Sep 01, 2024 14:16
Thüringen, was ist los mit dir? Eine persönliche Spurensuche
Unsere Korrespondentin, die zehn Jahre in Thüringen gelebt hat, fragt Freunde und Politiker nach dem, was sich das politische Berlin nicht erklären kann - oder will.
Falls am 1. September 2024 die Welt untergeht, Punkt 18 Uhr, dann sind Marja und Bernd schuld. Oder Lilian und Rainer. Oder Eva oder Ralf oder Corinna und Thomas Müller. Oder Michael Brychcy. Oder alle zusammen. In Berlin jedenfalls glauben sie das. Jetzt schon.
Dort wird das Schlimmste befürchtet für Sonntag. Landtagswahl. Neun Tage zuvor kräht „Zeit online“ zehn vor zwölf aus der Hauptstadt in die Welt, ob „Thüringen unregierbar?“ wird. Und das ist, in diesen Spätsommertagen, noch eine der harmlosesten Schlagzeilen über das 2,1-Millionen-Einwohner-Land mitten in der Republik.
In Gotha sitzen da Marja und Bernd an ihrem Küchentisch, es gibt Nudeln und dazu die Frage „Thüringen, was ist los mit dir?“. „Die Gesellschaft“, sagt Bernd, Bauingenieur im Ruhestand, „ist auseinander gedriftet.“ „Seit Corona“, sagt Marja. Ach, sagt Bernd, das sei schon seit 1990 so und außerdem „keine Antwort“.
Tags zuvor sind die Antworten in der 25 Kilometer entfernten Landeshauptstadt Erfurt nur so heruntergeprasselt. Der Verein der Ausländischen Presse hat dort die Spitzenkandidatinnen und -kandidaten zum Gespräch eingeladen, im Stundentakt treten sie auf, nur Björn Höcke nicht, der ignoriert Journalisten-Anfragen grundsätzlich.
Er kann sich das leisten. Die Medien der Welt reisen ihm ohnehin hinterher. Wer den Thüringer Wahlkampf betrachtet, merkt rasch: Fast alles dreht sich um Höcke, die CDU druckt allen Ernstes sogar „Höcke“ auf ein Plakat und „stoppen“ dahinter. Und was nicht, dreht sich um Sahra Wagenknecht (BSW), die gar nicht kandidiert.
„Dass drei von zehn auf den Höcke reinfallen“, sagt Bernd beim Mittagessen, „ist zum Kotzen. Völkisches Gerede wie im Dritten Reich.“ Aber Wagenknecht sei nicht besser- und die Gründung des BSW, sagt Marja, ein „Verrat an der Demokratie“.
Bernd und Marja sind Freunde klarer Worte und Haltung. In der DDR verweigerte er den Beitritt zur DSF, der „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“ - was Druck bedeutete, auch vom Kollektiv; später arbeitete er bei der Kirche. Sie kündigte als Grundschullehrerin; weil das Verlassen der „Volksbildung“ nicht vorgesehen war, behandelte ihr Arzt sie nicht mehr. Beide halten sich weder für Helden noch für Opfer. Nur für Menschen, die sich von niemandem den Blick trüben lassen für die Realität.
Die Wirklichkeit im Spätsommer 2024 in Thüringen ist, laut Umfragen, dass Höckes AfD stärkste Partei wird mit 30 Prozent und, weil Wagenknechts BSW stabil auf 17 kommt. Knapp die Hälfte der Wählerinnen und Wähler haben ganz offensichtlich keine Berührungsängste mit Parteien am extremen Rand, rechts wie links.
Nach gut drei Tagen Thüringen und vielen Gesprächen an vielen Tischen mit Menschen, die einem aus langer Freund- oder Bekanntschaft vertrauen, ist klar: Misstrauen gegen „die Politik“ ist nicht selten, Frust verbreitet auch unter denen, die die friedliche Revolution von 1989 bis heute für das Beste halten, was ihnen passieren konnte und der DDR erst recht. Selbst Politiker sind nicht ausgenommen. Aber mindestens ebenso groß ist der Argwohn gegen den Blick aus dem Westen.
„Der Umgang West mit Ost ist verheerend“, sagt in Erfurt Bodo Ramelow, seit zehn Jahren Regierungschef mit West-Herkunft, 34 Jahren Thüringen-Leben und wenig bis gar keiner Aussicht auf eine dritte Amtszeit. Schon die zweite ist kompliziert gewesen, „Chaos“ die häufigste Beschreibung der Minderheitsregierung seiner Linken mit SPD und Grünen - wenn auch Unfug.
