welt da draussen etwas passieren - statt dass wir das Risiko eingehen, dass ihnen draussen vielleicht etwas passieren könnte. Wir ignorieren aber, dass wir ihnen damit ein viel grösseres Risiko zumuten, nämlich der Gefahr, an einer der zahlreichen Zivilisationskrankheiten zu erkranken und früh an Diabetes oder Herz-Kreislauf-Versagen zu sterben. Immer im Glauben, ihnen etwas gutes getan zu haben. Wir schenken dieser Angst sogar mehr Glauben, als unseren eigenen Erinnerungen. Die meisten von uns haben als Kinder draussen gespielt und den wenigsten ist etwas passiert.
Diabetes und Herz-Kreislauf-Versagen sind übrigens viel näher an den "wahren" Gefahren, vor denen wir uns fürchten sollten, als böse Unbekannte in Büschen hinter dem Haus. Es ist nur viel schwieriger, sich vorzustellen, wie ein stiller Mörder wie Diabetes tötet. Und wenn doch, glauben wir wieder gerne ans Schicksal.
Ein interessanter Fall ist auch Krebs. Wir werden ständig mit irgendwelchen Mahnungen über krebserregende Dinge überhäuft und alarmierenden Zahlen, dass Krebs unter Kindern nun schon die zweithäufigste Todesursache sei - aber niemand wagt es, die Leute wirklich zu beruhigend. Aus Angst vor dem Vorwurf des Zynismus - und aus Angst, es hiesse, man würde die Situation verharmlosen. Verharmlosen ist eine Todsünde, übertriebene Panikmache ist gratis. Es könnte ja etwas dran sein.
Der tatsächliche Anteil an Kindern, die an Krebs erkranken, ist in den letzten Jahren kaum signifikant gestiegen, das zeigt ein Blick in die Zahlen (die Gardner in seinem Buch zeigt) - dafür aber die Überlebenschance im Falle einer Erkrankung (was natürlich auch immer die Gefahr birgt, dass es erneut aufflammt und damit die Fallzahlen erhöht). Der Grund, warum Krebs heute die zweithäufigste Todesursache bei Kindern ist, liegt in der erfreulichen Tatsache, dass alle anderen Ursachen, die über Jahrhunderte einen betrachtlichen Teil der Kinder vor dem 5. Lebensjahr dahinrafften, mittlerweile praktisch ausgerottet sind. Kaum ein Kind stirbt noch an den klassischen "Kinderkrankheiten". Das ist ein unglaublicher, historisch nie dagewesener Erfolg. Aber wenn die bisher häufigsten Ursachen verschwinden, steigen die hinteren "Plätze" automatisch auf. Ohne Hexerei.
Die Geschichte geht aber noch weiter. Der mit Abstand wichtigste krebserregende Faktor ist nämlich eine positive Entwicklung: das Alter. Oder anders gesagt, je älter, desto höher das Krebsrisiko. Ein überwiegender Anteil der Krebskranken und -toten ist über 70, gar über 80 Jahre alt. Das sind nur nicht die medial präsenten Krebskranken, weswegen wir denken, die meisten Krebskranken wären zwischen 40 und 50 Jahren alt. Stimmt nicht. Ist nur eine Verzerrung der Aufmerksamkeit. Wenn es also heisst, dass jeder 4. irgendwann in seinem Leben einmal an Krebs erkrankt, dann liegt das nicht in erster Linie daran, dass böse krebserregende Stoffe unsere Umwelt immer stärker einnehmen würden (zumal man darauf heute so sensibilisiert ist, dass viele Ursachen, die früher tatsächlich zu höheren Krebsraten geführt haben, wieder eliminieren werden konnten) - sondern daran, dass wir immer älter werden. Und viele Leute, die unter früheren Umständen gar nie das Erwachsenenalter erreicht hätten, werden heute älter und können Krankheiten bekommen, die sie früher nie bekommen hätten - weil sie schon vorher an anderen Dingen starben. Manche Forscher gehen sogar davon aus, dass wenn die Menschen noch älter werden, irgendwann wirklich nahezu jeder Mensch an Krebs erkranken wird. Je älter man wird, desto häufiger haben sich die Zellen im Körper kopiert und desto häufiger kommen "Kopierfehler" vor, auch fatale - die Ursachen für Krebs.
