„Alle Daten müssen auf den Tisch“

Oct 04, 2022 22:14

Von Elke Bodderas
Verantwortliche Redakteurin
04.10.22


In Wissenschaftskreisen kommen Zweifel auf, ob die Angaben der Hersteller zum mRNA-Impfstoff stimmen. Biontech/Pfizer und Moderna verweigern sich bislang einer unabhängigen Überprüfung der Daten. Auch ein Stiko-Mitglied übt nun Kritik.
Virologen, Epidemiologen, Pharmakologen - sie mögen sich untereinander nicht immer grün gewesen sein in der Pandemie. In einem Punkt gibt es nun aber eine große Einigkeit: Es ist die Forderung nach einer unabhängigen Überprüfung der Studien, die zur Zulassung der mRNA-Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna führten. Die Studien sind zwar veröffentlicht. Jedoch fehlen die Primärdaten, wissenschaftlich gesehen die entscheidenden Unterlagen. Auf ihnen gründen alle Impfstoff-Bewertungen der Zulassungsstudien. Die Dokumente halten die Hersteller unter Verschluss, Anfragen auf Einsicht lehnen sie ab. Die einzig vorliegende Interpretation der Primärdaten stammt von den Herstellern selbst.

Anhand der veröffentlichten, bearbeiteten Studiendaten hatte zuletzt der US-Pharmazieprofessor und Senior Editor des „British Medical Journal“, Peter Doshi, eine Analyse versucht. Dabei stießen er und sein Expertenteam auf deutlich mehr schwere Impfnebenwirkungen als in den offiziellen Publikationen. Wie Doshi im WELT-Interview erklärte, hätten die Daten-Nachprüfungen bei den geimpften Versuchsteilnehmern sehr viel mehr schwere Gesundheitsschäden ergeben als in der Studie festgestellt. Beim mRNA-Impfstoff von Pfizer/Biontech lag der Wert 36 Prozent darüber, bei Moderna sechs Prozent in den Altersgruppen ohne Kinder und Senioren. Bezogen auf 10.000 Geimpfte ergaben sich bei Pfizer/Biontech 18 und bei Moderna sieben Fälle mit schweren Komplikationen, in der Spitze Herzschädigungen, Thrombosen und andere Störungen der Blutgerinnung. Ausdrücklich schränkt Doshi im WELT-Interview jedoch die Aussagekraft seiner Analyse ein. Für ein wissenschaftlich fundiertes Bild „sind die detaillierten Daten der Versuchspersonen Voraussetzung.“ Und die sind eben nicht da.
In Deutschland ist das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) dafür verantwortlich, Zahlen zu den Betroffenen von Impfnebenwirkungen zu melden. Die Behörde stützt sich auf Meldungen von Ärzten und anekdotische Berichte: Herzleiden, Autoimmunerkrankungen oder diffuse Beschwerden nach einer Impfung. Zugleich stellt das PEI selbst klar, dass man für bessere Analysen Patientendaten bräuchte, vorzugsweise von Krankenkassen. Auch geben viele Hausärzte auf Anfrage offen zu, sie würden mögliche Nebenwirkungen der Corona-Impfung oft nicht melden, weil dies pro Patienten 20 bis 30 Minuten Zeit in Anspruch nehme und diese Aufgabe nicht vergütet werden würde. Gut möglich also, dass die tatsächlichen Zahlen höher sind.

In der eher zurückhaltenden Wissenschaftswelt sorgt die Geheimniskrämerei der Hersteller in Sachen Patientendaten zunehmend für Unmut. Der Charité-Immunologe Andreas Radbruch sagt, es sei ein Grundelement der Wissenschaft, Daten kritisch zu überprüfen: „Daten unter Verschluss zu halten oder den Zugang zu erschweren, lässt den Verdacht aufkommen, die Impfstoffe könnten nicht so sicher sein wie behauptet. Die Einsicht sollte zumindest Fachleuten möglich sein.“ Es sei Aufgabe der Behörden, die Primärdaten einzufordern und die der Hersteller, sie zu liefern.

„In den 80er-Jahren gingen dafür noch Lastwagen hin und her“
Auch die Europäische Arzneimittelbehörde EMA und die US-amerikanische FDA können bei den Primärdaten nicht weiter helfen. Auf WELT-Anfrage beteuert die EMA, sie habe alle klinischen Daten veröffentlicht, „die als Teil des Antrags auf bedingte oder vollständige Zulassung eingereicht“ worden seien. Auch Unterlagen zu Impfnebenwirkungen seien dabei, präsentiert auf einer speziellen Internetseite. Das ist korrekt, die Seite führt alle klinischen Versuchsdaten auf. Die detaillierten Primärdaten sind jedoch auch hier nicht dabei. Dazu gehören etwa das Alter oder Vorerkrankungen jener Probanden, die unter Myokarditis erkrankten oder die genaue Dauer der Krankenhausaufenthalte. Mit einem Verweis auf die Website der EMA reagiert auch Biontech auf eine WELT-Anfrage. Im Übrigen könne man „Informationen, die unter den Datenschutz von persönlichen und Patientendaten fallen, nicht offenlegen“.

