Karneval Gottes Brasilien ist eine katholische Hochburg - noch. Denn der Siegeszug der evangelikalen

Apr 16, 2016 12:18

Karneval Gottes
Brasilien ist eine katholische Hochburg - noch. Denn der Siegeszug der evangelikalen Sektierer scheint unaufhaltsam zu sein. Und ein bisschen gespenstisch dazu Von boris herrmann

König Salomon begann mit seinem Tempelbau zu Jerusalem im vierhundertachtzigsten Jahr nach dem Auszug der Israeliten aus Ägypten. Das Haus des Herrn war für seine Zeit gigantisch, sechzig Ellen lang, zwanzig Ellen breit und dreißig Ellen hoch. So steht es geschrieben. Anfang des sechsten Jahrhunderts vor Christus wurde es von den Babyloniern zerstört. Ein paar Jahrzehnte später errichteten die Juden an derselben Stelle, dort, wo sich heute der Felsendom befindet, den Zweiten Tempel. Er war dem Vernehmen nach noch ein paar Ellen länger und breiter, diesmal kümmerten sich die Römer um den Abriss. Der Dritte Tempel steht noch, er wurde ja auch erst 2014 nach Christus eingeweiht. Am besten erreicht man ihn per Taxi. Er befindet sich an der Kreuzung der Straßen Celso Garcia und João Boemer, mitten in São Paulo.

Vor dem Haupteingang geht es zu wie an einem Flughafen. Taxis kommen an, Taxis rauschen davon, Busse laden Reisegruppen ab. Tausende Tempelgänger stehen an einem regnerischen Freitagmorgen in der Schlange am Security-Check. Sie lassen sich von Türstehern mit schwarzen Anzügen und dunklen Sonnenbrillen geduldig abtasten. Abzugeben sind für die Dauer des Kirchenbesuchs: Rucksäcke, Mobiltelefone, Kleinkinder. Das führt zu allerlei tränenreichen Szenen (nicht nur wegen der Handys), trotzdem wird den Anweisungen des Dienstpersonals erstaunlich klaglos Folge geleistet. Gott wird schon wissen, was er tut.

Vom Seiteneingang nähert sich ein fröhlich winkender Mann, der mit seinem gebügelten Hemd, seiner schmalen Krawatte und seinem Aktenköfferchen wie ein Investmentbanker aussieht. Er stellt sich als Bischof Miguel Peres Lacerda vor. Er sagt: „Willkommen im Gelobten Land.“

Im ersten Moment mag es etwas irritieren, dass das Gelobte Land neuerdings an der Kreuzung von Celso Garcia und João Boemer beginnt. Aber an Irritationen wird sich gewöhnen müssen, wer sich von diesem Bischof in die Geheimnisse seiner Weltanschauung einführen lässt. „Gehen wir nach Jerusalem“ sagt Peres Lacerda, „es sind nur ein paar Meter.“

Die brasilianische Version des salomonischen Tempels („O Templo de Salomão“) gehört der evangelikalen Pfingstkirche „Igreja Universal do Reino de Deus“, kurz IURD. Der Name bedeutet „Universalkirche vom Reiche Gottes“, er verweist schnörkellos auf den Kern des pfingstlerischen Wertekanons: Zum Teufel mit der Bescheidenheit! Für Demut gibt es auch keinen Grund. Weltweit haben die Pfingstkirchen einen kaum fassbaren Siegeszug hingelegt. In den USA, in Westafrika, in Lateinamerika. Nirgendwo aber wachsen sie so schnell wie in Brasilien, dem Land, das man vorwiegend mit Stränden, Samba und Fußball verbindet. Alle Nationalklischees haben mit Spaß zu tun.

Die nicht ganz so lustige Realität ist: Brasilien steckt in seiner schwersten Staatskrise seit dem Ende der Militärdiktatur in den Achtzigerjahren. An diesem Wochenende dürfte das für alle Welt offensichtlich werden, wenn im Parlament von Brasília über die Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff abgestimmt werden soll. Es ist der vorläufige Höhepunkt eines erbitterten Machtkampfes, in dem alle politischen Institutionen an Glaubwürdigkeit verloren haben. Die Regierung, die Opposition, die Justiz, sie alle sind an diesem schmutzigen Spiel aus Intrigen und Korruption beteiligt. Wie auch immer die Abstimmung ausgeht, der große Verlierer wird wohl die brasilianische Demokratie sein.

Zumal sich auf einer höheren Ebene noch ein ganz anderes Drama abspielt. Wo der Glaube an die Politik schwindet, wächst der politische Einfluss der Gläubigen. Brasilien befindet sich auf bestem Weg zum Gottesstaat.

Es handelt sich, wie man noch sehen wird, um einen Gottesstaat der neuen Sorte. Da sind die Tempelbauer und Wunderheiler, die mit modernen Methoden mittelalterliche Ideologien verbreiten, da sind fundamentalistische Pastoren in höchsten politischen Ämtern. Da sind aber auch die progressiven und weltoffenen Glaubensgruppen, die junge Menschen begeistern, weil sie besser organisiert sind als Parteien, Gewerkschaften oder Sportklubs.

Aus der Ferne könnte man den Eindruck gewinnen, es drehe sich gerade alles um Sport in Brasilien, 2014 fand hier die Fußball-WM statt, im August beginnen die Olympischen Spiele von Rio. Tatsächlich dreht sich das meiste um den Korruptionsskandal, um die Selbstzerstörungskräfte der Politik - und um Jesus. In der Zeit zwischen WM und Olympia dürften sich gut drei Millionen Brasilianer einer evangelikalen Kirche angeschlossen haben.

Dabei ist Brasilien das Land mit den meisten Katholiken weltweit. Noch. Eine religiöse Revolution ist im Gange. Während der katholischen Kirche die Leute weglaufen, rennen sie die evangelikalen Riesenkirchen ein. Der Salomontempel von São Paulo bietet Platz für 10000 Gläubige. Täglich gibt es dort drei Messen, um zehn, 15 und 20 Uhr. Tags ist es meistens voll, abends immer.

Was die „Universalkirche vom Reiche Gottes“ so attraktiv macht? Bischof Peres hält kurz inne, man merkt, dass er sich auf die Antwort freut. „In Israel warten sie seit Jahrtausenden auf den nächsten Tempel. Wir haben ihn in vier Jahren aufgebaut.“

Die IURD pickt sich von verschiedenen Weltreligionen (Christentum, Judentum, Kapitalismus) das heraus, was sie gebrauchen kann. Um ihre Geschichte vom dritten Tempelbau allgemein verständlich zu untermauern, hat sie geweihtes Material verwendet. Sie ließ 39000 Kubikmeter Steine aus Israel nach São Paulo schiffen - von Gelobtem Land zu Gelobtem Land. Bischof Peres legt dabei Wert auf den Hinweis, dass sich der Templo de Salomão zwar in Form und Funktion an seinen biblischen Vorgängern orientiere, keineswegs aber in seiner Dimension. Nach Berechnungen der IURD war der vorchristliche Tempel 10,48 Meter lang und 15,72 Meter hoch. Heute würde das allenfalls als pfingstkirchliches Souvenirhäuschen durchgehen.

Das Haus des Herrn an der João-Boemer-Straße ist ein Klotz aus dreizehn Etagen, der jede Fußballarena in den Schatten stellen würde, 104 Meter lang, 55 Meter hoch. „Doppelt so groß wie die Christusstatue von Rio“, sagt Bischof Peres. Es gibt ein 100Quadratmeter großes Taufbecken, mehrere Radio- und TV-Studios, 30 Luxusapartments, einen Hubschrauberlandeplatz sowie eine Tiefgarage für 2000Autos, 241Motorräder und 200Reisebusse.

