Aug 11, 2017 21:43
Mehr als Worte
Sprache besteht nicht nur aus Gesprochenem. Gesten sind ein wesentlicher Teil der Kommunikation. Sie liefern zusätzliche Information, ordnen das Gesagte ein, zeigen Wut wie auch Begeisterung - und führen zu saftigen Missverständnissen
Von Katrin Blawat
Vermutlich fehlten Jean-Claude Juncker beim Treffen der Euro-Gruppe einfach die Worte. Im Jahr 2012 streckte der Chef der Runde plötzlich die Hände aus und legte seine Finger um die Kehle des spanischen Wirtschaftsministers. Der hatte soeben eine Neuverschuldung seines Landes verkündet, schon wieder! Juncker hätte die desaströse Entwicklung lautstark kritisieren können. Stattdessen wählte der Vorsitzende der Euro-Gruppe: eine Geste. Er tat so, als wolle er Luis de Guindos würgen.
Die Geste blieb im Gedächtnis, viel mehr, als es Worte je vermocht hätten, nicht nur als Symbol für die Kindereien im Politikbetrieb. Die Geste belegte auch die Macht von Handbewegungen, die weit mehr sind als ein Wedeln mit den Fingern, mehr als Lückenfüller in Momenten, in denen die passende Vokabel fehlt. Wer bei „Sprache“ ausschließlich an gesprochene Worte denkt, wird der Bedeutung der Zeichensprache nicht gerecht. „Sprache ist von Natur aus immer multimodal“, schreibt Asli Özyürek vom Max-Planck-Institut (MPI) für Psycholinguistik im niederländischen Nimwegen. Schätzungsweise 90 Prozent aller gesprochenen Äußerungen werden von Gesten begleitet.
David McNeill von der University of Chicago, einer der Altmeister der Gestenforschung, bezeichnet sie sogar als „Fenster zum Geist“, um „das Denken und die Sprache zu unterstützen“. Gesten zeigen, worauf es einem Sprecher wirklich ankommt, sie betonen, erläutern, schwächen ab oder stellen das Gesagte infrage. Sie helfen, eine Botschaft auszudrücken und machen sie besser verständlich.
Besonders deutlich wird das in Situationen, in denen sich Menschen mit präzisen Worten schwer tun - etwa wenn sie ihre Schmerzen beschreiben sollen. Nehmen sie zusätzlich die Hände zu Hilfe, kann ihr Gegenüber viel besser nachvollziehen, was den Sprecher peinigt, hat ein Team um Samantha Rowbotham von der University of Manchester festgestellt. So sprach eine Studienteilnehmerin über ihre Rückenschmerzen und krampfte dabei beide Hände auf Höhe der Rippen zusammen. Andere Probanden schlossen allein aus dieser Geste, dass die Schmerzgeplagte neben der Pein im Rücken auch unter einem Engegefühl im Brustkorb litt.
Verglichen mit Gesten wirkt die Lautsprache oft umständlich, wenn nicht gar unbeholfen. Unterhalten sich zum Beispiel zwei Freunde über die geplante Anschaffung eines Tisches, bräuchte es viele Wörter, um die gewünschte Beschaffenheit des Möbelstücks zu beschreiben. Stattdessen genügt eine einzige Handbewegung, um über Größe und Form Auskunft zu geben. Manchmal wird eine Geste auch einstudiert, um ja nichts über den Gemütszustand des Menschen zu verraten, wie bei der berühmten Handhaltung von Angela Merkel, die wohl vor allem vermeiden soll, dass sie beim Sprechen herumfuchtelt.
Allerdings finden Linguisten auch viele Gemeinsamkeiten zwischen Lautsprache und Gesten. „Bei Gesten gibt es ebenfalls eine einfache Form von Grammatik“, sagt die Linguistin Ellen Fricke von der TU Chemnitz, eine der Mitorganisatoren des Projekts „Towards a Grammar of Gesture“. Problemlos kann eine Geste etwa in dem Satz „Ich trinke eine Tasse Kaffee“ Verb, Objekt oder Substantiv ersetzen. Soll die Handbewegung für das Verb „trinken“ stehen, verwendet man eine sogenannte agierende Geste: die Hand zum Mund führen. Will man vor allem das Trinkgefäß betonen, kann man mit den Händen, die wie zum Wasserschöpfen gehalten werden, eine Tasse nachahmen oder deren Umrisse in die Luft malen.
