Apr 14, 2015 09:38
Der Deutsche
Günter Grass war Pathetiker, Protestierer und als Erzähler ein Solitär. Nachruf auf einen Dichter, der so nur in diesem Land wirken konnte
Von Thomas Steinfeld
Die letzten literarischen Werke, die Günter Grass veröffentlichte, von seinem Werkstattbericht „Sechs Jahrzehnte“ (2014) abgesehen, waren ein paar Dutzend Gedichte, unter denen die politischen große Aufmerksamkeit auf sich zogen: Eines dieser Gedichte trug den Titel „Was gesagt werden muss“ (2012) und handelte von der Gefahr eines israelischen Angriffs auf Iran, ein zweites forderte die Solidarität mit einem Griechenland, das weniger das Griechenland von heute war, als dass es erkennbar durch eine deutsche Bildungstradition geprägt war. „Eintagsfliegen“ hatte der Schriftsteller diese Sammlung kleiner Werke genannt, die neben der Arbeit an einer illustrierten Neuausgabe der Erzählung „Unkenrufe“ entstanden waren. Es sind poetische Gelegenheitswerke, Arbeiten, von denen Günter Grass sagte, er habe sie weniger aus freiem Willen geschrieben, als dass er zu ihnen „provoziert“ worden sei. Insbesondere sollte diese Unfreiwilligkeit für die beiden poetischen Versuche gelten, mit denen er ins Weltgeschehen hatte eingreifen wollen.
Wie seltsam ist es, dass dieses Lebenswerk in kleinen Formen als Reflex und mit politischen Gedichten endete: mit einer Meinungsäußerung zum Tagesgeschehen, die sich durch die lyrische Form unangreifbar machen wollte. Ein Anspruch, den Gang der Welt zu verändern, und der Rückzug ins Persönliche und Private liegen hier eng beieinander.
Wie episch, wie kolossal dagegen hatte die öffentliche Laufbahn dieses Schriftstellers begonnen, mit den siebenhundertdreißig Seiten der „Blechtrommel“ (1959), mit dem Buch, das der deutschen Gesellschaft nach dem Krieg, genauer: der westdeutschen Gesellschaft, den prominentesten literarischen Ausdruck verlieh und das seitdem, neben Thomas Manns „Buddenbrooks“, das Bild der deutschen Literatur im zwanzigsten Jahrhundert prägte. „Zugegeben: Ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt.“ Mit diesen Worten fängt der Roman an, und dann hört er nicht eher auf, bis er sich durch dreißig Jahre deutscher Geschichte, von der Weimarer Republik bis in die Nachkriegszeit, hindurchgearbeitet hat.
Eine ganze Welt scheint dieser Roman zu umspannen, von Danzig, wo Günter Grass am 16. Oktober 1927 geboren wurde, bis nach Düsseldorf, wo er in den Fünfzigern an der Kunstakademie studierte, vom gekreuzigten Jesus bis zur Jazzkapelle, von der SA bis zu belgisch Granit. Erzählt aber wird aus der Perspektive eines alten Kindes. Und wenn dieses Kind auch einen faschistischen Marsch in einen flotten Charleston zu verwandeln und Glas zu zersingen vermag, so bleibt es doch ein kleiner Wicht, dem man Steine an den Kopf werfen kann und der die Entlassung aus der Nervenheilanstalt fürchtet, weil er sich dem Alltag und der Gesellschaft nicht gewachsen fühlt.
Allmacht und Ohnmacht, der weit ausgreifende Anspruch und das sich ins Enge Zurückziehende, das Eigensinnige, ja Eigenbrötlerische lagen bei Günter Grass immer nah beieinander. Aus dem Hin und Her zwischen beiden Extremen gingen nicht nur die Allegorien hervor, die vielen Werken dieses Schriftstellers - dem Roman „Örtlich betäubt“ (1969) und dem darin agierenden Zahnarzt, dem Roman „Der Butt“ (1977) und darin der Geschichte der Menschheit - den Boden der Intrige liefern. Dieses Ineinander von Kühnheit und Eigenwilligkeit war auch der Grund für die Beliebtheit, Bewunderung, sogar Liebe, die Günter Grass beim großen Publikum (nicht immer bei der Kritik) genoss: Da war einer, der sich etwas traute, auf die Gefahr hin, sich zum Narren zu machen.