Auf drei Stockwerken des Tempels werden die Kinder betreut, die am Eingang abgegeben werden müssen. „Wir haben nichts gegen die Kleinen, aber wir verlangen von unseren Gläubigen die volle Aufmerksamkeit“, sagt Peres. Die Gottesdienste dauern zwei bis drei Stunden, über 300Erzieherinnen kümmern sich derweil um bis zu 1300 Kinder. Es gibt Schlafräume, Wickelräume, Spielzimmer, ein Kinderkino. Dort singt ein Zeichentrickmännchen: „Sou um soldadinho de Jesus“, ich bin ein kleiner Soldat von Jesus. Säuglinge werden vor einer Videoleinwand gestillt, damit die Mütter per Public Viewing die Messen verfolgen können. „Wir betreiben hier den größten Kindergarten Brasiliens“, behauptet der Bischof. Für weitere Bestmarken und Mengenangaben verweist er auf die IURD-Pressemappe. Vielleicht noch so viel: Der Bau des Hightech-Tempels hat 300 Millionen Euro gekostet, bezahlt mit Gaben der Pfingstgemeinde.

Peres Lacerda sagt: „Die Leute spenden gerne, denn sie sehen, was wir damit für sie tun.“ Zur Zehn-Uhr-Messe am Freitag sind 6000Besucher gekommen. Ein Pastor predigt zu eklektischer Hintergrundmusik vom Band. Wenn er mit sanfter Stimme die Liebe Gottes verkündet, näselt dazu eine einsame Oboe. Wenn er die Stimme erhebt, um die Sünden der Welt zu geißeln, setzt das gesamte Orchester ein. Und wenn er schreit, dröhnen die Pauken: „Kommt zum Altar und beginnt ein neues Leben!“

Man blickt in ekstatische Gesichter, hört Frauen schreien, sieht Männer weinen. Es klappen bei Messen der IURD auch oft Leute zusammen. Für Mitteleuropäer mag es verstörend wirken, wenn jemand vor lauter Gottesfurcht die Besinnung verliert. In Brasilien, wo auch afrikanische Naturreligionen und Voodoo-Kulte verbreitet sind, erregt das wenig Aufsehen. Für viele ist das der Beweis, dass Gott da ist.

Dreimal ruft der Pastor während der Messe die Gläubigen dazu auf, diesen Gott „zu ehren“. Das ist das Zeichen für eine Heerschar von Messdienern, die mit violetten Säckchen ausschwärmen, welche sich nach und nach mit dicken Kuverts füllen. Wer den lieben Gott bargeldlos ehren möchte, kann auch mit Kreditkarte zahlen.

Welches alte Leben man im Tempel hinter sich lassen kann, hängt vom Wochentag ab. Freitags finden die Gestressten und Depressiven ein offenes Ohr - und gegen Spende auch pastoralen Beistand auf der Tempelbühne. Der Donnerstag ist für zerrüttete Ehen reserviert. „Da ist immer besonders großer Andrang“, berichtet Peres. Beliebter sei nur der Montag: „Wenn du Geldsorgen hast, dann ist der Montag dein Tag.“ Dienstags werden die Wunderheilungen und Exorzismen gesammelt erledigt. Da werden Rollstuhlfahrer zum Tanzen gebracht, Krebskranke geheilt und Halbtote zum Leben erweckt. Darf man fragen, ob das alles mit rechten Dingen zugeht? Oder ob da nicht eher Laienschauspieler für die Gemeinde und die Online-Zuschauer eine makabre Show abziehen? Der Bischof war bislang überaus freundlich, jetzt guckt er wie ein Exorzist. Man darf nicht fragen.

Man kann die Frage aber an Marcelo Monge weiterleiten, den Pfarrer der katholischen Kirche São João Batista (Johannes der Täufer), genau gegenüber vom Salomontempel. Wenn Monge vor seine Kirchenpforte tritt, dann guckt er auf den Neubau der evangelikalen Konkurrenz, in den die São João Batista locker zehn Mal hineinpassen würde. „Das da drüben ist ein großes Gebäude“, sagt er leise, „aber es ist keine christliche Kirche.“

Was ist es dann? „Ein Ausdruck der modernen Welt“, sagt der katholische Pfarrer. Dem Vorwurf, zu modern zu sein, muss sich seine Kirche nicht aussetzen. Das Gebäude ist 102 Jahre alt, zwei Fenster sind kaputt, über dem Altar hängen Kabel aus der Wand, die Orgel ist eingerüstet. Monge ist 47, seine Glatze leuchtet wie das ewige Licht. Was das ewige Leben seiner Kirche betrifft, ist er vorsichtig optimistisch. Er sagt: „Wir werden hier von einer aggressi-ven Kommerzialisierung des Glaubens be-droht, aber das bedeutet noch nicht das Ende des Katholizismus in Brasilien.“

Entscheidend ist das Wörtchen „noch“ vor dem „nicht“. Beim letzten Zensus wurden 123 Millionen Katholiken im Land gezählt, aber auch 42 Millionen Evangelikale, darunter 27Millionen Pfingstler. Das ist mit Abstand Weltrekord vor Nigeria und den USA. Laut dem nationalen Statistikinstitut hat Brasiliens katholische Kirche in diesem Jahrhundert 465Gläubige verloren. Pro Tag. Die evangelikalen Kirchen gewinnen täglich 4383hinzu. Vor allem unter jungen Menschen. Statistiker der Uni Rio haben errechnet, dass es von 2030 an wohl mehr Evangelikale als Katholiken geben wird. „Wir dürfen nicht nach Statistiken gehen, sondern nach dem Weg, den Jesus vorgibt“, sagt Monge tapfer.

Dem Katholizismus wird vorgeworfen, er sei veraltet. Viele evangelikale Priester und Bischöfe twittern und skypen mit ihren Followern. Monge arbeitet nebenher bei der Caritas, hilft syrischen Flüchtlingen. Er weiß, dass er mit so etwas nicht die Massen begeistert, aber soll es deshalb altmodisch sein? Monge ist wie Papst Franziskus ein Anhänger der Befreiungstheologie. Aus seiner Sicht hat sich die Kirche um die Entrechteten und Unterdrückten zu kümmern. Er sagt: „Wir sind für die Armen da, die da drüben nehmen die Armen aus.“

Mit der Meinung steht er nicht alleine da. Es ist aber auch nicht zu leugnen, dass Monge meistens kein Mikrofon braucht, wenn er predigt, weil eh nur die ersten beiden Bänke besetzt sind. Und gegenüber stehen jetzt schon wieder Tausende Schlange, weil die 15-Uhr-Messe beginnt. Manch einer nimmt vorab noch einen Imbiss in einer Bar in der João-Boemer-Straße. Früher hießen diese Lokale wie überall in Brasilien „Die Bar von Silva“ oder „Mr. Pizza“. Heute haben sie neue Namen: „Frucht des Tempels“ oder „Pilgerweg-Grill“.

„Hier spielen sich dramatische Veränderungen ab“, sagt Monge, und damit meint er nicht die Restaurantszene. Der Salomontempel ist gewiss die Attraktion der Universalkirche, aber er ist auch nur eines von 4500 Gotteshäusern, das die IURD alleine in Brasilien betreibt - und die IURD ist bloß eine von Tausenden pfingstlichen und neupfingstlichen Kirchen im Land.

