Kollateralschaden der Geopolitik Die Türkei versucht wieder zu verhindern, dass der Völkermord an de

Apr 26, 2016 10:38

Kollateralschaden der Geopolitik
Die Türkei versucht wieder zu verhindern, dass der Völkermord an den Armeniern thematisiert wird. Damit greift sie die Werte des Westens an - und die deutsche Erinnerungskultur

von andrian kreye

Das Empörungspotenzial ist, was den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan betrifft, im westlichen Europa und vor allem in Deutschland gerade schier unerschöpflich. Er tut ja auch viel dafür. Es scheint fast, als inszeniere er einen Kampf der Kulturen. Und zwar ganz im Sinne jener These des Harvard-Politologen Samuel Huntington, der 1993 mit dem Essay „The Clash of Civilizations“ in das Vakuum nach dem Ende des Kalten Krieges einen Zusammenprall acht großer Kulturräume hineininterpretierte: Der Konflikt der Ideologien werde von Konflikten der Weltanschauungen abgelöst.

Als hätte man das in Ankara wie ein Strategiepapier gelesen, richten sich Erdoğans Übergriffe allesamt gegen die westliche Kultur und ihre Werte. Aber geht es ihm wirklich darum? Oder ist das hier vor allem eine Frage der Ehre? Oder geht es um eine Politik, die sehr viel pragmatischer ist, als es erscheint?

Nun wird die Affäre um die Dresdner Sinfoniker, die am Wochenende bekannt wurde, wohl nicht so viel Aufmerksamkeit erregen wie der Fall Böhmermann. Aber der Übergriff ist gravierender. Die Türkei hat bei der EU ein Werk beanstandet, das der türkisch-armenische Komponist Marc Sinan für ein Projekt der Dresdner Sinfoniker geschrieben hat. Es heißt „Aghet“. Das Wort Aghet kommt aus dem Armenischen und heißt zu Deutsch „Katastrophe“. In Armenien selbst meint man damit allerdings den Völkermord von 1915, ähnlich wie das hebräische Wort für Katastrophe, „Shoah“, ein Synonym für den Holocaust geworden ist. Es geht also um den immer noch empfindlichsten Teil der deutschen Kultur, die Erinnerungskultur.

Der englisch-niederländische Essayist Ian Buruma schrieb einst über eine deutsche „Kultur der Schuld“, die sich stark von der japanischen „Kultur der Schande“ unterscheide, obwohl beide Länder nach dem Zweiten Weltkrieg hart daran arbeiteten, ihre Verbrechen aufzuarbeiten, anstatt eine Kultur der Verdrängung zuzulassen. Folgt man Burumas Gedankengang, pflegt die Türkei im Umgang mit dem armenischen Genozid sogar eine Kultur der Leugnung, auf die sich nun auch die EU einlassen soll. Das aber rührt gerade in Deutschland an die Grundfesten des Selbstverständnisses.

Erdoğans Taktik ist leicht zu durchschauen. Zum einen sind die Übergriffe natürlich ein Machtspiel, weil Deutschland und die EU in der Flüchtlingsfrage seit dem Abkommen von der Türkei abhängig sind. Es sind aber auch Signale. Die EU soll verstehen, dass Werte und Kultur keine Einbahnstraße sind. Wer die Türkei als politischen Partner will, sei es in der Flüchtlingsfrage oder gar als Mitglied der EU, der hat sich gefälligst auch auf ihre Werte einzulassen. Russland und die arabische Welt aber, zwei Machtblöcke, die für Erdoğan realpolitisch eigentlich viel nützlicher und näher sind als das westliche Europa, sollen sehen, wie er Europa die Stirn bietet.

Die EU hat in den Augen Erdoğans verstanden. Böhmermann muss vor Gericht. Und der beanstandete Link zum Dresdner Projekt soll von der Webseite der EU, die es mitfinanziert, entfernt werden.

