Sein und Schein

Apr 14, 2015 09:32

Sein und Schein
Wie Menschen auf Placebos reagieren, liegt auch an ihren Genen

Es scheint unmoralisch zu sein, Patienten Arzneimittel ohne Wirkstoff zu verordnen, doch hilft eine solche Scheinbehandlung in vielen Fällen tatsächlich. Nein, hier soll nicht von Homöopathie die Rede sein, sondern vom Placeboeffekt. Placebos sind Heilmittel, die keinen Wirkstoff enthalten und doch in der Lage sind, etwa Schmerzen zu lindern oder den Blutdruck zu senken. Wie die Scheinmedikamente dies schaffen, ist noch immer eines der großen Rätsel der Medizin. In einem Beitrag im Fachblatt Trends in Molecular Medicine fordern nun deshalb drei Mediziner von der Harvard University, endlich auch gezielt in den Genen des Menschen nach einer Antwort zu suchen.

Lange Zeit wurde der Placeboeffekt allein der Vorstellungskraft des Menschen zugeschrieben. Inzwischen steht fest, dass im Körper tatsächlich etwas passiert, wenn er eine Scheinbehandlung bekommt. Dann schüttet der Körper zum Beispiel Substanzen aus, die Schmerzen lindern. Die Placeboforschung kam durch ein Experiment Ende der 1970er-Jahre richtig in Schwung. Damals hatten Ärzte Patienten, denen Weisheitszähne gezogen worden waren, ohne ihr Wissen ein Scheinmedikament gegeben, das die Schmerzen bei einigen dennoch lindern konnte. Als die Ärzte zusätzlich einen Wirkstoff gaben, der die Wirkung von echten Schmerzmitteln aufhebt, ließ die Wirkung des Placebos nach. Das war einer der ersten Nachweise, dass nicht alles bloß Einbildung ist.

Aber nicht alle Menschen sprechen gleichermaßen auf derlei Behandlungen an. Die individuelle Persönlichkeit scheint dabei wichtig zu sein. Bei Optimisten wirken Placebos deutlich besser als bei Pessimisten. Auch Kinder reagieren sehr gut auf Scheinbehandlungen. Und die Erwartungshaltung des Patienten hat ebenfalls einen starken Einfluss. „Wenn ein Arzt seinem Patienten sagt, dass er ein ,leichtes Medikament‘ verschreibe, dann wirkt das weniger gut, als wenn er behauptet, das sei ,der beste Wirkstoff‘, der zur Verfügung stehe“, sagt Paul Enck, Leiter der Placeboforschung am Universitätsklinikum Tübingen. Entsprechend funktionieren Placebos besser, wenn man den Behandelten sagt, dass diese Arznei extrem teuer gewesen sei.

Und sicherlich spielen auch die Gene eines Menschen eine Rolle dabei, wie er auf eine Scheinbehandlung reagiert. Die Harvard-Forscher wollen deshalb das „Placebom“ entschlüsseln. Damit meinen sie alle Erbanlagen im menschlichen Erbgut, die irgendetwas mit der Entstehung des Placeboeffekts zu tun haben.

Ein paar genetische Varianten sind bereits bekannt, die für eine starke Reaktion auf Placebos sorgen können. Das sind zum Beispiel solche, die steuern, wie der Organismus auf körpereigene Schmerzmittel reagiert. Sigrid Elsenbruch, Professorin für Experimentelle Psychobiologie am Uniklinikum Essen, warnt jedoch vor hohen Erwartungen an die Gen-Analyse. „Ein Patient kann in einer Situation stärker auf eine Placebobehandlung ansprechen als in der nächsten“, sagt die Forscherin. Es komme auf die Erfahrungen des Patienten an, auf die Beziehung zwischen ihm und dem Arzt und auf das jeweilige Leiden. Sie glaubt, dass diese Faktoren einen wesentlich stärkeren Einfluss haben als die Gene.

Hanno Charisius, Süddeutsche Zeitung, Dienstag, den 14. April 2015, Seite 1

medizin, genetik

Previous post Next post
Up