Mehr als ein halbes Jahrhundert ist vergangen zwischen dem Erscheinen der „Blechtrommel“ und der Veröffentlichung des letzten Gedichts, und immer war da Günter Grass, immer schienen da dieser hängende Schnurrbart, diese mürrische Miene und die schwere Pfeife im Gesicht gewesen zu sein. Dass auch im hohen Alter das Haupthaar seine dunkle Farbe nicht zu verlieren schien, während die Züge verwitterten, das wirkte wie ein Zeichen schierer Unverwüstlichkeit. Er war wie ein alter Kämpe, durch viele Schlachten gezeichnet, geschunden und manchmal müde, aber im Kern unverwüstlich. Doch vielleicht wirkt diese Beharrlichkeit im Rückblick anders, als sie den Zeitgenossen erschien, vielleicht blieb als eigensinniger Solitär übrig, was zunächst eine höchst mobile Figur gewesen war, damals, als die halbwegs Gleichaltrigen noch da waren, Heinrich Böll zum Beispiel oder Uwe Johnson, als man den Stand der zeitgenössischen deutschen Literatur mindestens alle paar Jahre noch neu verhandelte.
Die beiden, die jetzt noch übrig geblieben sind von den Protagonisten des großen deutschen literarischen Aufbruchs um das Jahr 1960, Martin Walser und Hans Magnus Enzensberger, bildeten zuletzt, auch im Hinblick auf die intellektuelle Beweglichkeit, die Gegenpole zu Günter Grass.
Was also heute, wenn man an Günter Grass denkt, aus dem Gedächtnis fast verschwunden ist, ist das beinahe rückhaltlos Moderne, das dieser Schriftsteller einmal besessen haben muss. Tatsächlich beginnt die Nachkriegsliteratur ja nicht mit einer „Stunde null“, in der das Alte plötzlich verschwunden und das Neue da war. Thomas Mann, Bertolt Brecht und Gottfried Benn, sie alle wirkten noch bis in die Mitte der Fünfzigerjahre. Das Neue fing anders an, mit einem heftigen Nachholen der internationalen ästhetischen Moderne, mit dem sprachlichen Experiment (wer erinnert sich an Helmut Heißenbüttel?) und dem Verlust des auktorialen Erzählers, mit der Gruppe als notwendiger Organisationsform der Avantgarde (der „Gruppe 47“, der Günter Grass in der Erzählung „Das Treffen in Telgte“ aus dem Jahr 1979 ein barockes Denkmal setzte).
Und ganz vorn in dieser Bewegung, an der Spitze des Aufbruchs in eine neue Welt: Da schritt Günter Grass. Der kleine Oskar, der durch seine Kleinwüchsigkeit gepanzerte Blechtrommler (er war eine Bohème für sich allein), wird am Ende des Romans in Paris verhaftet, und in Paris lebte Günter Grass, als er dieses Buch schrieb, nicht weit vom „Nouveau Roman“ und von Alain Robbe-Grillet, im Arbeiterviertel an der Avenue d’Italie in der Nähe der Gare d’Austerlitz und des Krankenhauses La Salpêtrière. Und aus der Metropole der künstlerischen Avantgarde zog die Moderne in die deutsche Provinz.
Wie ging die Moderne bei Günter Grass? Zum Beispiel so: „Spontan, ohne die Möglichkeit vorher, Goethe oder Rasputin lesend, in Betracht gezogen zu haben, schüttete ich Maria, nachdem ich ihr wochenlang die linke Hand gefüllt hatte, den Rest eines Himbeerbrausepulvertütchens in die Bauchnabelkuhle, ließ meinen Speichel dazufließen, bevor sie protestieren konnte, und als es in dem Krater zu kochen anfing, verlor Maria alle für einen Protest notwendigen Argumente: denn der kochend brausende Bauchnabel hatte der hohlen Hand viel voraus.“ Modern, das war der Geist der Subversion, wie er in Oskar, dem anarchischen kleinen Verweigerer, Gestalt annahm; modern, das war die offene, derbe Schilderung von Sexualität; modern, das war die Verbindung von Surrealismus (oh ja, realistisch sind weder die berühmte Zeugungsszene unter den vier Röcken, noch der pathetisch frühreife Zwerg und Blechtrommler, um von der kathartischen Wirkung des Zwiebelschneidens gar nicht erst anzufangen) und Gewalt; modern, das war die Darstellung von Wahn und Obsession; modern, das war der Blick aus dem Kartoffelkeller hinauf auf die geschichtliche Welt.
Und wenn es da auch eine Tradition gab, die mit der Moderne nichts zu tun haben zu schien, eine Vorgeschichte aus Schelmenroman und barockem Kanzleistil, so war sie doch aufgegangen im Aufbegehren gegen die Konvention, das damals einen großen Teil der deutschen Gesellschaft erfasst hatte.
