Der stille Held Seine Lebenserinnerungen 'Sieben Jahre in Tibet' machten den Bergsteiger Heinrich Ha

Nov 21, 2013 11:23

Der stille Held
Seine Lebenserinnerungen 'Sieben Jahre in Tibet' machten den Bergsteiger Heinrich Harrer zur Legende. Nun aber sind Dokumente aufgetaucht, die zeigen: Die wirkliche Hauptrolle in der Geschichte spielte sein Begleiter. Ein Blick in das Tagebuch des schweigsamen Peter Aufschnaiter
Von Laura Hertreiter

Brad Pitt schleppt sich mit gefrorenem Vollbart über schroffe Felswände. Zerrt mit zitternden Armen abrutschenden Kollegen aus steilen Schluchten. Spaziert über Bergkämme, das grellblonde Haar angestrahlt vom Licht des Sonnenuntergangs. Mit Pitt in der Hauptrolle hat der Kinofilm 'Sieben Jahre in Tibet' den österreichischen Bergsteiger Heinrich Harrer weltberühmt gemacht. An das schnurrbärtige Gesicht des Mannes an Harrers Seite erinnert sich dagegen fast niemand mehr. Und das obwohl Harrers Abenteuer im Himalaya ohne Peter Aufschnaiter undenkbar gewesen wären.

Das zeigen Bücher und Briefe jenes stillen Bergsteigers, die gut 80 Jahre nach der Expedition am Nanga Parbat in einem Nachlass aufgetaucht sind. Für die Geschichte der Bergsteigerei ist der Fund von Aufschnaiters Schriftstücken eine kleine Sensation, da sie die berühmten Abenteuer aus einer völlig neuen Perspektive zeigen. Denn wo der Kinofilm ein versöhnliches Ende inszeniert, erzählt Aufschnaiters steile Tintenschrift von einer Seilschaft wider Willen, von Konkurrenz und Zwietracht.

Zu Besuch beim Finder der Unterlagen im oberbayerischen Teisendorf. Michael Germann-Bauer krempelt die Hemdsärmel hoch und wuchtet eine graue Pappschachtel auf seinen Holztisch. Vor zwei Jahren fand er die Notizen, als er sein Elternhaus entrümpelte. 'Das alles', sagt er und schlägt den Deckel zurück, 'sind Beweise dafür, dass die wohl bekannteste Tibet-Geschichte nicht ganz richtig erzählt wurde.' In seinem Esszimmer mischt sich Räucherstäbchenduft mit Herbstluft, die durch ein gekipptes Fenster hereinweht.

'Harrer hat sich super verkauft, aber der Held der Geschichte ist Aufschnaiter', sagt der weißbärtige 66-Jährige, der Jeans und Filzpantoffeln trägt. Mit zwei Fingern zieht er fleckige Tagebücher, Briefe, Reiseunterlagen aus dem Karton. Puzzlestücke, aus denen sich die Geschichte des Peter Aufschnaiter zusammensetzen lässt - jenes 1899 in Kitzbühel geborenen Bergsteigers, der in den 1930er Jahren mit Heinrich Harrer in das Himalaya-Gebirge aufbrach, in einem indischen Gefangenenlager landete und nach Tibet floh, wo er als Entwicklungshelfer blieb. Den es in bis zu seinem Tod mit 74 Jahren in den Himalaya zog.

Der Fund der Aufzeichnungen Aufschnaiters hat das Interesse an der Tibet-Geschichte 16 Jahre nach dem Kino-Erfolg erneut entfacht. An der Universität Zürich werten Forscher Teile der Unterlagen aus, sie erhalten Anfragen aus aller Welt. Der österreichische Privatsender Servus TV strahlt am 22. November eine Dokumentation über Aufschnaiter aus. Das Ziel: den eigentlichen Expeditionsleiter endlich aus dem Schatten Harrers befördern.

Als Germann-Bauer noch ein Kind war, bezog Aufschnaiter ein Zimmer in dessen Elternhaus, wann immer ihn die Regenzeit für ein paar Wochen aus dem Himalaya nach Europa schwemmte. 'Er war ein fast zwei Meter großer Mann, der sehr laut mit Tiroler Akzent gepoltert hat und immer plötzlich mit Tüten bepackt in der Tür stand', sagt Germann-Bauer. Er zieht ein Schwarzweißfoto aus der Kiste, zu sehen ist ein hageres, ernstes Gesicht mit zerzaustem Vollbart. 'Bei so einem Besuch hat er seine Unterlagen untergestellt - da sind sie dann verstaubt.'

Das abgestoßene Tagebuch auf dem Esstisch zeigt schon auf den ersten Seiten, dass Aufschnaiter Harrer niemals leiden konnte. Zu selbstherrlich, zu wenig ernsthaft fand er den Skiweltmeister. Eine politische Weisung bugsierte Harrer trotzdem in die Mannschaft der von Aufschnaiter geleiteten Expedition zum Nanga Parbat. Weil der erste Achttausender zu dieser Zeit noch nicht bezwungen war, wollten die Nationalsozialisten aller Welt die Stärke ihrer Ideologie mit einem Sieg im internationalen Welttlauf um die höchsten Gipfel beweisen. Harrer, Mitglied von SS und NSDAP, hatte gerade als Erster medienwirksam die Eiger-Nordwand erklommen und war ihr perfekter Werbeheld am Berg.