Die Übergriffe verweisen aber auch auf eine Schwäche des Westens - den Glauben an die Universalität seiner Kultur und seines Wertekanons. Dieser wird in vielen Teilen der Welt, sei es in Russland, in den arabischen Ländern oder in Afrika, allerdings nicht so allumfassend geteilt. Westliche Kultur- und Hilfsprogramme werden dort immer öfter als Paternalismus verstanden, der unangenehm an die Arroganz des Kolonialismus erinnert. Gerade Belehrungen, welches denn nun die korrekte Medien-, Humor- oder Erinnerungskultur sei, werden als bevormundende Gesten verstanden. Dabei ist die türkische Kultur ja keineswegs so fremd, wie so viele behaupten. Klassische Musik, Literatur und Pop spielen dort ähnliche Rollen wie in Westeuropa. Das wirkt vertraut und ist es auch.

Für säkulare Humanisten und liberale Demokraten gibt es da ein Dilemma. Auf der einen Seite gibt es diesen missionarischen Drang, den eigenen Kultur- und Wertekanon weltweit zu verbreiten. Auch wenn ein Symphonieorchester oder eine Buchmesse allein noch kein Zeichen für Demokratie sind, so ist doch die Kultur immer auch Teil der Wertegemeinschaft. Zum anderen gehören spätestens seit den Avantgarden des mittleren 20. Jahrhunderts Offenheit und Kulturtoleranz zu diesem Wertesystem.

Das aber führt oft in das klassische demokratische Dilemma. Im Falle der Kultur heißt es: Muss man in einer offenen Kultur auch Dinge zulassen, die diese Offenheit infrage stellen? Gilt die Freiheit der Meinung auch für die Meinung, dass diese Freiheiten abgeschafft werden müssten? Oder: Kann die Freiheit der Meinung wertvoller sein als die Freiheit der Religion oder das Recht auf die eigene Identität?

Es fällt säkularen Humanisten und liberalen Demokraten oft schwer, für ihre Werte zu kämpfen, denn das tun meist schon die Falschen - Rechtspopulisten, Demagogen, Samuel Huntington. Aber vielleicht kann man sich ja auf eine allgemein verträgliche Formel einigen: Kultur darf nicht zum Kollateralschaden zynischer Geopolitik werden. Selbst wenn diese Politik in der Flüchtlingsfrage einem gemeinsamen Ziel dient, das um den grundsätzlichsten aller Werte kämpft - den Schutz der Schwachen und Verfolgten.

Süddeutsche Zeitung, Dienstag, den 26. April 2016, Seite 11

Ein Völkermord, der keiner sein soll
Musik für Armenien. Von Vardan Mamikonian

Ein kalter, nasser Tag in Paris, der 24. April. Im achten Arrondissement versammeln sich Hunderte Menschen um das Komitas-Denkmal. Noch ein Jahrestag. Der hundertunderste mittlerweile. 1915 -2016. Der armenische Theologe und Musiker Komitas Vardapet überlebte den Genozid im Osmanischen Reich, verfiel aber in geistige Umnachtung.

Seit meiner Kindheit höre ich von diesem Genozid. Mein Großvater in Ghars (Türkisch: Kars) überlebte die Massaker dank eines türkischen Nachbarn. Der Nachbar versteckte ihn und seine Eltern, und als es an der Tür klopfte, sagte der Nachbar, er habe keine Ahnung von nichts. So überlebten mein Großvater Arutyun und seine Eltern. Später wanderten sie in die Armenische Sowjetrepublik aus. Diese Geschichte hörte ich als Kind mehrmals. Nur leider überlebten anderthalb Millionen andere Armenier eben nicht.

Ich bin im sowjetischen Jerewan aufgewachsen. In der Schule las ich Franz Werfels historischen Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ und war erschüttert. Mein Großvater sagte, jeder Armenier müsse bei sich zu Hause ein Franz-Werfel-Porträt aufhängen. Als ich am Moskauer Konservatorium studierte, freundete ich mich mit dem deutschen Geiger Ulrich Edelmann an, wir haben seitdem mehrere Konzerte zusammen gespielt, er ist Konzertmeister im Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks. Es hat mich damals in Moskau überrascht, als er sagte, „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ kenne man auch in Deutschland. Nichtarmenier interessierten sich also für die armenische Geschichte, zumindest für dieses blutige Kapitel.

