wieder von damals & heute oder morgen

Oct 29, 2007 10:28

Ich stehe im ersten Stock meiner alten Schule. Es ist leer, muss wohl nach 16 Uhr sein. Ich bin nicht sechzehn, nicht neunzehn und auch nicht zweiundzwanzig. Vielleicht bin ich fünfundzwanzig, siebenundzwanzig, dreißig. Ich habe schicke Klamotten an und meine Frisur liegt genau so, wie ich sie gern habe. Ich glaube, ich habe sogar meinen Abschluss in der Tasche. Oder ein Buch?

Hinter mir stehen Menschen. Mein alter Klassenlehrer, meine Mathelehrerin der Oberstufe und mein Politiklehrer. Mein alter Klassenlehrer lächelt mir leicht zu, meine Mathelehrerin schaut so vergnügt drein wie damals schon und mein Geschichtslehrer guckt, als würde er auf irgendetwas warten. Soll ich ihn unterhalten? Meine Französischlehrerin fehlt. Ich weiß, dass Florian und Katharina da sind. Sie stehen auch irgendwo hinter mir. Florian schaut überlegen drein und Katharina hilflos. Sie wissen, glaube ich, nicht so ganz, was sie hier sollen. Adrian und Melvin sind auch da, vielleicht auch Markus und André und Daniel, die Jungs ausm Chor. Der A und Mel lächeln mir aufmunternd zu. Ich hab sie vermisst, seit Jahren.

Ich stehe vor einer halboffenen, halbgeschlossenen Tür, vor dem Raum, in dem ich in der zwölften Klasse immer Mathe hatte, und ich weine.

Marit steht neben mir. Sie schaut wie alle auf die Tür, während ich den Kopf gesenkt habe.

Ich weine lange und ausdauernd. Ich verkneife mir zwar das laute, befreiende Schluchzen, denn es sind so viele Leute da, aber es fühlt sich trotzdem richtig an, zu weinen. Ich könnte es auch gar nicht nicht tun, denn ich habe Angst - denn ich stehe vor dieser Tür.

Ich steh da und weine, wie ich es damals nicht konnte. Nacheinander gehen die Menschen um mich herum und lassen mich in angenehmer Einsamkeit trauern. Marit fragt, ob ich okay bin und akzeptiert mein Nicken. Wenn du uns suchst, wir sind unten, sagt sie und drückt mir einen Teddy in die Hand. Dann ist auch sie weg.

Ein paar Momente bleibe ich stehen, dann dängt es mich nach vorn. Ich öffne die Tür und bekomme erst einmal keine Luft mehr. Die Tische sind leer, draußen ist es grau, sehe ich durch die Fenster. Die Vorhänge sind immer noch braun. Ich setze mich an meinen alten Platz, aufrecht, und schaue zur Tafel, in den Raum, zur offenen Tür wieder hinaus. Dann schließe ich die Augen und der Raum füllt sich.

Ich sinke in mich zusammen und muss mich an einem Stift festhalten. Gemurmel um mich herum, Heike, die an ihrem Stift kaut, Juliane, die schon bei der nächsten Aufgabe ist und Veronika, die gelangweilt mit dem Stuhl kippelt. Da, wo ich nicht wage hinzusehen, sitzen die Menschen, die mir wehtun.

Teresa, könnten Sie dieses Problem für uns lösen?

Nein, kann sie nicht.
Wer so blöd ist, kann das doch nicht.
Halt’s Maul, Teresa.

Ich mache die Augen auf und alle sind noch da. Dass ich geweint habe, sieht jeder. Ich schaue Daniel oder Maxi oder Florian an und sie sind still. Daniel schaut weg, Maxi schaut weg und Florian auch. Sie starren auf ihre Tische, so wie ich es immer getan habe, musste, damals. Ich stehe auf, gehe auf sie zu und bleibe vor einem von ihnen stehen. Er weicht mir immer noch aus, kritzelt in seinem Heft, tut unbeteiligt. Ich sage, Schau mich an und er gehorcht. Dann schlage ich ihm ins Gesicht.

Ich verlasse den Raum. Langsam schließe ich die Tür hinter mir und mir wird schwindelig. Ich sacke zusammen und bleibe erst einmal sitzen. Hab ich irgendwo Taschentücher? In meinem Kopf dröhnt es noch, dröhnt Kannst du nicht, Blöd bist du, Fehlst niemandem. Dann der Schlag, wie warme, weiche Musik. Gut. So gut, so geht es, gut, warm, schmerzend und echt.

Ich hab den Teddy in der Tasche. Ich denke kurz darüber nach, runter zu gehen; eine Verschnaufpause, einen leckeren, warmen Kaffee und eine Waffel vielleicht. (Eine von diesen abgepackten Waffeln, die der Hausmeister immer in den Pausen verkauft hat.) Aber wär ich erst einmal unten, würde ich so schnell nicht wieder hochkommen. Hier sind noch viel zu viele Räume, in die ich seit Jahren nicht mehr hineingeschaut habe; ich muss oben bleiben.

Ich komme auf die Füße und vergrabe meine Hand in der Jackentasche. Sie ist mir jetzt nicht mehr ganz geheuer, aber abhacken werde ich sie mir sicher nicht.

leben : die welt ist unüberschaubar

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