Anders als die Grammatik der Lautsprache gilt die der Gesten zum Teil sogar als kulturübergreifend, haben Gerardo Ortega und Asli Özyürek vom Nimweger MPI für Psycholinguistik gezeigt. Sie verglichen gestische Äußerungen (ohne begleitende Lautsprache) auf Englisch und Türkisch. Im Englischen dominiert die Satzstellung Subjekt - Verb - Objekt; im Türkischen hingegen Subjekt - Objekt - Verb. Für ihre Handbewegungen wählten die Probanden beider Sprachen jedoch die gleiche Satzstellung: Subjekt - Objekt - Verb. Auch Studien zu anderen Sprachen brachten das gleiche Ergebnis, die Sprecher zeigten eine kulturübergreifende Grammatik in ihren Gesten.
Doch das Ausführen einer Geste ist nur eine Seite der Kommunikation - das kognitive Verarbeiten und Verstehen die andere. Auch hier zeigt sich das enge Zusammenspiel von gesprochener und gestikulierter Sprache: Das Gehirn des Empfängers verarbeitet beides auf die gleiche Weise. Entscheidend daran beteiligt sind in jedem Fall Teile des Temporallappens, eines wichtigen Areals der Sprachverarbeitung. „Gesten aktivieren ähnliche Hirn-Areale wie jene, die semantische Informationen von Gesprochenem verarbeiten“, fasst Özyürek die Ergebnisse zahlreicher Studien zusammen, in denen der Sauerstoffverbrauch oder die elektrischen Potenziale in den Gehirnen der Probanden gemessen wurden.
Ebenso werden ähnliche Hirnareale aktiviert, wenn das Gehirn über etwas Ungewöhnliches gestolpert ist - etwa über unsinnige Sätze wie „Sie kochte sich einen Socken“, oder auch, wenn eine betonende Geste ein nebensächliches Wort in einem Satz begleitet, also nicht zum Inhalt des Gesprochenen passt.
Manchmal allerdings passen Gesten überhaupt nicht mehr in den Alltag, sie werden von neuen technischen Entwicklungen überholt. Einst bediente man etwa eine imaginäre Wählscheibe und hielt sich die Faust mit ausgetrecktem Daumen und kleinen Finger zwischen Ohr und Mund, um pantomimisch das Telefonieren auszudrücken. Als die Wählscheibe durch ein Tastenfeld ersetzt wurde, verschwand die entsprechende Geste. Und in wenigen Jahren dürften Kinder kaum noch etwas mit dem angedeuteten Telefon am Ohr anfangen können, weil jeder mit Freisprechanlage herumläuft. Dafür hat sich das imaginäre „Wischen“ und Zoomen auf einem Display etabliert. „Gesten dienen als kultureller Wissensspeicher“, sagt die Chemnitzer Linguistin Ellen Fricke.
Doch nicht alle Kulturen teilen denselben Speicher. Welch unterschiedliche Bedeutungen die gleiche Geste in verschiedenen Erdteilen haben kann, musste zum Beispiel George Bush im Jahr 1992 bei einem Staatsbesuch in Australien erleben. Damals zeigte der damalige US-Präsident versehentlich den doppelten Stinkefinger. Eigentlich wollte George Bush das Victory- oder Peace-Zeichen machen. Dabei hielt er allerdings den Handrücken nach vorn - in den USA eine zwar ungewöhnliche, aber nicht weiter auffällige Abwandlung der bekannten Geste. In Australien dagegen mutiert das verkehrte Peace- oder Victory-Zeichen zur saftigen Beschimpfung.
Und was ist dran am Klischee, dass Südländer mehr gestikulieren als Menschen im Norden? Dieses „mehr“ in der Körpersprache von Südeuropäern konnte die Berliner Linguistin Cornelia Müller in ihrer Studie nicht bestätigen. Doch gestikulierten spanische Probanden raumgreifender, eher ausgehend von Schultern oder Ellenbogen. Bei den deutschen Testpersonen dagegen waren die Bewegungen oft lediglich im Handgelenk verankert und daher weniger auffällig. Ähnlich verhält es sich mit den gesprochenen Sprachen beider Länder - sie klingen im Süden lauter und ausdrucksstärker.
