Die Ursachen und Urheber des 2. Weltkriegs - Neunte Auflage (1973)
Zweiundzwanzigstes Kapitel. Englands Ablehnung des italienischen Konferenzplanes und der Ausbruch des 2ten Weltkrieges
Italien gibt den Vermittlungsversuch auf.
Unglücklicherweise gelang Halifax der unglaubliche Betrug. Mussolini kam zu dem Schluß, daß die Sache des Friedens verloren sei. Damit beging Italien einen ungeheuren Fehler. Gab es doch noch keinen Grund zu der Annahme, die Briten könnten ohne Frankreich handeln. Ciano und Mussolini war wohl dieser Aspekt der Situation infolge ihrer großen Furcht vor der militärischen Stärke Englands und ihrer Sorge um Italiens Sicherheit entgangen. Trotz ihres von Affekten getrübten Denkens war es unentschuldbar, jeder Äußerung von Halifax Glauben zu schenken, ohne zunächst einmal ihre Richtigkeit an anderer Stelle nachzuprüfen.
Ciano wie auch Mussolini mußten es wissen, daß die Geschichte der britischen Diplomatie von Täuschung und Betrug übelster Art durchsetzt war.
...Kennard kabelte Halifax um 8 Uhr abends des 2. September aus Warschau, Beck erbitte größere britische Luftoperationen zugunsten Polens. Die optimistisch gefärbten polnischen Heeresberichte konnten die Tatsache nicht verbergen, daß es keine polnische Luftwaffe mehr gab, und die polnischen Führer waren naiv genug, zu erwarten, die Briten würden ihnen helfen.
Kennard war nicht ganz so naiv, aber er kabelte Halifax folgendes: „Ich vertraue darauf, daß man mich zum frühestmöglichen Zeitpunkt über unsere Kriegserklärung unterrichten und daß unsere Air Force sich mit allen Mitteln darum bemühen wird, aktiven Einsatz an der Westfront zu zeigen, und zwar in dem Sinne, daß der Druck hier nach. läßt.”
...Am 2. September um 8 Uhr 20 abends kabelte Ciano verhängnisvolle Instruktionen an Attolico. Er teilte ihm mit, Mussolini habe formell sein Angebot zurückgezogen, zwischen Großbritannien, Deutschland, Polen und Frankreich zu vermitteln.
Der Kriegswiderstand Frankreichs bricht zusammen.
...Um 2 Uhr in der Nacht zum 3. September gaben die Briten ihren endgültigen Zeitplan bekannt, der auf ein zweistündiges Ultimatum von 9 Uhr morgens bis 11 Uhr hinauslief. Bonnet wartete die von Halifax vorgeschlagene 24-Stunden-Frist nicht ab, um zu sehen, was die Briten nach Ablauf ihres zweistündigen Ultimatums ohne die Zustimmung der Franzosen tun würden. Bonnet hatte in dieser letzten Bewährungsprobe nicht genügend Zivilcourage, die Hauptverantwortung für eine Herausforderung der britischen Führer selbst zu übernehmen. Er teilte Phipps mit, das Ultimatum Frankreichs werde am 4. September um 4 Uhr morgens ablaufen.
Die Kriegserklärung Englands und Frankreichs an Deutschland.
.... Göring sprach in tiefem Ernst für jeden der Anwesenden, als er sagte: „Der Himmel sei uns gnädig, wenn wir diesen Krieg verlieren’!” Das war gewiß keine Übertreibung.
Auf Erden sollte Deutschland keine Gnade finden. Erst einige Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges sollten die Westmächte den Deutschen einige Zugeständnisse machen, die es ihnen gestatteten, aus der Tiefe einer totalen Versklavung allmählich aufzutauchen. Doch war es die Furcht vor dem Kommunismus und nicht irgendein Gefühl für Barmherzigkeit, das sie dazu veranlaßte.
