über die vorleserei

Sep 04, 2008 12:49

Man stelle sich folgende Szene vor: Ich sitze am Esstisch und ackere einen Prüfbogen nach dem nächsten durch, weil man ja nicht gerne 66€ und ganze sieben Cent dafür zahlt, durch die Theorieprüfung zu fallen. Meine Oma sitzt in der Küche. Weil für eine gesegnete halbe Stunde sogar die scheißdummen Blagen aus dem Erdgeschoss aufgehört haben, nach Süßigkeiten zu schreien, herrscht eine friedliche Stille. Gerade zermartere ich mir das Hirn darüber, ob Katalysatoren beim Abschleppen tatsächlich beschädigt werden können und ob ich mir den einen Fehlerpunkt noch erlauben darf oder ob ich dann zum x-ten Mal den Kampf der Titanen gegen den hinterhältigen Prüfbogen verloren hätte, da fängt die Oma auf einmal an zu reden.

"Liebes Bisschen, hast du das gewusst? Immer mehr Jugendliche greifen zur gesundheitsschädigenden Wasserpfeife!"
"Ach echt?" Ich betrachte ein Bild mit zwei Knaben in Turnhosen und Tennissocken, die am Straßenrand offensichtlich einen altmodischen Volkstanz aufführen. Wie muss ich mich verhalten? a) Hupen und mit gleicher Geschwindigkeit weiterfahren, b) Geschwindigkeit vermindern, bremsbereit bleiben und vorsichtig vorbeifahren, c) mich nach der versteckten Kamera umsehen, d) unverzüglich ein Museum oder die Modepolizei anrufen, weil ich zwei Relikte aus den tiefsten modischen Abgründen der Achtziger gefunden habe, e) das Gaspedal bis zum Anschlag durchtreten und die Streberkinder mit 180kmh niedermähen, weil ich diese verkackte Frage jetzt schon zum viertausendsten Mal beantworten muss.
"Das Bundesinstitut für Risikobewertung warnt seit langem, dass über den Rauch von Wasserpfeifen zum Teil größere Schadstoffmengen aufgenommen werden als über filterlose Zigaretten", deklamiert die Oma. Ich frage mich, woher sie auf einmal diese Fähigkeit hat, perfekte Sätze auszuformulieren, ohne dabei Luft zu holen - wo es doch sonst in der Familie liegt, den Blick nach den ersten drei Wörtern dunstig in die Ferne zu richten und geheimnisvoll zu verstummen.
"Wasserpfeifen sind die Alkopops der neuen Generation", hallt es düster aus der Küche wie eine biblische Prophezeiung oder etwas, aus dem Dan Brown in weniger als zwei Wochen einen neuen Bestseller machen könnte. "Steht zumindest im Stern", fügt sie hinzu. Ich höre Seiten rascheln. Mir geht ein Ballsaal in Flammen auf: Ich bin bloß wieder einmal Opfer der Vorleserei geworden.

Es ist ja sicher lieb gemeint; man möchte die Leute an seiner eigenen Überraschung teilhaben lassen, seine Gefühle teilen, denn geteilte Aufregung ist doppelte Hysterie ist vierfacher Spaß für alle Beteiligten etc. Vielleicht hofft man auch, an das Vorlesen würde sich ein netter Plausch anschließen, in dem man sich über die Unglaublichkeit des soeben Gelesenen austauscht. Es ist wahrscheinlich sozial und nett und gehört zum menschlichen Beisammensein dazu, anderen Leuten aus Zeitschriften vorzulesen; ein Grund mehr, dass ich hinter den tieferen Sinn dieses Brauches trotz langem Sinnieren darüber nicht kommen will. Warum können manche Leute keine einzige Zeitschrift lesen, ohne jeden gelesenen Satz in die ganze Welt herauszuposaunen? Ohne auch nur einmal darüber nachzudenken, dass andere Leute die schreckliche Bedrohung der Jugend durch die Wasserpfeife, die siebenunddreißig Faceliftings der Brigitte Nielsen und die Tatsache, dass ein Hartz-IV-Empfänger auf Malle eine dicke Luxusvilla besitzt, nicht im Mindestenten interessiert?

Ich überlege noch, ob ich als Gegenleistung aus meinen Prüfbögen vorlesen soll (ist das die angemessene Reaktion, die richtige Antwort auf Vorlesen als sozialer Austausch, oder begehe ich damit einen fürchterlichen Fauxpas im zwischenmenschlichen Miteinander?!), da fragt mich die Oma schon, was "wie" auf Italienisch heißt, vier Buchstaben waagerecht, mit einem O drin. Vorlesen zuende, sie macht jetzt das Kreuzworträtsel. Mann, ich kann ja nur hoffen, dass Vorleserei nicht genetisch vererbbar ist - wobei meine Mutter das auch schon immer macht. Hoffentlich kann ich mich beherrschen! (x_x)

dumm, lustig

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