Es war nur anders als das, was Thüringen gewohnt war: Die CDU regiert, allein oder mit SPD oder FDP. In jedem Fall klare Verhältnisse. Ohne Migranten, ohne Pandemie und alles, was sonst als Vorname vor „Krise“ steht. Und mit Patriarchen in der Staatskanzlei, allen voran der Rheinland-Pfälzer Bernhard Vogel. Mit der ersten Frau, Christine Lieberknecht, verlor die CDU das Regierungsamt.
Kann gut sein, dass eine Ministerpräsidentin gegen die Vorstellung vieler Thüringerinnen und Thüringer verstößt, wie ihr Land sein soll. Mit den angrenzenden Bayern und Sachsen, alle ununterbrochen männerregiert, bildet es unter den 16 Bundesländern die Trias der „Freistaaten“. Ein Titel, der praktisch nichts bedeutet. Aber emotional…
Und es darf ja niemand glauben, es zählten in diesem Wahlkampf die Fakten. Nicht einmal bei der Wahl. Und nicht einmal bei denen, die sich gern alleine daran halten würden. „Taktieren und Strategie - darum geht es doch“, sagt Ralf. Erfurt, sehr gute Wohngegend, der Tag hat bei Eva am Küchentisch begonnen, nun steht man zu dritt auf dem Gehsteig, ein zufälliges Treffen mit dem Nachbarn - und nach zwei Sätzen ist man bei der Politik.
„Wen muss man stärken, wen schwächen, wen blockieren, wen neutralisieren…?“ Wer wie Ralf Akademiker ist und gar als Psychotherapeut Seelen erkunden kann, mag daran Freude haben. Aber die meisten, mit denen man spricht, sind genervt.
Eva, die Zahnärztin, die jüngst ihre Praxis geschlossen hat, weil sich keine Nachfolge fand - „Gesundheit ohne Gewinnstreben“ plakatiert das BSW, als hätte Thüringen da auch nur ein My zu bestimmen - hat beim Frühstücken von „Verzweiflung“ über ihre Landsleute geredet: „Wer will, sucht Wege - wer nicht will, sucht Ausreden.“
Da ploppt eine Push-Nachricht auf dem Smartphone auf. „FAZ“-Schlagzeile: „Der Osten wird nie an das Westniveau herankommen“. Thema Wirtschaftsleistung, Interview mit dem Ökonom Joachim Ragnitz, Westdeutscher, der seit 30 Jahren in den jungen Ländern arbeitet und lehrt. „Warum machen die das!?“, stöhnt Eva. „Zehn Tage vor der Wahl! Die wissen doch, wem das in die Hände spielt!“
Sie weiß aber auch, dass die „FAZ“ in den jungen Ländern kaum gelesen wird - wie „Spiegel“ und „Zeit“ und überhaupt alle Zeitungen und Magazine, die in den alten erscheinen.
Weil die sich für die jungen halt auch nur selten interessieren und nie so wie jetzt für Thüringen, wohin gerade alle ihre Korrespondenten schicken. Und wenn - dann mit der Igitt-Attitüde. „Wie seid ihr denn drauf?“ nennt das Eva.
Wagenknecht wie Höcke zielen ins Gefühlszentrum; bei allen Auftritten und auf jedem Plakat geht es um „Heimat“.
Wagenknecht wie Höcke zielen ins Gefühlszentrum; bei allen Auftritten und auf jedem Plakat geht es um „Heimat“. Für Populisten und Extremisten der perfekte Support. Wagenknecht wie Höcke zielen ins Gefühlszentrum; bei allen Auftritten und auf jedem Plakat geht es um „Heimat“. Und zwar als Gegensatz zum Fremden - das im Westen der Republik beginnt. Von dort kommt die Bedrohung. Und, natürlich, aus Berlin.