Der Stadtteil Brás war einmal ein Migrantenviertel, Bolivianer, Italiener, eine der katholischsten Gegenden São Paulos. Inzwischen ist Monges Kirche dort von evangelikalen Prachtbauten umzingelt. Schräg gegenüber vom Salomontempel steht ein riesiges Gebetshaus der „Assembleia de Deus“, der mitgliederstärksten Pfingstkirche Brasiliens. Die Marktkonkurrenten von „Deus É Amor“ (Gott ist Liebe) und von „Igreja Mundial do Poder de Deus“ (Weltkirche der Gottesmacht) sind auch Nachbarn - kein Tempel ist älter als fünf Jahre. Gemeinsam bringen sie es auf ein Fassungsvermögen von 30000 Leuten.

Warum ausgerechnet hier im katholischen Brás? Zwei Glaubensrichtungen, zwei Antworten. Der katholische Pfarrer Monge behauptet: „Sie denken, wo noch Katholiken sind, gibt es noch Seelen zu ge-winnen. Und Seelen heißen für sie: Spen-den.“ Der evangelikale Bischof Peres sagt: „Früher war diese Gegend von Kriminali-tät, Prostitution und Drogen geprägt. Die meisten Menschen haben sehnsüchtig auf das gewartet, was wir hier anbieten.“

Peres Lacerda, 31, war auch mal Katholik, seine Geschichte erzählt er so: ein Vater, der die Mutter schlug, ein Selbstmordversuch mit 16 Jahren. Peres sagt, er habe Erlösung gesucht, aber in den katholischen Kirchen hätten sie immer nur dieselben nichtssagenden Reden geschwungen. Im Jahr 2000nahm ihn eine Tante mit zur Universalkirche. Das Erste, was ihm auffiel: „Hier wird ja gar nicht gesungen.“ Heute weiß er auch, warum: „Das Leben ist nicht dazu da, um seine Zeit mit Liedern und Gebeten zu verschwenden.“ In der Universalkirche, sagt Peres, habe er eine Lösung für seine Probleme gefunden: „Hör auf, dich zu beklagen, steh auf und zieh in die Schlacht!“ Das ist für ihn die zentrale Botschaft der Bibel. Und seiner Predigten.

Peres wurde Messdiener, dann Missionar in England und Israel. Nach elf Jahren kam er zurück und wurde schnell zum Bischof befördert. Auf die andere Straßenseite, auf dieses armselige Kirchlein, schaut er heute mit der Arroganz des Siegers der Geschichte: „Opernsänger da rüber! Krieger hierher!“ Die IURD ist groß geworden, und groß heißt hier vor allem: reich. Daraus machen sie bei der IURD keinen Hehl. Sie protzen aus religiöser Überzeugung. Das Heilsversprechen der Katholiken ist das Paradies im Jenseits, das klingt abstrakt im Vergleich zu dem, was die Evangelikalen bieten: wirtschaftlichen Erfolg hier und jetzt. „Gott hat den Menschen ein reicheres Leben versprochen, wir setzen nur die Essenz der Bibel um“, sagt Peres.

Die Mitglieder der Universalkirche beten nicht nur zu Gott, sie handeln auch mit ihm. Sie leben in der Gewissheit, dass nur in den Himmel kommt, wer rechtzeitig eine Eintrittskarte erwirbt. Der zweifellos begabteste Verkäufer solcher Eintrittskarten ist Edir Macedo, Peres Lacerdas Chef. Macedo hat die IURD 1977 in Rio gegründet. Heute ist er einer der reichsten Unternehmer Brasiliens. Sein Vermögen wird auf 1,2Milliarden US-Dollar geschätzt.

Edir Macedo, 71, verdingte sich in jungen Jahren als Wanderprediger und verkaufte Lotterielose. Später eignete er sich erstaunliche Fähigkeiten auf dem Gebiet der telegenen Wunderheilung an. Seine Anhänger glauben fest daran, dass er Brot durchs Radio segnen und Wasser aus dem Fernseher heraus weihen kann. Zum Bischof hat er sich selbst ernannt. 1998 kaufte Macedo Rede Record, das zweitgrößte TV-Netzwerk Brasiliens. Dessen erfolg-reichste Sendung ist die Moses-Telenovela „Die Zehn Gebote“. Der Sender hat aber auch laszive Shows im Angebot und drama-tische Reportagen über Diebe, Mörder und sonstige Satanisten. Alles, was den Leuten Spaß macht. Record gehören auch die Übertragungsrechte für Olympia 2016.

Die Universalkirche vertreibt ihre Botschaften und Produkte in mehr als 100 Ländern, in Deutschland etwa unter dem Namen „Hilfszentrum UKRG“ in Berlin. Ihr gehören Zeitungen und Verlage, eine Filmfirma, eine Bank und eine Versicherung. Es gibt auch Berichte, wonach die IURD paramilitärische Strukturen aufbaue. Auf einem hauseigenen Video marschierten uniformierte Rekruten ihrer Jugendorganisation im Stechschritt über einen Exerzierplatz - die Gruppe nannte sich „Gladiadores do Altar“. In einem Land, das lange Militärdiktatur war, sorgte das für Aufruhr. Die Kirche teilt dazu mit, sie habe ihre Pastoren nie bewaffnen wollen. „Über uns werden viele Lügen verbreitet“, sagt Peres. Nach einer Pause ergänzt er: „Wir haben viele Feinde. Wenn wir nicht unsere Leute in Brasília hätten, die unsere Rechte verteidigen, hätten sie uns längst verboten.“

Tatsächlich, das weiß auch der Bischof, hat die Universalkirche so viele Leute in wichtigen Positionen in der Hauptstadt sitzen, dass wohl eher die Caipirinha verboten wird als der Salomontempel. Als der 2014eröffnet wurde, war auch Präsidentin Dilma Rousseff beim Festakt dabei, sie steckte gerade im Wahlkampf. Rousseff hat für die Evangelikalen nicht viel übrig und saß trotzdem in der vordersten Reihe. „Sie musste kommen, sie wollte ja gewählt werden“; da lächelt Peres wieder.

Seine Kirche mag nicht die mitgliederstärkste des Landes sein, aber sie ist die politisch einflussreichste. Im Parlament bestimmt sie die Agenda der sogenannten „Bancada BBB“, der Bibel-, Blei- und Bul-lenfraktion. Dabei handelt es sich um eine parteiübergreifende Allianz aus religiösen Fundamentalisten, einstigen Militärs und Großgrundbesitzern, die zusammen mehr-heitsfähig sind. Der parlamentarische Arm der Universalkirche ist die Partei PRB, die bis zum Koalitionsbruch Ende März zur Regierung von Rousseff gehörte und einen Pastor als Sportminister stellte. Marcello Crivella, Bischof und Neffe des Kirchen-gründers Macedo, war zwei Jahre lang Rousseffs Fischereiminister. Nach Medienberichten soll die verzweifelt um ihr Amt ringende Präsidentin dieser Tage sogar bei Edir Macedo angerufen haben - mit der Bitte, mit seinem Einfluss das Amtsenthebungsverfahren gegen sie zu blockieren. Auch die Staatschefin kennt natürlich die wahren Machtverhältnisse im Land. Macedo soll die Anfrage höflich zurückgewiesen haben. Er wolle aber für die Präsidentin und das Land beten, wird er zitiert.

Es mehren sich die Stimmen, die behaupten, der laizistische Charakter der Republik sei in Gefahr. Die Frage ist, ob man das Thema überhaupt noch erörtern muss, so lange der Parlamentspräsident Eduardo Cunha heißt. Der ist Chef einer Firma namens Jesus.com und Promi-Mitglied der Pfingstkirche „Sara Nossa Terra“. Seine Schmiergeldzahlungen im Petrobras-Skandal hat er laut Staatsanwalt über eine evangelikale Kirche abgewickelt.