Dass es diesen Roman überhaupt gab, dieses deutsche Panorama samt Kleinbürgertum, Pilzesammeln und Krieg, Währungsreform und verlorenen Ostgebieten, dieser Umstand war es, der Ruhm und Rang der „Blechtrommel“ begründete - und sie zum Klassiker einer sich neu formierenden Gesellschaft machte. Zu diesem Werk muss man die folgenden Werke der „Danziger Trilogie“, nämlich die Novelle „Katz und Maus“ von 1961 und den avantgardistischen Roman „Hundejahre“ von 1963 hinzuzählen. Diese drei Bücher waren die Antwort auf die nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder neu gestellte Frage nach dem Roman, der als Grundbuch einer veränderten Gesellschaft fungieren könne.
Gewiss, diese Frage war nie eine literarische gewesen. Immer hatte sich darin der politische Anspruch eines Staates an die Kunst gespiegelt. Aber Günter Grass erfüllte ihn, gründlich und umfassend, und er tat es nicht nur bereitwillig, sondern mit Leidenschaft und mit einem Pathos, das sich gern auf „Kraut und Rüben“ berief, das urdeutsch (und insbesondere: nordostdeutsch) sein wollte und „links“ zugleich. Berlin - das war eine Episode in seinem Leben gewesen, aber Danzig und Lübeck, das war Heimat, nicht nur persönlich, sondern auch kulturell und politisch.
Aus diesem ebenso moralischen wie politischen Anspruch an die Literatur erwuchs nicht nur das Engagement des Schriftstellers für die Sozialdemokratie: Er redigierte Reden Willy Brandts im Wahlkampf 1961, sprach selbst im Wahlkampf 1965 und war einer der fleißigsten Redner im Wahlkampf 1969, der Willy Brandt zum Bundeskanzler machte - im „Tagebuch einer Schnecke“ (1972), mehr Autobiografie als Roman, hielt Günter Grass dieses politische Engagement fest. Auch später, als Willy Brandt nicht mehr Bundeskanzler war und sich die enge Verbindung zur Sozialdemokratie gelöst hatte, blieb das öffentliche Meinen eine seiner prominentesten Tätigkeiten: wider die Atomkraft und für die Roma, wider die Asylpolitik der Bundesregierung und für die Rechte von Lesben und Schwulen, wider die Wiedervereinigung und für eine Gewerkschaft der Schriftsteller. Und immer wieder erschienen Werke, die sich wie Illustrationen zu den eigenen Meinungen verhielten, so in dem Roman „Die Rättin“ (1986), der den Untergang der Welt durch eine ökologische und atomare Katastrophe beklagt, so in dem Roman „Ein weites Feld“ (1995), in dem er Theodor Fontane gegen die neue deutsche Einheit mobilisierte, sehr zum Verdruss des Kritikers Marcel Reich-
Ranicki (was eine lange Feindschaft begründete) - bis zum Schluss, bis zum Gedicht „Was gesagt werden muss“.
Damals, in den Achtziger- und mehr noch in den Neunzigerjahren, hatte Günter Grass zuweilen schon wie ein Fossil gewirkt: in literarischer Hinsicht, weil zu seinen immer ein wenig grotesk-derben Einfällen (der Zwerg, der Butt, die Unke, der Krebs, die Zwiebel, all diese allegorisch niederen Figuren, von denen Günter Grass auch als bildender Künstler lebte) nichts Neues hinzugekommen war, aber auch im Hinblick auf die Moral. Denn er hatte ja nicht nachgelassen, mit seinen Werken eine scheinbar aufrührerische politische Haltung zu verbinden. Diese aber schien nicht immer den Kontakt zur Gegenwart behalten zu haben. Das änderte sich mit dem Nobelpreis. Er wirkte in Deutschland wie eine Wiedergutmachung, ja wie eine Rehabilitation des Schriftstellers. Bundeskanzler Gerhard Schröder redete von den „Schmähungen“, die Günter Grass hatte erdulden müssen. Peter Rühmkorf sprach von der Augurenschar der Rezensenten, die jetzt in sich gehen müsse, Hans Magnus Enzensberger hoffte, der Preis werde die „Verbitterung, die sich nach Reaktionen auf seine letzten Werke eingestellt habe, mildern“.
