Die Ursachen und Urheber des 2. Weltkriegs - Neunte Auflage (1973)
Siebzehntes Kapitel Verspätetes englisch-französisches Liebeswerben um Russland
Das englisch-französische Angebot auf Kosten Polens
...Kennard stellte weiter fest, es sei aussichtslos, die Frage
bei Beck zu verfolgen. Der polnische Generalstabschef, General Stachiewicz, hatte den französischen Militärattache in Warschau, General Musse, unterrichtet, Polen lehne den Vorschlag eines russischen Durchmarsches offiziell ab. Kennard gab zu, in dieser schwerwiegenden Frage die Einstellung Becks zu teilen, und brachte dann eigene Argumente gegen den Plan dahingehend vor, dass die Briten ihre besonderen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten gefährden, wenn sie gemeinsam mit den Franzosen Druck auf Polen ausüben würden.
...Dreimal wiederholte er [Daladier] es mit steigender Betonung vor Bullitt, wenn die Polen die russische Hilfe abwiesen, werde er keinen einzigen französischen Bauern nach Polen schicken, um dort seine Haut zu Markte zu tragen.
...Einige Tage später musste der Präsident zu seiner Beunruhigung erfahren, dass Alexis Leger vom französischen Außenministerium gar nicht der bedingungslose Befürworter eines Krieges um jeden Preis war, wie Bullitt behauptet hatte. Leger enthüllte seine Meinung, es würde höchst unklug von Großbritannien und Frankreich sein, Deutschland ohne den militärischen Beistand der Sowjetunion anzugreifen.
Daraus war zu entnehmen, dass, wenn die Verhandlungen in Moskau missglückten, in Frankreich praktisch überhaupt keine Unterstützung für eine Kriegspolitik bestand. Roosevelt erfuhr ferner, dass Premier Daladier nach wie vor auf die „verbrecherische Torheit” der Polen schimpfte. Halifax würde, das erkannte Roosevelt genau, seinen liebevoll gehegten Plan eines Krieges gegen Deutschland aufgeben, wenn es ihm nicht gelänge, sich den militärischen Beistand der Sowjetunion oder Frankreichs zu sichern. Für Amerikas Präsidenten war der Gedanke, dass der Frieden vielleicht doch noch gerettet werden könnte, geradezu quälend, denn ihm sollte ein europäischer Krieg dazu dienen, seinen Traum von der Verewigung seiner Amtszeit und der Erhöhung seines Ansehens zu verwirklichen.
...General Gauche war der festen Ansicht, Frankreich solle es, wenn die Moskauer Verhandlungen fehlschlügen, Hitler gestatten, mit Polen abzurechnen, und diese Meinung trug er Daladier, Bonnet und den Militärbefehlshabern auch vor. Dazu argumentierte er, Frankreich sei berechtigt, sich über frühere Verpflichtungen an Polen aus drei Gründen, und zwar aus jedem für sich, hinwegzusetzen.
Der Abschluss des Paktes von 1934 mit Deutschland, ohne Frankreich zu konsultieren, habe den Geist und den Zweck des französischen Bündnisses verletzt; das polnische Ultimatum an den tschechoslowakischen Verbündeten Frankreichs im Oktober 1938 sei als ein direkter Angriff auf französische Interessen auszulegen; die Polen hätten den Zweck und den Geist ihres Bündnisses mit Frankreich verletzt, als sie eiligst die Begründung des deutschen Protektorates von Böhmen-Mähren im März 1939 anerkannt hatten, ohne die französische Führung zu konsultieren.
...Strang sprach mit Sir Alexander Cadogan über die französische Demarche. Beide waren sich einig darin, dass Frankreich handle, ohne Großbritannien zu konsultieren, und dabei mit dem britischen Einverständnis ex post facto rechne. Diese Vermutung war begründet, denn Halifax hatte Bonnet mehrmals in seiner Ansicht bestärkt, es sei notwendig, Russland die Erlaubnis zu geben, militärische Operationen in Polen durchzuführen. Strang kam zu dem Schluss:
„Es kann sehr gut sein, dass ihre Beurteilung der polnischen Haltung die richtige ist (und sie sollten es nach allen diesen Jahren eigentlich wissen, wie die polnische Denkweise zu beurteilen ist) und dass, solange die Polen ihre Zustimmung verweigern, sie damit wirklich sagen wollen, wir haben die Freiheit, mit den Russen weiterzumachen, vorausgesetzt, wir sagen den Polen nichts davon.”
Das war die erstaunliche Erklärung einer misslichen Situation. Doch war sie charakteristisch für die britische Diplomatie und das amtliche britische Denken. Strang wie Cadogan waren der Ansicht, die britische Regierung solle das französische Vorgehen unterstützen.
...General Doumenc erhielt seinen Ermächtigungsauftrag, ein engIisch-französisch-russisches Separatabkommen über Polen abzuschließen, erst nach dieser Sitzung. Marschall Woroschilow hielt den britischen und französischen Militärs einen Vortrag über Polen. Er erklärte, es hätte immer als unumstößlich gegolten, dass Russland das gleiche Recht haben müsse, in Polen und Rumänien zu operieren, wie es die Vereinigten Staaten und Großbritannien in Frankreich während des 1. Weltkrieges besessen hätten. Dann drückte er sein Erstaunen darüber aus, dass die westlichen Missionen ohne eine klare Verpflichtung in dieser entscheidenden Frage nach Russland gekommen seien. Unmittelbar nach Schluss dieser Sitzung erfuhren die westlichen Militärs aus den russischen Zeitungen von dem geplanten russisch-deutschen Nichtangriffspakt.