Wenn Cunha gefragt wird, wie er an das dritthöchste Amt im Staat gelangte, dann antwortet er: „Gott hat mich eingesetzt.“ Wahrscheinlich ist auch nur mit göttlichem Beistand zu erklären, dass der evangelikale Pastor Marco Feliciano zwischenzeitlich zum Chef der Menschenrechtskommission ernannt wurde. Feliciano ist wie Cunha ein entschiedener Kämpfer gegen Indigene, Schwule und Lesben.

Die Evangelikalen bestimmen aber nicht nur die Politik, sie mischen auch in der Popkultur mit, beim Karneval und beim Fußball. Nationaltrainer Carlos Dunga hat sich öffentlich darüber beschwert, dass die Kabine seiner Seleção zur Gebetskapelle mutiere. Als die Nationalelf neulich ein Testspiel in den USA absolvierte, tauchte ein Handyvideo von einer sektenartigen Zusammenkunft im Teamhotel auf. Der evangelikale Priester Guilherme Batista, 25, hatte es bei Facebook gepostet. Man sah, wie die halbe Mannschaft sich an den Händen hielt und mit geschlossenen Augen den Worten Batistas lauschte, darunter der ehemalige Weltmeister Kaká, der einstige Kapitän David Luiz sowie Bayern Münchens Douglas Costa.

Batista erzählt in einem Skype-Interview, er sei von den Spielern ins Hotel eingeladen worden, um das Evangelium zu verkünden, drei Spieler seien während des Besuchs zum „wahren Glauben“ konvertiert. Trainer Dunga wusste von dieser Missionierung nichts. Für Batistas Freikirche war das ein unbezahlbarer Werbeerfolg, die Spieler kamen mit einer Rüge davon. Was hätte Dunga auch tun sollen? Wenn er alle Betschüler rausschmeißen würde, brächte er keine Elf mehr zusammen.

Bei den Evangelikalen kann sich jeder, der ein Mikrofon und ein Spendenkonto besitzt, zum Pastor erklären. Im ganzen Land blüht ein spiritueller Markt aus privatwirtschaftlichen Kirchen. Das können futuristische Tempel sein oder Bretterbuden, die sich an Ausfallstraßen zwischen Stundenhotels drängeln. An diesem Markt hängt auch ein gigantischer Konsumgüterzweig. Es gibt evangelikale Modelabels, evangelikale Spielwarenläden sowie Fachgeschäfte für evangelikales Kaffeegeschirr.

Selbstverständlich gibt es auch eine evangelikale Musikkultur - und die steht vielleicht idealtypisch für das andere Gesicht der religiösen Revolution. Eher für Innovation als für Radikalität.

Man spricht vom Gospelmarkt, obwohl es keineswegs nur um Gospel geht. Gott, der Allmächtige, wird in allen Musiksparten gepriesen. Von frommen Rappern, christlichen Boygroups und missionari-schen Samba-Combos. Oft teilen sie die vorderen Plätze der Albumcharts unter sich auf. Die Nachfrage ist so groß, dass die Plattenfirmen Sony und EMI in Brasilien eigene Gospel-Labels haben. Zu den erfolg-reichsten Musikern des Genres gehört die Rockband Oficina G3. Bei ihren Konzerten füllen sich Stadien wie das Maracanã in Rio mit über 100000 Zuschauern. Der Bandgründer Juninho Afram gilt auch unter religionsskeptischen Brasilianern als einer der besten Gitarristen des Landes.

An einem regnerischen Abend, kurz vor Mitternacht, sitzt Afram im Backstage-Bereich einer Open-Air-Bühne, er hat eine E-Gitarre mit Schlangenmuster auf dem Schoß und schält eine Mandarine. Gleich werden Oficina G3 als Headliner beim „Rock No Vale“ auftreten, bei Brasiliens renommiertem Christenrockfestival.

Afram, 45, und seine Bandkollegen teilen mit handelsüblichen Rockern ihr Faible für dicke Silberketten, große Tätowierungen und Ziegenbärtchen. So könnte man auch bei Metallica oder Iron Maiden mitmachen. Was etwas irritiert: dass sich diese Herren nicht mit Alkohol oder Gras auf ihr Konzert einstimmen, sondern mit Wasser und Obst. Afram sagt, man müsse ja nicht alle Klischees der säkularen Szene nachäffen. „Unsere Version von Sex, Drugs and Rock’n’Roll lautet: Leben, Jesus und Rock’n’Roll.“

Das „Rock No Vale“-Festival findet jedes Jahr in einem grünen Tal in den Gebirgen nördlich von São Paulo statt. Es kommen hier nicht so viele Zuschauer wie ins Maracanã, aber immerhin gut Zehntausend mit einer sehr ausgeprägten Vorliebe für die evangelikale Heavy-Metal-Schule. Nicht jedem mag sich dieses Konzept im ersten Moment erschließen. Afram erklärt es so: „Headbangen zu Gebeten.“

Aus seiner Sicht darf Religion nicht nur in den Kirchen stattfinden, Gottes Liebe müsse überall verkündet werden, in den Theatern, an den Unis und eben auf Rockkonzerten. Oficina G3 beginnen ihren Auftritt an diesem Abend mit einem ihrer großen Hits. Er heißt „Aos pés da cruz“, am Fuße des Kreuzes. Der Text geht so: „Mein wunderbarer Jesus, du bist meine Inspira-tion, um weiterzumachen. Auch wenn vieles schiefläuft, schaue ich zu dir auf.“

Es gibt natürlich auch in Brasilien aufgeklärte Leute, die das als religiösen Kitsch abtun. Aber wer würde bestreiten, dass gerade vieles schiefläuft in diesem Land? Staatskrise, Wirtschaftskrise, Korruptionskrise, Zikakrise, das 1:7, da kommt was zusammen. Afram sagt: „Die Brasilianer sind ein Volk auf der Suche nach Antworten.“

Es hat seit Tagen geregnet. Vor der Bühne sieht es aus wie auf alten Woodstock-Fotos; nur die nackten Hintern und die Joints muss man sich dazudenken. Das Partyvolk suhlt sich im Einklang mit seinem Wertekanon züchtig im Matsch. Und wenn dann alle zusammen „mein wunderbarer Jesus“ grölen, klingt das schon so, als ob hier manch einer eine Antwort auf seine Alltagsfragen gefunden hätte.

Die fromme Matschorgie steht aber auch dafür, dass Evangelikale nicht gleich Evangelikale sind. Von den Hasspredigern im Fernsehen grenzen sich die Christenrocker genauso ab wie von den selbsternannten Bischöfen, die mit Spenden Tempel errichten. „Wir wollen keinen missionieren“, sagt Afram, „wir verkünden unsere Botschaft denen, die sie hören wollen.“

Hören will das vor allem die gut gebildete Mittelschichtjugend. Brasilien ist nicht nur ein Land des religiösen Fanatismus, sondern auch der religiösen Postmoderne. Selbst die Hipster aus São Paulo glauben an Gott. Sie sehen aus wie ihre Artgenossen aus Brooklyn oder Kreuzberg, Nickelbrillen, Röhrenjeans, Chucks. Nur dass auf ihren T-Shirts eben „Christafari“ steht und „I am totally wasted by HIS love“. Auf dem Festivalgelände haben auch mehrere Modelabels ihre Stände aufgebaut, die „Holy Style“ heißen oder „Coletivo Emaús“. Ein Verkäufer erzählt: „Unsere Religion holt die jungen Leute in ihrem Lifestyle ab.“

Zum Lebensstil dieser modernen Evangelikalen gehört auch ein Bekenntnis zu Nachhaltigkeit und Ökologie. Es soll keinerlei Müll verursacht werden beim „Rock No Vale“, die Besucher haben einen Plastikbecher bekommen, den sie drei Tage lang an einem Band um den Hals tragen. Getränke gibt es nur zum Nachfüllen. Und Getränke heißt hier: Wasser, Limo, organischer Filterkaffee. Es herrscht strenges Alkohol- und Rauchverbot. Der Organisator sagt: „Woodstock hatte ein Problem: die Drogen.“