Durch den Preis, so ging die Hoffnung, würde das Querulatorische in Günter Grass endgültig im Repräsentativen aufgehen. Die Hoffnung trog. Günter Grass wurde kein anderer. Aber mit der edelsten aller literarischen Auszeichnungen verwandelte sich seine Bedeutung: Das literarische Werk trat in den Hintergrund, und es kam deutlicher hervor der Dichter als zeithistorisches Symbol für die Herkunft Deutschlands aus Krieg und Vernichtung, für eine bessere Republik und eine bessere Welt, für den Widerstand gegen das amerikanische Imperium - und vor allem: als Symbol für das Widersprechen, für einen Republikanismus, der den Streit erträgt, weil er ihn will.
Die Schwedische Akademie wusste, was und wen sie auszeichnete: Mehr noch als in Deutschland war, je mehr Zeit verging, die „Blechtrommel“ im Ausland als große literarische Auskunft zur Lage der deutschen Nation wahrgenommen worden, unbezweifelt und unbestritten, bis hin zum Nobelpreis für Literatur, der Günter Grass 1999, im letzten Jahr des alten Jahrtausends verliehen wurde. Dass sich der Autor der „Blechtrommel“ dabei auf die bewährten Mittel des Erzählens stützt, hatte zu diesem Erfolg gewiss beigetragen: das lineare Erzählen, das behäbige Inventarisieren, das Fehlen von Psychologie und Entwicklung beim Personal, die Wiederverwendung von vertrauten Motiven.
Wichtiger für diesen Erfolg aber ist, dass sich dieses Werk im Wesentlichen auf die kurze Zeitspanne zwischen dem Ende des Dritten Reichs und der Wiederauferstehung eines deutschen Gemeinwesens konzentriert, auf die wenigen Jahre zwischen dem Zusammenbruch der Ostfront und der Erneuerung Deutschlands als demokratischer Staat. Um diese weltgeschichtliche Zäsur dreht sich das gesamte Œuvre dieses Schriftstellers. Die „Blechtrommel“ bildet darin das zentrale Stück, die Novelle „Im Krebsgang“ zum Beispiel aus dem Jahr 2002, die vom Untergang des Flüchtlingsschiffs Wilhelm Gustloff handelt, war ein später Versuch, diese Mitte neu zu beleben. Günter Grass wurde als Zeuge, Vermittler und Künder dieser Zäsur wahrgenommen, immer wieder, auch in seinen Irrtümern.
Es gibt keine Wissenschaft, die Psychologie eingeschlossen, die so vom Glauben an die reinigende Kraft der Daten und an die heilende Wirkung des Aussprechens getragen wäre wie die Zeitgeschichte. Diesem Glauben folgte Günter Grass, zuerst nur mit literarischen Mitteln, zuletzt nahezu ausschließlich als (auch dichtende) Figur des öffentlichen Lebens. In diesem Glauben wurde er, der schreibende Plebejer, der moderne Barockdichter zur repräsentativen Gestalt der Bundesrepublik. Das Buch „Beim Häuten der Zwiebel“ (2006), der erste Teil einer Autobiografie, war auch der Versuch, die Glut dieses Glaubens an die Zeitgeschichte neu zu entfachen - und das Bekenntnis, in den letzten Wochen des Krieges Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, machte Günter Grass zwar nicht zu einem deutschen Céline, wie Salman Rushdie damals erklärte. Aber es versetzte den Schriftsteller zurück in die historische Sphäre, die Gegenstand seiner größten literarischen Triumphe war. Dass er sich dabei selbst kompromittierte, schien Grass damals kaum wahrzunehmen: Stattdessen schien hier ein Mann um die Wahrnehmung eines Lebenswerks zu kämpfen, das er offenbar selbst als exemplarisch und bedroht ansah.
„Mit letzter Tinte“ schrieb Günter Grass vor zwei Jahren die beiden Gedichte „Was gesagt werden muss“ und „Europas Schande“. Gewiss, selbstverständlich liegt dem Gedanken, man könne in Gestalt von Gedichten - oder Romanen - ein wenig über die Weltpolitik verfügen, etwas Illusorisches zugrunde. Das Illusorische ist aber jetzt, da dieses Leben zu Ende gegangen ist, nichts mehr, an dem sich etwas entschiede. Etwas anderes ist an seine Stelle getreten: das Bild eines Mannes mit Schnurrbart und Pfeife, das sich scharf abhebt von sich wandelnden historischen Hintergründen.
Die deutsche Geschichte und die deutsche Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierten sich in diesem Mann wie in keinem anderen Menschen. Und so wird man sich, immer wieder die „Blechtrommel“ in die Hand nehmend, aus historischen, literarischen oder politischen Gründen, an ihn erinnern: an den Mann, der Deutschland war.
Süddeutsche Zeitung, Dienstag, den 14. April 2015, Seite 3
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