Noch einmal, hier, klar und deutlich: Das heisst nicht, dass es keine Kinder gibt, die an Krebs erkranken. Es heisst auch nicht, dass ich glücklich und sorgenfrei vor mich herleben kann, weil mir statistisch gesehen weniger passieren kann als früher. Genauso, wie die Chance besteht, dass ich im Lotto gewinne, besteht auch die Möglichkeit, dass ich die seltenste Krankheit der Welt bekomme. Aber es gibt nichts und niemanden, der das verhindern kann. Und diese Tatsache ändert nichts am Gesamtbild. Wir wollen heute nur nicht mehr akzeptieren, dass man manchmal im Leben einfach Pech hat. Ohne, dass irgendjemand etwas falsch gemacht hat.
Das heisst auch nicht, im Übrigen, dass man einfach nichts tun soll, um die Sicherheit weiter zu verbessern. Schliesslich besteht ja noch Potential, weitere Krankheitsursachen auszurotten oder Unfälle zu vermeiden. Gerade sind in der Verhinderung von Strassenverkehrsunfällen erstaunliche Entwicklungen im Gang - dass es trotz stärkerem Verkehrsaufkommen sinkende Opferzahlen gibt.
Aber - und das ist der springende Punkt - es gilt immer abzuwägen, ob es sich lohnt, in diese Sache Geld, Zeit und unter Umständen persönliche Freiheit zu investieren. Alles hat zwei Seiten. Wir tendieren in unserer Gesellschaft dazu, die Vergangenheit zu idealisieren. Denn die Vergangenheit ist sicher, die Zukunft unsicher. Per Definition. Manchmal lohnt es sich, auf alte Friedhöfe zu gehen und nachzusehen, wie jung die Mehrheit damals starb - und darüber zu erschrecken, wie viele Kinder dort liegen, die heute überlebt hätten.
"Früher" war nicht alles besser - wir wissen nur nicht (mehr), wie es früher war.
Es ist auch wichtig, dass wir erkennen, dass diese ganze Geschichte eine politische Komponente hat. Und zwar ganz wortwörtlich. Wer unsere Angst kontrolliert, hat die Macht über uns. Wer unsere Angst kontrolliert, kann uns seinen Willen aufdrücken. Wenn die Menschen Angst haben, sind sie beeinflussbar. Dann kaufen sie einem billige, einfache "Lösungen" ab, die in Wahrheit keine sind. Menschen, die Angst haben, haben wenig Appetit auf Freiheit. Und sie kaufen überteuerte Medikamente, Schutzwälle, Alarmanlagen und alles weitere. Angst ist eine florierende Industrie, wirtschaftlich und politisch. Und das macht mir mehr Angst, als manche Gefahr, vor denen man uns täglich warnt.
Es lohnt sich, immer mal wieder einen Schritt zurück zu machen. Nachzudenken. Und besonnen darüber zu entscheiden, welche Risiken man eingehen will, welche man nicht verhindern kann und bei welchen Gefahren es sich lohnt, in ihre Bekämpfung zu investieren. Angst ist ein schlechter Ratgeber (mindestens ebenso wie Leichtsinn). Denn, egal, was wir tun: dem Tod kann man auf lange Sicht nicht ausweichen. Und manchmal rennen wir ihm gerade dann besonders schnell entgegen, wenn wir ihm voller Angst eigentlich ausweichen wollten. (Nach dem 11. September sind über 1500 Menschen, also nochmals die Hälfte der Opfer der Anschläge, mehr im Strassenverkehr gestorben als in den Jahren davor und danach - offensichtlich, weil mehr Leute aus Angst vor Anschlägen auf das Fliegen verzichtet hatten.)
Noch zur Anekdote: Ich habe dieses Buch auf dem Rückflug von Kanada gelesen und dachte, als ich in Zürich aus dem Flugzeug stieg noch, dass Fliegen doch wirklich eine unglaublich sichere Sache sei. Wenn man bedenkt, wieviele Flugzeuge täglich starten und sicher landen. Inklusive der Flüge, die ich selbst absolviert hatte. Mit diesem positiven Gefühl verliess ich die Ankunftshalle, vor der meine Schwester auf mich wartete. Und als ich sagte: "Fliegen ist schon verdammt sicher, oder?" erzählte sie mir, dass in der Zeit, als ich unterwegs war, mehrere Tausend Kilometer südlich von meiner Flugroute eine Maschine der Air France über dem Atlantik verschwunden sei. (Abgestürzt, wie man später erfahren hat.)
Aber mein Flug nicht. Das ist der Punkt.