Für Leute, die herkömmliche Festivals kennen und schätzen, mag das fundamentalistisch klingen. Die Macher von „Rock No Vale“ entgegnen: „Wir sind keine Fundamentalisten. Wir haben hier sogar Säkulare.“ Damit sind Musiker gemeint, die nicht nur über Gott singen, sondern über Gott und die Welt. Rico Ayade ist einer dieser säkularen Musiker, die der Einladung gefolgt sind, aus Neugier, wie er sagt, und weil er grundsätzlich schon an Gott glaube. Kurz vor seinem Auftritt streift der Singer-Songwriter aus São Paulo leicht verzweifelt an den Verpflegungsbuden vorbei. Er würde ganz gerne noch ein kaltes Bier zu sich nehmen, bevor er auf die Bühne geht. „Brasilien“, behauptet er, „ist das Land, in dem jedes Verbot im Zwiegespräch verhandelbar ist.“ Wenig später muss auch er erkennen, dass die Prohibition beim Christenrock unverhandelbar ist. Ayade begnügt sich schließlich mit einem Becher Club-Mate.

Neben der Bühne befindet sich ein Ententeich. „Schwimmen verboten“, steht auf einem kaum lesbaren Schild. Und alle halten sich daran. Bei einem Rockfestival! Da stellt sich schon die Frage, ob das überhaupt noch etwas mit Rock ’n’ Roll im klassischen Sinne zu tun hat, der ja auch immer vom Regelbruch lebte. Vielleicht, so die Theorie des verhinderten Biertrinkers Ayade, ist es gerade das Subversive beim Christenrock, dass alle Regeln des Genres gebrochen werden: „Der Regelbruch ist, dass hier nichts kaputt gemacht wird, dass keiner kifft und niemand auf die Bühne rotzt.“

Mitternacht, zwischen zwei Konzerten: Lesung aus dem Evangelium nach Matthäus. Noch so ein Regelbruch. Wobei, was heißt hier Lesung? Pastor Arionaldo Jr. hat sich auf die Kunst des „Biblia-Freestyle“ spezialisiert. Er trägt Bibelverse vor, allerdings, so wird es dem Publikum angekündigt, „in der Sprache, die ihr sprecht“.

„Josef war schon ziemlich lässig, denn als ihm seine Freundin mitteilte, dass sie vom Heiligen Geist schwanger war, hat er natürlich den Braten gerochen. Aber weil er so ein cooler Typ war, hat er trotzdem nicht Schluss gemacht.“ Großes Gelächter.

Arionaldo Jr. trägt einen Nasenring, an dem man einen Bullen abführen könnte. Auf seine Wade hat er sich ein Monster tätowieren lassen, auf seiner Brust steht großflächig: „Corinthians“. Damit sind aber nicht die Korinther aus den Paulus-Briefen gemeint, sondern der aktuelle brasilianische Fußballmeister. Pastor Arionaldo, Gründer einer Kirche namens „Manifesto“, ist eines der anschaulichsten Beispiele dafür, wie breit gefächert der Markt evangelikaler Glaubensangebote in Brasilien ist. Nach seinem Vortrag will jemand wissen, was er von der Idee der Nachhaltigkeit halte. Arionaldo Jr . sagt: „Leute, ihr wollt den Planeten retten? Dann müsst ihr die Menschheit ausrotten.“ Wieder Gelächter.

Später an der Limo-Bar zählt er auf, wer aus seiner Sicht als Erstes von diesem Planeten verbannt werden müsste: „Korrupte Politiker wie Eduardo Cunha und diebische Bischöfe wie Edir Macedo.“ Denn diese, findet Arionaldo Jr., repräsentierten nicht die Christen in diesem Land, sondern die Pervertierung des Christentums. In einer fast schon dahingerappten Freestyle-Gesellschaftskritik teilt er mit: „Wenn die Leute sagen, die Kirchen sind tyrannisch, dann stimme ich zu. Wenn die Leute sagen, die Pastoren klauen, dann rufe ich: Stimmt genau!“

Was sich dieser evangelikale Pastor für sein geliebtes Brasilien wünscht? „Gott bewahre uns vor einem evangelikalen Präsidenten.“

Peres Lacerda sagt: „Die Leute spenden gerne, denn sie sehen, was wir damit für sie tun.“ Zur Zehn-Uhr-Messe am Freitag sind 6000Besucher gekommen. Ein Pastor predigt zu eklektischer Hintergrundmusik vom Band. Wenn er mit sanfter Stimme die Liebe Gottes verkündet, näselt dazu eine einsame Oboe. Wenn er die Stimme erhebt, um die Sünden der Welt zu geißeln, setzt das gesamte Orchester ein. Und wenn er schreit, dröhnen die Pauken: „Kommt zum Altar und beginnt ein neues Leben!“

Man blickt in ekstatische Gesichter, hört Frauen schreien, sieht Männer weinen. Es klappen bei Messen der IURD auch oft Leute zusammen. Für Mitteleuropäer mag es verstörend wirken, wenn jemand vor lauter Gottesfurcht die Besinnung verliert. In Brasilien, wo auch afrikanische Naturreligionen und Voodoo-Kulte verbreitet sind, erregt das wenig Aufsehen. Für viele ist das der Beweis, dass Gott da ist.

Dreimal ruft der Pastor während der Messe die Gläubigen dazu auf, diesen Gott „zu ehren“. Das ist das Zeichen für eine Heerschar von Messdienern, die mit violetten Säckchen ausschwärmen, welche sich nach und nach mit dicken Kuverts füllen. Wer den lieben Gott bargeldlos ehren möchte, kann auch mit Kreditkarte zahlen.

Welches alte Leben man im Tempel hinter sich lassen kann, hängt vom Wochentag ab. Freitags finden die Gestressten und Depressiven ein offenes Ohr - und gegen Spende auch pastoralen Beistand auf der Tempelbühne. Der Donnerstag ist für zerrüttete Ehen reserviert. „Da ist immer besonders großer Andrang“, berichtet Peres. Beliebter sei nur der Montag: „Wenn du Geldsorgen hast, dann ist der Montag dein Tag.“ Dienstags werden die Wunderheilungen und Exorzismen gesammelt erledigt. Da werden Rollstuhlfahrer zum Tanzen gebracht, Krebskranke geheilt und Halbtote zum Leben erweckt. Darf man fragen, ob das alles mit rechten Dingen zugeht? Oder ob da nicht eher Laienschauspieler für die Gemeinde und die Online-Zuschauer eine makabre Show abziehen? Der Bischof war bislang überaus freundlich, jetzt guckt er wie ein Exorzist. Man darf nicht fragen.