Dass die Hersteller detaillierte Informationen ihrer Zulassungsstudien unter Verschluss halten, ist zwar gängige Praxis. Unter dem Druck juristischer Verfahren beginnt die Mauer aber zu bröckeln. So hatte Peter Doshi als Pharmazie-Professor in einem vorangegangenen Fall maßgeblich dazu beigetragen, dass die Firma Roche alle Studiendaten, die sie im Rahmen der Zulassung ihres Grippemittels Tamiflu erhoben hatte, für eine unabhängige Analyse zur Verfügung stellen musste. Dabei zeigte sich, dass das Medikament eine sehr viel geringere therapeutische Wirkung als vom Hersteller angegeben hat und bedenkliche Nebenwirkungen mit sich bringen kann.
Fakt ist: Auch in Deutschland war der Eifer, an unter Verschluss gehaltene Daten zu kommen, schon mal größer. „In den 80er-Jahren passierte es regelmäßig, dass Delegationen der Zulassungsbehörden losmarschierten, um die klinischen Studien der Hersteller zu prüfen. Für die Hersteller waren solche Audits ein Alptraum. Gut ausgebildete Kontrolleure begutachteten die Berichte eines jeden einzelnen Studienteilnehmers“, sagt die Berliner Pharmaspezialistin Susanne Wagner, seit 30 Jahren in der Hightech-Forschung unter anderem bei Schering und der Charité. Ein solches Verantwortungsbewusstsein sollte bei neuen Medikamenten wie den mRNA-Impfstoffen Standard sein, so Wagner. Die Expertin wünscht sich, dass konkrete Fragen zu den Zulassungsstudien beantwortet werden: „Warum wurden 300 Probanden im Nachhinein ausgeschlossen, obwohl man weiß, dass so etwas das Ergebnis grob verzerren kann?“ Diese Fälle müssten anonymisiert geprüft werden, sagt sie: „Digital ist das leicht möglich. In den 80er-Jahren gingen dafür noch Papierkonvolute auf Lastwagen hin und her.“
Der Virologe Alexander Kekulé, der selbst klinische Studien geleitet hat, geht noch weiter. Er sieht in den Primärdaten eine Art öffentliches Gut: „Dass die Pharmahersteller die Daten nicht herausrücken, ist nicht zu rechtfertigen. Bei einem exotischen Impfstoff, der nur selten verimpft wird, kann man möglicherweise darüber hinwegsehen. Aber bei einem Massenimpfstoff wie den mRNA-Vakzinen muss man darauf bestehen.“ Doshi habe zwar nicht wissenschaftlich nachgewiesen, dass es mehr Nebenwirkungen gebe, „aber er hat Fragen aufgezeigt, die beantwortet werden müssen“.

Ähnlich sieht es der Epidemiologe Klaus Stöhr. Er ruft nach staatlichen Stellen zur Beauftragung, Durchführung und Überwachung der Studien: Angesichts der „sich mehrenden Hinweise auf einen potenziell größeren Schaden als Nutzen des Impfstoffes für die jüngere Generation wäre es grob fahrlässig, den Hinweisen aus der Studie von Peter Doshi nicht systematisch nachzugehen“.


https://twitter.com/stohr_klaus/status/1570360727059468288


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Der gesundheitspolitische Sprecher der FDP, Andrew Ullmann, sieht zuvor Klärungsbedarf mit Rechtsexperten. Letztlich sei es eine „Abwägungsfrage“, ob man detailliertere Daten einfordere. Jeder Datensatz betreffe auch immer einen Patienten, der seine persönlichen Gesundheitsdaten nicht unbedingt veröffentlicht sehen wolle. Außerdem hätten die Zulassungsbehörden bereits den Zugriff auf die Rohdaten.

Rohdaten jedoch sind weit weniger ergiebig als die geforderten und anonymisierten Primärdaten. Dass das vorliegende Material ausreicht, bezweifelt auch Jörg Meerpohl, Direktor des Forschungsnetzwerks Cochrane Deutschland und Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko). Es gehe um den barrierefreien „Zugang zu allen relevanten Daten aus allen klinischen Studien“, so Meerpohl. Nur so könne sichergestellt werden, „dass die Evidenz, die die Grundlage für Entscheidungen bildet, nicht verzerrt ist und dem Stand der Wissenschaft entspricht“. Sein Kollege Leif Erik Sander, Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung, formulierte es auf Twitter ganz knapp und ganz bündig: „Die Daten müssen auf den Tisch“.
https://www.welt.de/politik/deutschland/plus241385073/mRNA-Impfstoffe-Dass-die-Hersteller-die-Daten-nicht-herausruecken-ist-nicht-zu-rechtfertigen.html
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