...Um 10 Uhr 50 telefonierte Dahlerus noch einmal, um in großer Erregung anzukündigen, Deutschland habe eine Antwort auf das britische Ultimatum abgefaßt. Er hoffe, diese Antwort werde noch vor 11 Uhr in London eintreffen, obwohl er das nicht gewährleisten könne. Dann setzte er hinzu, Göring habe von Hitler die offizielle Erlaubnis bekommen, zu einer Friedensmission nach England zu fliegen. Dahlerus wollte gerade etwas über die Vollmachten sagen, mit denen Göring ausgestattet worden sei, und die Zugeständnisse, die er zu machen bereit sei, als Cadogan ihm das Wort abschnitt. Schroff teilte dieser ihm mit, “die britische Regierung könne ihre Entscheidung nicht hinausschieben, und legte den Hörer auf“. Dahlerus konnte Cadogan nicht mehr sagen, daß die Reichsregierung eine zweite Note abgefaßt hatte, für den Fall, daß die britische Regierung es ablehnen würde, ihre Entscheidung hinauszuschieben. Eines stand in dieser furchtbaren Lage fest: Die deutschen Führer würden, herausgefordert durch Englands Kriegserklärung, vor den Briten nicht im Staube kriechen.
Ribbentrop empfing Henderson nach dem Ausbruch des deutsch-englischen Krieges und händigte ihm eine an Chamberlain und Halifax gerichtete Antwort aus. Das geschah am 3. September um 11 Uhr 20. Die Note begann mit der folgenden mutigen Erklärung:
„Die Deutsche Reichsregierung und das deutsche Volk lehnen es ab, Forderungen in Form von Ultimaten von der britischen Regierung entgegenzunehmen, zu akzeptieren, geschweige denn zu erfüllen.“
Die deutsche Note befaßte sich mit dem Grundgedanken, daß seit vielen Monaten kriegsähnliche Zustände entlang der deutschen Ostgrenze geherrscht hätten. Sie endete mit den Worten:
„Das deutsche Volk und seine Regierung haben nicht wie Großbritannien die Absicht, die Welt zu beherrschen, aber sie sind entschlossen, ihre Freiheit, ihre Unabhängigkeit und vor allem ihr Leben zu verteidigen.“
Das Gleichgewicht der Schwäche.
...Nach fast sechs Jahren grausamen Ringens brach der deutsche Widerstand zusammen. Nach Deutschlands Abtreten als Großmacht im Jahre 1945 gab es in West- und Mitteleuropa keine Großmächte mehr. Der US General Albert Wedemeyer hat das in bewunderungswürdiger Weise so ausgedrückt: “Die westlichen Staaten führten ihren Krieg gegen Deutschland wie indianische Skalpjäger, ohne die Zukunft zu bedenken oder zu beachten. Unter diesen Umständen kann es niemand überraschen, daß der wahre Sieger des 2. Weltkrieges die Sowjetunion war“.
Das stolze Britische Empire schrumpfte, verglichen mit dem sowjetischen Koloß, zu einem kümmerlichen Zwerg zusammen. Ohne die Kriegspolitik von Lord Halifax, der den kommunistischen Führern direkt in die Hände spielte, wäre das gar nicht möglich gewesen. Die Verantwortlichen Englands haben aus dem 1. Weltkrieg nichts gelernt. Nichts deutet darauf hin, daß sie aus dem 2. Weltkrieg etwas gelernt haben.
...Die Zeitschrift Time and Tide erklärte 1959, „den Kampf um den Frieden aufgeben (d. h. Befriedung der Sowjetunion), hieße die Männer verraten, die in den beiden großen Kriegen dieses Jahrhunderts gefallen sind“. Der Verrat an den tapferen britischen Kämpfern, die in zwei unnötigen Kriegen gegen Deutschland starben, kann nicht wiedergutgemacht werden durch das gegenwärtige schwache Bemühen der britischen Führung, den furchtbarsten Feind, der Großbritannien in seiner ganzen Geschichte jemals gegenübergetreten ist, zum friedlichen Schweigen zu bringen. Der italienische Diplomat und Historiker Mario Toscano wies 1958 in einer Rede in London darauf hin, daß an die Stelle des Gleichgewichts der Kräfte das Gleichgewicht der Schwäche getreten sei. Das war auch das Schicksal der Kräfteausgleichspolitik Italiens im Zeitalter der Renaissance.