Man kann die Frage aber an Marcelo Monge weiterleiten, den Pfarrer der katholischen Kirche São João Batista (Johannes der Täufer), genau gegenüber vom Salomontempel. Wenn Monge vor seine Kirchenpforte tritt, dann guckt er auf den Neubau der evangelikalen Konkurrenz, in den die São João Batista locker zehn Mal hineinpassen würde. „Das da drüben ist ein großes Gebäude“, sagt er leise, „aber es ist keine christliche Kirche.“

Was ist es dann? „Ein Ausdruck der modernen Welt“, sagt der katholische Pfarrer. Dem Vorwurf, zu modern zu sein, muss sich seine Kirche nicht aussetzen. Das Gebäude ist 102 Jahre alt, zwei Fenster sind kaputt, über dem Altar hängen Kabel aus der Wand, die Orgel ist eingerüstet. Monge ist 47, seine Glatze leuchtet wie das ewige Licht. Was das ewige Leben seiner Kirche betrifft, ist er vorsichtig optimistisch. Er sagt: „Wir werden hier von einer aggressi-ven Kommerzialisierung des Glaubens be-droht, aber das bedeutet noch nicht das Ende des Katholizismus in Brasilien.“

Entscheidend ist das Wörtchen „noch“ vor dem „nicht“. Beim letzten Zensus wurden 123 Millionen Katholiken im Land gezählt, aber auch 42 Millionen Evangelikale, darunter 27Millionen Pfingstler. Das ist mit Abstand Weltrekord vor Nigeria und den USA. Laut dem nationalen Statistikinstitut hat Brasiliens katholische Kirche in diesem Jahrhundert 465Gläubige verloren. Pro Tag. Die evangelikalen Kirchen gewinnen täglich 4383hinzu. Vor allem unter jungen Menschen. Statistiker der Uni Rio haben errechnet, dass es von 2030 an wohl mehr Evangelikale als Katholiken geben wird. „Wir dürfen nicht nach Statistiken gehen, sondern nach dem Weg, den Jesus vorgibt“, sagt Monge tapfer.

Dem Katholizismus wird vorgeworfen, er sei veraltet. Viele evangelikale Priester und Bischöfe twittern und skypen mit ihren Followern. Monge arbeitet nebenher bei der Caritas, hilft syrischen Flüchtlingen. Er weiß, dass er mit so etwas nicht die Massen begeistert, aber soll es deshalb altmodisch sein? Monge ist wie Papst Franziskus ein Anhänger der Befreiungstheologie. Aus seiner Sicht hat sich die Kirche um die Entrechteten und Unterdrückten zu kümmern. Er sagt: „Wir sind für die Armen da, die da drüben nehmen die Armen aus.“

Mit der Meinung steht er nicht alleine da. Es ist aber auch nicht zu leugnen, dass Monge meistens kein Mikrofon braucht, wenn er predigt, weil eh nur die ersten beiden Bänke besetzt sind. Und gegenüber stehen jetzt schon wieder Tausende Schlange, weil die 15-Uhr-Messe beginnt. Manch einer nimmt vorab noch einen Imbiss in einer Bar in der João-Boemer-Straße. Früher hießen diese Lokale wie überall in Brasilien „Die Bar von Silva“ oder „Mr. Pizza“. Heute haben sie neue Namen: „Frucht des Tempels“ oder „Pilgerweg-Grill“.

„Hier spielen sich dramatische Veränderungen ab“, sagt Monge, und damit meint er nicht die Restaurantszene. Der Salomontempel ist gewiss die Attraktion der Universalkirche, aber er ist auch nur eines von 4500 Gotteshäusern, das die IURD alleine in Brasilien betreibt - und die IURD ist bloß eine von Tausenden pfingstlichen und neupfingstlichen Kirchen im Land.

Der Stadtteil Brás war einmal ein Migrantenviertel, Bolivianer, Italiener, eine der katholischsten Gegenden São Paulos. Inzwischen ist Monges Kirche dort von evangelikalen Prachtbauten umzingelt. Schräg gegenüber vom Salomontempel steht ein riesiges Gebetshaus der „Assembleia de Deus“, der mitgliederstärksten Pfingstkirche Brasiliens. Die Marktkonkurrenten von „Deus É Amor“ (Gott ist Liebe) und von „Igreja Mundial do Poder de Deus“ (Weltkirche der Gottesmacht) sind auch Nachbarn - kein Tempel ist älter als fünf Jahre. Gemeinsam bringen sie es auf ein Fassungsvermögen von 30000 Leuten.

Warum ausgerechnet hier im katholischen Brás? Zwei Glaubensrichtungen, zwei Antworten. Der katholische Pfarrer Monge behauptet: „Sie denken, wo noch Katholiken sind, gibt es noch Seelen zu ge-winnen. Und Seelen heißen für sie: Spen-den.“ Der evangelikale Bischof Peres sagt: „Früher war diese Gegend von Kriminali-tät, Prostitution und Drogen geprägt. Die meisten Menschen haben sehnsüchtig auf das gewartet, was wir hier anbieten.“

Peres Lacerda, 31, war auch mal Katholik, seine Geschichte erzählt er so: ein Vater, der die Mutter schlug, ein Selbstmordversuch mit 16 Jahren. Peres sagt, er habe Erlösung gesucht, aber in den katholischen Kirchen hätten sie immer nur dieselben nichtssagenden Reden geschwungen. Im Jahr 2000nahm ihn eine Tante mit zur Universalkirche. Das Erste, was ihm auffiel: „Hier wird ja gar nicht gesungen.“ Heute weiß er auch, warum: „Das Leben ist nicht dazu da, um seine Zeit mit Liedern und Gebeten zu verschwenden.“ In der Universalkirche, sagt Peres, habe er eine Lösung für seine Probleme gefunden: „Hör auf, dich zu beklagen, steh auf und zieh in die Schlacht!“ Das ist für ihn die zentrale Botschaft der Bibel. Und seiner Predigten.

Peres wurde Messdiener, dann Missionar in England und Israel. Nach elf Jahren kam er zurück und wurde schnell zum Bischof befördert. Auf die andere Straßenseite, auf dieses armselige Kirchlein, schaut er heute mit der Arroganz des Siegers der Geschichte: „Opernsänger da rüber! Krieger hierher!“ Die IURD ist groß geworden, und groß heißt hier vor allem: reich. Daraus machen sie bei der IURD keinen Hehl. Sie protzen aus religiöser Überzeugung. Das Heilsversprechen der Katholiken ist das Paradies im Jenseits, das klingt abstrakt im Vergleich zu dem, was die Evangelikalen bieten: wirtschaftlichen Erfolg hier und jetzt. „Gott hat den Menschen ein reicheres Leben versprochen, wir setzen nur die Essenz der Bibel um“, sagt Peres.

Die Mitglieder der Universalkirche beten nicht nur zu Gott, sie handeln auch mit ihm. Sie leben in der Gewissheit, dass nur in den Himmel kommt, wer rechtzeitig eine Eintrittskarte erwirbt. Der zweifellos begabteste Verkäufer solcher Eintrittskarten ist Edir Macedo, Peres Lacerdas Chef. Macedo hat die IURD 1977 in Rio gegründet. Heute ist er einer der reichsten Unternehmer Brasiliens. Sein Vermögen wird auf 1,2Milliarden US-Dollar geschätzt.

Edir Macedo, 71, verdingte sich in jungen Jahren als Wanderprediger und verkaufte Lotterielose. Später eignete er sich erstaunliche Fähigkeiten auf dem Gebiet der telegenen Wunderheilung an. Seine Anhänger glauben fest daran, dass er Brot durchs Radio segnen und Wasser aus dem Fernseher heraus weihen kann. Zum Bischof hat er sich selbst ernannt. 1998 kaufte Macedo Rede Record, das zweitgrößte TV-Netzwerk Brasiliens. Dessen erfolg-reichste Sendung ist die Moses-Telenovela „Die Zehn Gebote“. Der Sender hat aber auch laszive Shows im Angebot und drama-tische Reportagen über Diebe, Mörder und sonstige Satanisten. Alles, was den Leuten Spaß macht. Record gehören auch die Übertragungsrechte für Olympia 2016.