Das Ressentiment ist leicht zu bedienen. Alle, mit denen man spricht, erleben es ja. Marja und Bernd haben diesmal den Spitzenreiter. Auf ihrer Wandertour durch Sizilien, gleich bei der Ankunft, im Bus in Catania, sagt die Reiseleiterin zum Ende ihrer Begrüßung: „Und ach, ist das schön - diesmal haben wir keine Ossis dabei!“
Anderentags auf dem Marktplatz in Waltershausen, man sitzt mit Michael Brychcy auf der Bank in der Nachmittagssonne. Brychcy war 34 Jahre Bürgermeister hier, jetzt will er in den Landtag. Er hat einen Ruf in Thüringen, nicht bloß, weil in seiner Kleinstadt eine Erfolgsgeschichte spielt fürs Thüringer Herz. Der Multicar - DDR-Pendant zum westdeutschen Unimog - rollt hier noch immer vom Band.
Brychcy ist auch bekannt, weil er sagt, was er denkt; im Zweifelsfall gegen seine Partei, die CDU. Zum West-Ost-Konflikt beispielsweise: „Hier gibt’s niemanden, der von Haus aus Vermögen hat. Die Leute fühlen sich benachteiligt. Wenn die dann hören, was aus Berlin kommt, dann sagen die: Das macht ihr nicht mit uns! Und wählen Protest.“
Brychcy hält nichts von der „Brandmauer“ der CDU zur AfD; unrealistisch, findet er, zumindest in der Kommunalpolitik. Deswegen landet er in West-Medien wie dem „Deutschlandfunk“. Deswegen hat er auch gute Chancen auf das Direktmandat. Kaum sitzt man mit ihm, steuern zwei auf ihn zu, die ihm „viel Erfolg“ wünschen - aber einer schiebt auch „Und weg mit den Rechtsradikalen!“ hinterher.
Brychcy glaubt nicht daran. „Freunde, Bekannte, sogar die Verwandtschaft“, erzählt er, sagten ihm: „Wir wählen dich - aber als Partei die AfD, da kannst du reden, wie du willst!“
Einmal über den Rennsteig hinweg Richtung Süden, trifft man in Schönbrunn Brychcys Parteifreund Thomas Müller, nach 30 Jahren als Landrat in Hildburghausen gerade dabei, sich an den Ruhestand zu gewöhnen. Bei der Kür seines Nachfolgers haben drei von zehn Tommy Frenck gewählt, einen Nazi ohne Neo davor. Müller zuckt mit den Schultern, wenn man ihn nach Gründen fragt. Nicht aus Desinteresse, aus Ratlosigkeit.
In Gotha hat Bernd gesagt, ihm fehlten die „klaren Worte“ der Politiker. Und: „Man muss den Leuten mehr Wahrheit zumuten.“ Hier sagt Müllers Frau Corinna, lange Rektorin der Berufsschulen im Kreis, sie erlebe auch eine Lust am Zündeln. Selbst in ihrem beruflichen Umfeld habe sie gehört: „Wenn der Höcke Ministerpräsident wird, dann könnt’ das richtig spannend werden.“ Thomas Müller sagt, natürlich habe „die Politik Fehler gemacht“ - und gibt zu, dass das sehr pauschal klingt.
Aber es ist, was auch Lilian und Rainer sagen, Journalisten alle beide, in Suhl, wo die AfD bei der Europawahl mit 31,1 die CDU um elf Prozent abgehängt hat; Ramelows Linke hat es auf 6,6 gebracht - bei der Landtagswahl vor fünf Jahren waren es 31. In Suhl steht die zentrale Erstaufnahmeeinrichtung des Landes für Migranten, mit entsprechenden Folgen wie mehr Kriminalität - aber reicht das als Erklärung?
Das Gespräch mäandert, es ist schon spätabends, am Tisch sitzt auch Nadja, beider Tochter, die längst in Wien lebt mit zwei Töchtern und sich sorgt wie ihre Eltern. In Thüringen ist es die AfD - in Österreich die FPÖ, vier Wochen nach dem Landtag hier wird dort der Nationalrat gewählt.
Von der rechten Gefahr jetzt kommt man zur linken Realität der DDR, Nadja erzählt, wie sehr sie „die ganze Propaganda beeinflusst“ hat als Kind und Jugendliche; 1989 war sie 13. Schon im Kindergarten gab es „den Stuhlkreis Politik“ - und von da ab „ging es dauernd um Bedrohung“. Aus dem Westen.
Und nach dem Fall von Mauer und Grenze? „Im Nachhinein weiß ich: Da war in mir eine große Unsicherheit der Welt gegenüber. Und eine massive Überforderung, mit Freiheit umzugehen.“
Thüringen, ist vielleicht das los mit dir?
Luxemburger Wort 1.9.2024
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