Ich habe mir in der letzten Stunde einige meiner alten Tagebucheinträge in diesem Livejournal durchgelesen und sitze jetzt da und kann kaum begreifen, dass das tatsächlich ich war. So nah am Abgrund, dort verwurzelt; jeder Tag gespickt mit selbstverletzendem Verhalten und so viel Selbsthass und Verloren sein. Wenn ich das lesen, bin ich wirklich erstaunt, dass ich noch lebe. Dass ich mich nicht umgebracht habe.
(Dabei weiss ich noch, welche Gedanken mich hinderten. Dass niemand an meine Beerdigung kommen würde und wie sehr es meine Eltern zusätzlich verletzen würde zu sehen, wie allein ich war. Dass sie sich anhören müssten, dass es nicht schade um mich ist. Oder dass sie versagt haben.)
All die Wochen, in denen ich penibel darauf geachtet habe, nur 100 oder 200 oder 300 kcal zu mir zu nehmen, wie es das Ana Boot Camp eben gerade anordert. Die Verzweiflung, wenn 500 kcal angesagt waren und ich abends unter Tränen einen halben Muffin in mich reingestopft habe, um diese 500 zu erreichen. Die ungezählten Male, in denen ich mir den Finger in den Hals gesteckt und alles rausgewürgt habe. Die Rasierklingen, der Alkohol, die ganzen Fotos und Poster mit den abgeklebten Augen, um nicht gesehen zu werden. Die Paranoia. Die Unfähigkeit, aufzustehen und das Bett zu verlassen. Die Gefangenschaft im Haus, weil ich es einfach nicht schaffte, ohne Begleitung nach draussen zu gehen, und sei es nur zum Briefkasten - ich hatte so eine verdammte Angst, dass mich jemand ansieht. Jeder Blickkontakt barg das Risiko, dass ich später, wenn ich allein bin, zusammenbreche. Alles war zu viel.
Ich war so allein. Ich konnte niemanden in meiner Nähe ertragen.
Wie konnte aus mir jemand werden, der täglich (so ziemlich) rausgeht, der sich in den vollen Bus quetscht, wo Körperkontakt unmöglich zu vermeiden ist, der jeden Morgen und meistens jede Nacht aufsteht, weil die Kinder wach sind, der sich keine Gedanken um Kalorien macht und mit einer scheiss drauf Attitüde akzeptiert, dass in der Regel nur Zeit ist für Zähneputzen und einen Pferdeschwanz? Dieser Mensch, der ich noch vor wenigen Jahren war, ist mir inzwischen so fremd geworden. Ein Teil von mir, und das für immer, aber ... es ist, als hätte er sich irgendwann im Jahr 2014 oder anfangs 2015 genug bestraft. Als hätte er inzwischen Busse getan.
Ich bin noch immer nicht mein grösster Fan, aber wenn ich die alten Einträge lese, sehe ich überdeutlich: ich komme immer mehr mit mir selber ins Reine. Ich sehe meine Fehler, ich versuche, mich im Rahmen des Möglichen zu bessern, aber ich verabscheue mich nicht mehr für meine Unvollkommenheit. Ich bin nicht mehr ein einziger Schandfleck, ich gestehe mir selber einen Platz in dieser Welt zu. Es ist okay geworden, ich zu sein. Ich darf. Atmen, existieren, glücklich sein.
Komisch, wie sehr sich manches ändert und man es nicht einmal realisiert.