Noch mehr überrascht war ich bei meiner Ankunft in Frankreich, wo ich seit mehr als zwanzig Jahren lebe. Die Franzosen kennen sich in der armenischen Geschichte gut aus. Das liegt nicht zuletzt an Charles Aznavour, dessen Eltern vor dem Genozid fliehen mussten. Bei jedem Konzert, das ich spielte, kam jemand auf mich zu, vergewisserte sich, dass ich Armenier bin, und wir sprachen nicht nur über Musik, sondern auch über 1915.

Und das war noch bevor Frankreich den Genozid an den Armeniern anerkannte. Die Türkei war entrüstet, als das 2001 passierte, französische Flaggen wurden verbrannt, Straßen umbenannt. Aber die programmierte Aufregung flaute dann auch erstaunlich schnell wieder ab. Das Handelsvolumen zwischen der Türkei und Frankreich nahm sogar zu.

Als der 100. Jahrestag nahte, hatte ich die Idee, weltweit hundert Gedenkkonzerte zu veranstalten. Daraus ist die Konzertreihe „100 concerts pour le centenaire“ geworden, bei der viele Freunde und Kollegen mitmachten, auch bekannte Musiker wie Lorin Maazel, Jewgenij Kissin, Arabella Steinbacher. Wir spielten mehrere Jahre, in Dutzenden Ländern, auch in welchen, die den Genozid nicht anerkannt haben. Ich kann mir vorstellen, dass Recep T. Erdoğan nicht begeistert war, aber er griff nicht ein. Eher umgekehrt: Die Veranstalter trafen selbst ihre Maßnahmen, informierten im Voraus die Polizei, sogar in kleineren Städten wie Ingolstadt spürte man Anspannung. Damit hatte ich gerechnet.

Womit ich nicht gerechnet habe, ist, wie unverfroren Erdoğans Leute nun gegen das Projekt Aghet von Marc Sinan und den Dresdner Sinfoniker vorgehen. Nur weil Erdoğan über das Schicksal von Millionen Flüchtlingen mitentscheiden darf. Noch weniger habe ich mit der Haltung der Europäischen Kommission gerechnet. Der Herrscher der Türken kann es sich leisten zu sagen, die Anerkennung des Genozids durch den Papst oder durch das Europäische Parlament gehe bei ihm zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Er kann es sich leisten, einen Offenen Brief der Internationalen Vereinigung von Völkermordforschern zu ignorieren. Gut. Aber nun kann er es sich offenbar auch leisten, die Europäer in ihren eigenen Ländern albern erscheinen zu lassen.

Talat Pascha, der Hauptverantwortliche des Genozids, fand nach dem Ersten Weltkrieg Zuflucht in Berlin. Dort wurde er 1921 von einem armenischen Rachekommando erschossen. Ich schätze an Deutschland nicht nur, dass es die Heimat meiner Frau ist, sondern dass es heute zu seiner schrecklichen Vergangenheit steht. Anders als die Türkei. Deutschland, gerade Deutschland, muss der Türkei helfen. Die Franzosen oder die Engländer mit ihrer halb aufgearbeiteten Kolonialgeschichte taugen dazu weniger. Es reicht nicht, dass Fatih Akin, Cem Özdemir oder Marc Sinan die Dinge beim Namen nennen. Es müsste jemand mit Erdoğan ein längeres Gespräch führen, jemand, auf den er hört, und sei es nur, weil es für ihn sonst spürbare Folgen haben könnte.

Gibt es noch solche Menschen in Deutschland? Politik bedarf der moralischen Grundlage, sagte Helmut Schmidt, und diese Grundlage bröckelt gerade wieder mal gewaltig.

Aus dem Russischen von Tim Neshitov

Süddeutsche Zeitung, Dienstag, den 26. April 2016, Seite 11

musik, türkei

Previous post Next post
Up