Die Universalkirche vertreibt ihre Botschaften und Produkte in mehr als 100 Ländern, in Deutschland etwa unter dem Namen „Hilfszentrum UKRG“ in Berlin. Ihr gehören Zeitungen und Verlage, eine Filmfirma, eine Bank und eine Versicherung. Es gibt auch Berichte, wonach die IURD paramilitärische Strukturen aufbaue. Auf einem hauseigenen Video marschierten uniformierte Rekruten ihrer Jugendorganisation im Stechschritt über einen Exerzierplatz - die Gruppe nannte sich „Gladiadores do Altar“. In einem Land, das lange Militärdiktatur war, sorgte das für Aufruhr. Die Kirche teilt dazu mit, sie habe ihre Pastoren nie bewaffnen wollen. „Über uns werden viele Lügen verbreitet“, sagt Peres. Nach einer Pause ergänzt er: „Wir haben viele Feinde. Wenn wir nicht unsere Leute in Brasília hätten, die unsere Rechte verteidigen, hätten sie uns längst verboten.“

Tatsächlich, das weiß auch der Bischof, hat die Universalkirche so viele Leute in wichtigen Positionen in der Hauptstadt sitzen, dass wohl eher die Caipirinha verboten wird als der Salomontempel. Als der 2014eröffnet wurde, war auch Präsidentin Dilma Rousseff beim Festakt dabei, sie steckte gerade im Wahlkampf. Rousseff hat für die Evangelikalen nicht viel übrig und saß trotzdem in der vordersten Reihe. „Sie musste kommen, sie wollte ja gewählt werden“; da lächelt Peres wieder.

Seine Kirche mag nicht die mitgliederstärkste des Landes sein, aber sie ist die politisch einflussreichste. Im Parlament bestimmt sie die Agenda der sogenannten „Bancada BBB“, der Bibel-, Blei- und Bul-lenfraktion. Dabei handelt es sich um eine parteiübergreifende Allianz aus religiösen Fundamentalisten, einstigen Militärs und Großgrundbesitzern, die zusammen mehr-heitsfähig sind. Der parlamentarische Arm der Universalkirche ist die Partei PRB, die bis zum Koalitionsbruch Ende März zur Regierung von Rousseff gehörte und einen Pastor als Sportminister stellte. Marcello Crivella, Bischof und Neffe des Kirchen-gründers Macedo, war zwei Jahre lang Rousseffs Fischereiminister. Nach Medienberichten soll die verzweifelt um ihr Amt ringende Präsidentin dieser Tage sogar bei Edir Macedo angerufen haben - mit der Bitte, mit seinem Einfluss das Amtsenthebungsverfahren gegen sie zu blockieren. Auch die Staatschefin kennt natürlich die wahren Machtverhältnisse im Land. Macedo soll die Anfrage höflich zurückgewiesen haben. Er wolle aber für die Präsidentin und das Land beten, wird er zitiert.

Es mehren sich die Stimmen, die behaupten, der laizistische Charakter der Republik sei in Gefahr. Die Frage ist, ob man das Thema überhaupt noch erörtern muss, so lange der Parlamentspräsident Eduardo Cunha heißt. Der ist Chef einer Firma namens Jesus.com und Promi-Mitglied der Pfingstkirche „Sara Nossa Terra“. Seine Schmiergeldzahlungen im Petrobras-Skandal hat er laut Staatsanwalt über eine evangelikale Kirche abgewickelt.

Wenn Cunha gefragt wird, wie er an das dritthöchste Amt im Staat gelangte, dann antwortet er: „Gott hat mich eingesetzt.“ Wahrscheinlich ist auch nur mit göttlichem Beistand zu erklären, dass der evangelikale Pastor Marco Feliciano zwischenzeitlich zum Chef der Menschenrechtskommission ernannt wurde. Feliciano ist wie Cunha ein entschiedener Kämpfer gegen Indigene, Schwule und Lesben.

Die Evangelikalen bestimmen aber nicht nur die Politik, sie mischen auch in der Popkultur mit, beim Karneval und beim Fußball. Nationaltrainer Carlos Dunga hat sich öffentlich darüber beschwert, dass die Kabine seiner Seleção zur Gebetskapelle mutiere. Als die Nationalelf neulich ein Testspiel in den USA absolvierte, tauchte ein Handyvideo von einer sektenartigen Zusammenkunft im Teamhotel auf. Der evangelikale Priester Guilherme Batista, 25, hatte es bei Facebook gepostet. Man sah, wie die halbe Mannschaft sich an den Händen hielt und mit geschlossenen Augen den Worten Batistas lauschte, darunter der ehemalige Weltmeister Kaká, der einstige Kapitän David Luiz sowie Bayern Münchens Douglas Costa.

Batista erzählt in einem Skype-Interview, er sei von den Spielern ins Hotel eingeladen worden, um das Evangelium zu verkünden, drei Spieler seien während des Besuchs zum „wahren Glauben“ konvertiert. Trainer Dunga wusste von dieser Missionierung nichts. Für Batistas Freikirche war das ein unbezahlbarer Werbeerfolg, die Spieler kamen mit einer Rüge davon. Was hätte Dunga auch tun sollen? Wenn er alle Betschüler rausschmeißen würde, brächte er keine Elf mehr zusammen.

Bei den Evangelikalen kann sich jeder, der ein Mikrofon und ein Spendenkonto besitzt, zum Pastor erklären. Im ganzen Land blüht ein spiritueller Markt aus privatwirtschaftlichen Kirchen. Das können futuristische Tempel sein oder Bretterbuden, die sich an Ausfallstraßen zwischen Stundenhotels drängeln. An diesem Markt hängt auch ein gigantischer Konsumgüterzweig. Es gibt evangelikale Modelabels, evangelikale Spielwarenläden sowie Fachgeschäfte für evangelikales Kaffeegeschirr.

Selbstverständlich gibt es auch eine evangelikale Musikkultur - und die steht vielleicht idealtypisch für das andere Gesicht der religiösen Revolution. Eher für Innovation als für Radikalität.

Man spricht vom Gospelmarkt, obwohl es keineswegs nur um Gospel geht. Gott, der Allmächtige, wird in allen Musiksparten gepriesen. Von frommen Rappern, christlichen Boygroups und missionari-schen Samba-Combos. Oft teilen sie die vorderen Plätze der Albumcharts unter sich auf. Die Nachfrage ist so groß, dass die Plattenfirmen Sony und EMI in Brasilien eigene Gospel-Labels haben. Zu den erfolg-reichsten Musikern des Genres gehört die Rockband Oficina G3. Bei ihren Konzerten füllen sich Stadien wie das Maracanã in Rio mit über 100000 Zuschauern. Der Bandgründer Juninho Afram gilt auch unter religionsskeptischen Brasilianern als einer der besten Gitarristen des Landes.

An einem regnerischen Abend, kurz vor Mitternacht, sitzt Afram im Backstage-Bereich einer Open-Air-Bühne, er hat eine E-Gitarre mit Schlangenmuster auf dem Schoß und schält eine Mandarine. Gleich werden Oficina G3 als Headliner beim „Rock No Vale“ auftreten, bei Brasiliens renommiertem Christenrockfestival.