Wenn man immer wieder auf Ähnlichkeiten zwischen gesprochener und gestikulierter Sprache stößt, taucht unweigerlich die Frage auf: Haben sie sich auch zusammen entwickelt? Oder ist die eine aus der anderen hervorgegangen? Eine abschließende Antwort darauf hat niemand. Manche Wissenschaftler schließen sich dem amerikanischen Anthropologen Michael Tomasello vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie an. „Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation“ (so lautet der Titel eines seiner Bücher) sieht er in Zeigegesten. Aus dieser Nah-Form der Kommunikation habe sich die Lautsprache entwickelt.
Beobachtungen an Kleinkindern untermauern diese These. Das Gestikulieren hilft ihnen, sprechen zu lernen. Im Alter von neun bis zwölf Monaten vollführen Kinder die ersten Zeigegesten - noch ohne sich zu vergewissern, ob ein anderer sie sehen kann. Diese Fingerzeige sind wohl vor allem eine Krücke, um die eigene Gedankenwelt zu sortieren. Für seine ersten Zeigegesten verwendet ein Kind noch die gesamte Hand, als wolle es nach einem Gegenstand greifen. Erst später lernt es, nur mit dem Zeigefinger zu deuten. Und kann ein Kind bereits ein paar Wörter sagen, baut es in seine „Sätze“ Handbewegungen ein, die den noch fehlenden Wortschatz ersetzen sollen.
Gegen Ende des zweiten Lebensjahres jedoch, wenn der Wortschatz vieler Kinder stark wächst, verzichten sie zunehmend auf diese Art Hilfsgesten. Möglicherweise würde die Steuerung der Handbewegungen kognitive Ressourcen beanspruchen, die lieber fürs Sprechen verwendet werden, lautet eine Erklärung. Gesten- und Lautsprache konkurrieren während der kindlichen Entwicklung miteinander. Nach Ansicht mancher Forscher könnte das ein Hinweis darauf sein, dass sich beide Kommunikationswege in der Evolution gleichzeitig entwickelt haben. Im Widerspruch zu Tomasello lässt sich ihrer Ansicht nach keine klare Reihenfolge ausmachen, in der Gestik und gesprochene Sprache entstanden sind. Vielmehr entstamme beides der gleichen „evolutionär alten Infrastruktur“ im Gehirn und habe sich parallel entwickelt, so vermutet es zum Beispiel die Biologin Simone Pika vom MPI für Menschheitsgeschichte in Jena.
Wenn schon der Blick auf Kinder nicht hilft, um die Beziehung zwischen Gesten- und Lautsprache zu klären, vielleicht können dann Beobachtungen an Tieren Klarheit schaffen? Auch Schimpansen, Bonobos, Orang-Utans und Gorillas verwenden Gesten - vor allem, wenn sich die Tiere in übersichtlichem Gelände unter vertrauten Artgenossen oder Menschen befinden.
Im Zoo etwa deuten sie auf Trauben, um den Wärter zu einer Futterspende zu bewegen; im Freiland zeigen sie auf jene Stelle an ihrem Rücken, an der sie von einem Artgenossen gekrault werden möchten. Oder sie begrüßen einen Kumpan, indem sie ihm ihre Hand (oder wahlweise den Fuß) darbieten und diese kurz im Mund des anderen verschwinden lassen. Ob solche Gesten weitgehend angeboren sind, oder Menschenaffen sie erlernen müssen, auch darüber wird heftig diskutiert.
Auffällig ist in jedem Fall, wie manche Affengesten denen der Menschen ähneln. Das gilt zum Beispiel, wenn eine Mutter aufbrechen will und ihrem Nachwuchs einen Arm entgegenstreckt: „Komm zu mir, wir gehen zusammen.“ Diese Geste versteht jedes Kind - ganz egal, ob es sich um einen kleinen Menschen handelt oder einen jungen Bonobo.
Süddeutsche Zeitung, Samstag, den 12. August 2017, Seite 33
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