Während der Nanga-Parbat-Expedition brach 1939 der Zweite Weltkrieg aus. In Indien wurde die Gruppe von britischen Soldaten in ein Lager gesperrt. Eine Ansammlung von Zelten und Baracken am Fuße des Himalaya, in der Hunderte Menschen zusammengepfercht lebten. Tagsüber: Strafarbeiten. Grashalme mit Nagelscheren stutzen. Mit dem Spaten Gräben ausheben, zuschütten, ausheben. Nachts: Fluchtpläne schmieden. Aufschnaiter und Harrer träumten von Tibet, das sie aus Geschichten kannten. Weite Landschaften, fremde Tiere, mystische Bräuche. Im April 1944, nach fünf Jahren Gefangenschaft, gelang den beiden der Ausbruch, eine waghalsige Flucht durch das Gebirge in die tibetische Hauptstadt Lhasa begann. Bei Schnee, Eis und bis zu 40 Grad Kälte, über Tausende Höhenmeter. Bei all den Strapazen wurden die Männer einander noch unerträglicher. In seinem Tagebuch beschreibt Aufschnaiter vergebliche Versuche, sich getrennt voneinander durchzuschlagen: Wie er Harrer halb verhungert, krank, ausgeraubt auflas und gemeinsam mit ihm weiterzog. 'Aber irgendwann habe ich es einfach nicht mehr ausgehalten.' Wie er die nächste Abzweigung allein nahm und das schnell bereute, weil Wölfe nachts zwei seiner Lastenschafe rissen. Vollbepackt, ein humpelndes Schaf am Strick, kehrte er zu Harrer zurück.

Dennoch war es Aufschnaiter, der Seen, Berge, ganze Landschaften im Kopf hatte, erzählt Germann-Bauer. Der Englisch, Italienisch, Hindi, Tibetisch sprach. 'Als die beiden nach 21 Tagen ankamen, war er die Eintrittskarte in ein Land, das eigentlich keine Ausländer duldete.' Aufschnaiter überraschte die Tibeter nicht nur damit, dass er ihre Sprache und Sitten kannte, vor allem sein Ingenieurswissen kam wie gerufen: In Lhasa sollten gerade Bewässerungskanäle gebaut werden. Aufschnaiter unterstützte dieses Projekt, und viele weitere. Zeichnete Landkarten und Stadtpläne, reformierte den Anbau von Nutzpflanzen, baute Brücken, Straßen, ein Wasserkraftwerk. Dass Harrer zum Privatlehrer des damals elfjährigen Dalai Lamas wurde, ist bekannt. Dass Aufschnaiter die Infrastruktur in Lhasa modernisierte, wissen heute fast nur Tibeter. Der Dalai Lama sagte viel später in einem Interview: 'Aufschnaiter war ein ganz besonderer Mensch. Die ernsthafteren Menschen in Tibet hatten mehr Respekt für ihn. Wer gern Spaß hatte, mochte Harrer lieber.'

Die zwei, die einander immer wieder Lebensretter waren, fanden eine gemeinsame Heimat. Das Du haben sie sich aber in zwölf Jahren nie angeboten. Die gemeinsame Zeit endete 1950 mit dem Einmarsch der chinesischen Truppen. Der Dalai Lama floh, Harrer im Gefolge. Aufschnaiter zog sich in die tibetische Hochebene zurück. Zu Hause kursierten Gerüchte, er sei tot. In Wahrheit hatte er sich nie so lebendig gefühlt: 'Dort allein umherzustreifen war sein Traum', sagte Germann-Bauer.

Im Januar 1952 wurde auch Aufschnaiter aus dem Land geworfen. 'Ich kann gar nicht schildern, wie genug ich von aller Politik habe', notierte er. Von da an lebte er die meiste Zeit in Nepal, nahe der tibetischen Grenze in einem Verschlag mit Blechdach. 'Noch liegen in der Ecke meiner neuen Wohnung die Kleider, in denen ich ankam, dort sind die Steine, die ich sammelte. Wenn ich sie ansehe, steigen vor mir die Landschaften auf, die endlosen Weiten, die stummen Yak-Herden, die schweigsamen Menschen und die Blumen. Dies sind die Dinge, an die sich denke, immer denken werde', steht im Tagebuch.

Nach Europa zurückzukehren, war für einen wie Aufschnaiter keine Option, sagt Germann-Bauer. Für einen, den Polizisten stoppten, wenn er langen Schritts durch München stiefelte, weil sie ihn für einen Taschendieb hielten. Einen, der wütend mit Türen knallte, wenn Fragen über Frauengeschichten gestellt wurden. 'Darüber hat er nie gesprochen', so Germann-Bauer.

Im Herbst 1973 wurde Aufschnaiter aus Nepal ausgeflogen und in ein Innsbrucker Krankenhaus gebracht, wo er wenig später starb. Kurz zuvor hatte ihn Michael Germann-Bauer, damals 15, mit seinem Vater im Himalaya besucht. Mager und krank sei er gewesen, 'aber er war trotzdem gerade auf seiner letzten, heimlichen Tibet-Tour.'

Über Harrers Buch, auf dem der Brad-Pitt-Film basiert - ein Welterfolg, übersetzt in 53 Sprachen - habe sich Aufschnaiter damals maßlos geärgert. 'Weil Harrer und er ausgemacht hatten, nichts im Alleingang zu veröffentlichen', sagt Germann-Bauer. Den Ärger bezeugt eine Ausgabe von Harrers Buch, die Aufschnaiter mit stumpfem Bleistift traktiert hat. Fragezeichen, Ausrufezeichen, dicke Unterstreichungen. Aber: Kein einziges Wort.

Süddeutsche Zeitung, Mittwoch, den 20. November 2013, Seite 9

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