Afram, 45, und seine Bandkollegen teilen mit handelsüblichen Rockern ihr Faible für dicke Silberketten, große Tätowierungen und Ziegenbärtchen. So könnte man auch bei Metallica oder Iron Maiden mitmachen. Was etwas irritiert: dass sich diese Herren nicht mit Alkohol oder Gras auf ihr Konzert einstimmen, sondern mit Wasser und Obst. Afram sagt, man müsse ja nicht alle Klischees der säkularen Szene nachäffen. „Unsere Version von Sex, Drugs and Rock’n’Roll lautet: Leben, Jesus und Rock’n’Roll.“

Das „Rock No Vale“-Festival findet jedes Jahr in einem grünen Tal in den Gebirgen nördlich von São Paulo statt. Es kommen hier nicht so viele Zuschauer wie ins Maracanã, aber immerhin gut Zehntausend mit einer sehr ausgeprägten Vorliebe für die evangelikale Heavy-Metal-Schule. Nicht jedem mag sich dieses Konzept im ersten Moment erschließen. Afram erklärt es so: „Headbangen zu Gebeten.“

Aus seiner Sicht darf Religion nicht nur in den Kirchen stattfinden, Gottes Liebe müsse überall verkündet werden, in den Theatern, an den Unis und eben auf Rockkonzerten. Oficina G3 beginnen ihren Auftritt an diesem Abend mit einem ihrer großen Hits. Er heißt „Aos pés da cruz“, am Fuße des Kreuzes. Der Text geht so: „Mein wunderbarer Jesus, du bist meine Inspira-tion, um weiterzumachen. Auch wenn vieles schiefläuft, schaue ich zu dir auf.“

Es gibt natürlich auch in Brasilien aufgeklärte Leute, die das als religiösen Kitsch abtun. Aber wer würde bestreiten, dass gerade vieles schiefläuft in diesem Land? Staatskrise, Wirtschaftskrise, Korruptionskrise, Zikakrise, das 1:7, da kommt was zusammen. Afram sagt: „Die Brasilianer sind ein Volk auf der Suche nach Antworten.“

Es hat seit Tagen geregnet. Vor der Bühne sieht es aus wie auf alten Woodstock-Fotos; nur die nackten Hintern und die Joints muss man sich dazudenken. Das Partyvolk suhlt sich im Einklang mit seinem Wertekanon züchtig im Matsch. Und wenn dann alle zusammen „mein wunderbarer Jesus“ grölen, klingt das schon so, als ob hier manch einer eine Antwort auf seine Alltagsfragen gefunden hätte.

Die fromme Matschorgie steht aber auch dafür, dass Evangelikale nicht gleich Evangelikale sind. Von den Hasspredigern im Fernsehen grenzen sich die Christenrocker genauso ab wie von den selbsternannten Bischöfen, die mit Spenden Tempel errichten. „Wir wollen keinen missionieren“, sagt Afram, „wir verkünden unsere Botschaft denen, die sie hören wollen.“

Hören will das vor allem die gut gebildete Mittelschichtjugend. Brasilien ist nicht nur ein Land des religiösen Fanatismus, sondern auch der religiösen Postmoderne. Selbst die Hipster aus São Paulo glauben an Gott. Sie sehen aus wie ihre Artgenossen aus Brooklyn oder Kreuzberg, Nickelbrillen, Röhrenjeans, Chucks. Nur dass auf ihren T-Shirts eben „Christafari“ steht und „I am totally wasted by HIS love“. Auf dem Festivalgelände haben auch mehrere Modelabels ihre Stände aufgebaut, die „Holy Style“ heißen oder „Coletivo Emaús“. Ein Verkäufer erzählt: „Unsere Religion holt die jungen Leute in ihrem Lifestyle ab.“

Zum Lebensstil dieser modernen Evangelikalen gehört auch ein Bekenntnis zu Nachhaltigkeit und Ökologie. Es soll keinerlei Müll verursacht werden beim „Rock No Vale“, die Besucher haben einen Plastikbecher bekommen, den sie drei Tage lang an einem Band um den Hals tragen. Getränke gibt es nur zum Nachfüllen. Und Getränke heißt hier: Wasser, Limo, organischer Filterkaffee. Es herrscht strenges Alkohol- und Rauchverbot. Der Organisator sagt: „Woodstock hatte ein Problem: die Drogen.“

Für Leute, die herkömmliche Festivals kennen und schätzen, mag das fundamentalistisch klingen. Die Macher von „Rock No Vale“ entgegnen: „Wir sind keine Fundamentalisten. Wir haben hier sogar Säkulare.“ Damit sind Musiker gemeint, die nicht nur über Gott singen, sondern über Gott und die Welt. Rico Ayade ist einer dieser säkularen Musiker, die der Einladung gefolgt sind, aus Neugier, wie er sagt, und weil er grundsätzlich schon an Gott glaube. Kurz vor seinem Auftritt streift der Singer-Songwriter aus São Paulo leicht verzweifelt an den Verpflegungsbuden vorbei. Er würde ganz gerne noch ein kaltes Bier zu sich nehmen, bevor er auf die Bühne geht. „Brasilien“, behauptet er, „ist das Land, in dem jedes Verbot im Zwiegespräch verhandelbar ist.“ Wenig später muss auch er erkennen, dass die Prohibition beim Christenrock unverhandelbar ist. Ayade begnügt sich schließlich mit einem Becher Club-Mate.

Neben der Bühne befindet sich ein Ententeich. „Schwimmen verboten“, steht auf einem kaum lesbaren Schild. Und alle halten sich daran. Bei einem Rockfestival! Da stellt sich schon die Frage, ob das überhaupt noch etwas mit Rock ’n’ Roll im klassischen Sinne zu tun hat, der ja auch immer vom Regelbruch lebte. Vielleicht, so die Theorie des verhinderten Biertrinkers Ayade, ist es gerade das Subversive beim Christenrock, dass alle Regeln des Genres gebrochen werden: „Der Regelbruch ist, dass hier nichts kaputt gemacht wird, dass keiner kifft und niemand auf die Bühne rotzt.“

Mitternacht, zwischen zwei Konzerten: Lesung aus dem Evangelium nach Matthäus. Noch so ein Regelbruch. Wobei, was heißt hier Lesung? Pastor Arionaldo Jr. hat sich auf die Kunst des „Biblia-Freestyle“ spezialisiert. Er trägt Bibelverse vor, allerdings, so wird es dem Publikum angekündigt, „in der Sprache, die ihr sprecht“.

„Josef war schon ziemlich lässig, denn als ihm seine Freundin mitteilte, dass sie vom Heiligen Geist schwanger war, hat er natürlich den Braten gerochen. Aber weil er so ein cooler Typ war, hat er trotzdem nicht Schluss gemacht.“ Großes Gelächter.

Arionaldo Jr. trägt einen Nasenring, an dem man einen Bullen abführen könnte. Auf seine Wade hat er sich ein Monster tätowieren lassen, auf seiner Brust steht großflächig: „Corinthians“. Damit sind aber nicht die Korinther aus den Paulus-Briefen gemeint, sondern der aktuelle brasilianische Fußballmeister. Pastor Arionaldo, Gründer einer Kirche namens „Manifesto“, ist eines der anschaulichsten Beispiele dafür, wie breit gefächert der Markt evangelikaler Glaubensangebote in Brasilien ist. Nach seinem Vortrag will jemand wissen, was er von der Idee der Nachhaltigkeit halte. Arionaldo Jr . sagt: „Leute, ihr wollt den Planeten retten? Dann müsst ihr die Menschheit ausrotten.“ Wieder Gelächter.

Später an der Limo-Bar zählt er auf, wer aus seiner Sicht als Erstes von diesem Planeten verbannt werden müsste: „Korrupte Politiker wie Eduardo Cunha und diebische Bischöfe wie Edir Macedo.“ Denn diese, findet Arionaldo Jr., repräsentierten nicht die Christen in diesem Land, sondern die Pervertierung des Christentums. In einer fast schon dahingerappten Freestyle-Gesellschaftskritik teilt er mit: „Wenn die Leute sagen, die Kirchen sind tyrannisch, dann stimme ich zu. Wenn die Leute sagen, die Pastoren klauen, dann rufe ich: Stimmt genau!“

Was sich dieser evangelikale Pastor für sein geliebtes Brasilien wünscht? „Gott bewahre uns vor einem evangelikalen Präsidenten.“

Süddeutsche Zeitung, Samstag, den 16. April 2016, Seite 13 - 15

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