Wir hatten ein Treffen der Green Group in Windarra, also der Farm Group und der Forest Group. Diese Meetings dienen der Festlegung der allgemeinen Richtlinien für die Nutzung des Grüngürtels, aber auch zur Entscheidungsfindung bezüglich einzelner Maßnahmen wie z.B. Bebauung. Entscheidungen werden in Auroville in aller Regel im Konsens gefällt, d.h. im Wesentlichen stimmen alle Anwesenden einer Lösung zu, weil sie damit einverstanden sind. So auch heute, in dieser Runde. Wenn Gespräche auf Kampfabstimmungen hinauslaufen, wie etwa im Fall der Gestaltung der Peace Area, dann werden Abstimmungsergebnisse nicht einfach hingenommen. Das gilt für Anhänger der "Gewinner-" ebenso wie der "Verlierer-"Seite. Demokratische Wahlergebnisse sind für hiesige Verhältnisse intolerabel, weil sie die Einstellungen und potentiellen Beiträge einer oft umfangreichen Minderheit schlicht verwerfen. So wurden die Arbeiten am Matrimandirgarten eingestellt, bis die Community irgendwann zu einem einhelligen Ergebnis gelangt.
Zu einem Konsens zu gelangen - und wir sprechen hier nicht von faulen Kompromissen - ist gar nicht so schwierig. Es kostet nur etwas mehr Zeit. Wenn die Grundeinstellung der Beteiligten nicht Wettbewerb sondern Kooperation beinhaltet, dann wird das konkrete Verhalten des Einzelnen in einer Auseinandersetzung statt der Durchsetzung der eigenen Vorstellungen eher den Blick auf den größten gemeinsamen Nutzen zum Ziel haben.
Auseinandersetzungen, auch tiefgreifende, gibt es hier genug, denn die besprochenen Themen berühren die persönliche Weltanschauung allüberall. Auroville ist kein konfliktfreier Ort, aber einer, der die Voraussetzungen mitbringt, zu einer friedlichen Lösung für jede Differenz zu finden. Anders als die meisten Gesellschaften dieser Welt.
Hier habe ich den lebendigen Beweis gefunden, dass der Mensch keine Missgeburt ist. Er ist kein fehlerhaft erschaffenes Wesen, das es im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen nicht schafft, im Einklang mit sich und seiner Umgebung zu sein. Wir können mehr als nur zerstören und gierig in unsere Taschen raffen. Was uns im Weg steht, ist nicht unsere menschliche NATUR - es ist unsere KULTUR, unsere Werte und Vorstellungen, unsere Gesetze, erlernten Verhaltensweisen... Dinge, deren Änderung völlig in unserer Macht steht.
Aber wollen wir das?
Es wird mehr erfordern, als ein paar Rauchfilter einzubauen. Wir müssten mehr tun, als die Wale zu retten. Mehr, als Wasser zu sparen und eine CD weniger zu kaufen und Hybridautos zu fahren und ins Reformhaus zu gehen und Lebensmittel nach Afrika zu schicken und Waffen abzurüsten. Es wird mehr erfordern als diese Flickschusterei an einem in sich lebensfeindlichen System.
Wir müssten aufhören, wie Konsumenten zu denken. Aufhören zu glauben, wir hätten Anspruch auf eine bestimmte Art von Wohlstand. Aufhören zu glauben, wir könnten alles besser regeln als das Universum selbst. Aufhören zu denken, die Erde sei unser Eigentum, gemacht allein zur Befriedigung unserer Wünsche und Bedürfnisse.
Und mehr noch als "tu dies nicht" und "verzichte auf das" und "hör damit auf" erfordert es eine positive Vision davon, wie erfülltes menschliches Leben stattdessen aussehen kann. Wir müssen uns als Wesen neu definieren. Anders als bisher wäre dies kein "Führer befiehl, wir folgen dir". Keine geschriebene Regel würde uns zwingen, plötzlich alle zusammen ein grünes Dasein zu führen. Niemand würde Verzicht predigen. Die Entscheidung käme von innen heraus, geboren aus Einsicht der einzelnen Person in die Verbundenheit aller lebenden Systeme und in Abstimmung mit diesen. Sie wäre aus sich heraus vernünftig, ja zwingend, und sie sähe für jeden ein wenig anders aus.
Wenn ich "muss" sage, dann steckt dahinter nur eine einzige Triebfeder: Das Überleben unserer Zivilisation, wenn nicht gar der Gattung. Wir sind natürlich zu nichts verpflichtet. Aber wenn wir auch in 100 Jahren noch hier sein möchten, dann werden wir mehr als einem grünen Anstrich für unser altes Haus brauchen. Wir werden es von Grund auf neu bauen müssen.
Ich sage dies, weil auch in Auroville die Versuchung besteht, aus alten Lumpen neue Kleider zu schneidern. Schneller als irgendwo sonst wird klar, dass das den Weg in die Zukunft verfehlt. Jede Nachlässigkeit, jede Egozentrik, jeder Konsumwunsch, jede überholte Struktur sticht heraus wie ein Loch in einer makellosen Zahnreihe, und es wird zum Anlass genommen, über ursprüngliche Ziele und deren Anpassung an neue Verhältnisse zu reden. Auroville ist ein Versuchlabor in großem Maßstab, ein Modell für den Rest der Welt. Nicht zum Überstülpen, nicht zum massenweisen blinden Kopieren, sondern als Anregung für den Einzelnen.
Denn während es stimmt, dass ich als Einzelner zu schwach bin die ganze Welt zu ändern, bin ich stark genug mich selbst zu ändern. Wenn sich überhaupt etwas ändern soll, dann fängt das beim Einzelnen an. Denn "die Menschheit" ist kein Lebewesen, das Entscheidungen treffen kann. Ich sehr wohl.
Wichtiger als eine grüne Lebensweise, die auf rein rationaler Überlegung fußt oder auf der Angst, eines Tages den letzten Halm aufgegessen zu haben, erscheint mir die Änderung der Vision, der Weltanschauung, der Grundeinstellung. Die Lebensweise ergibt sich dann von allein.
Unsere Vorstellung von uns selbst und einer von uns selbst getrennten Natur beispielsweise ist so absurd wie die Ansicht, in diesem "Reich der Natur" ginge es um Wettbewerb oder das Überleben des Stärkeren. Wäre das so, dann hätte sich die Zahl der Spezies im Lauf der Zeit konstant verringert. Das Gegenteil ist der Fall. Wir beobachten fortschreitende Diversifikation und wir sehen, dass jedes Lebewesen sich in den Nährstoffkreislauf einreiht, sowohl als Nährstoffnehmer wie auch als Nährstoffquelle. Jede Spezies entwickelt eigene Strategien. Es gibt keine einzig richtige Art zu leben, sondern es überlebt, was funktioniert. Wenn wir glauben, der Mensch nähme eine Ausnahmestellung ein, dann irren wir. Und das ist eine gute Nachricht. Denn drei Millionen Jahre lang hat unsere Gattung sich perfekt in das Gefüge des Lebens eingepasst. Ansonsten wären wir nicht hier. Wir sind nicht aggressiver als ein Wolf, nicht egoistischer als ein Rind, nicht gieriger als Bäume oder Ameisen oder Vögel oder Katzen. Was angeblich unsere menschliche Natur ausmacht, ist lediglich eine Laune der Kultur. Ich finde wirklich, das sind verdammt gute Nachrichten.
(Fotos: Banyan Tree Luftwurzeln und ein streunender Hund)