Im Winterberg-Klinikum operieren Chirurgen Bauchspeicheldrüsen mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI

Dec 30, 2023 18:17

Im Winterberg-Klinikum operieren Chirurgen Bauchspeicheldrüsen mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI).

Mithilfe spezieller Brillen können sich Chirurgen dreidimensionale freischwebende Aufnahmen von Organen anschauen. Bei der Operation kann das dreidimensionale Bild komplett oder teilweise auf das Organ, das operiert werden muss, projiziert werden. So kann der Chirurg zum Beispiel die Lage eines Tumors, seine Verbindungen zum Gefäßsystem und umliegende lebenswichtige Strukturen deutlich erkennen, was ihm sehr präzises Arbeiten ermöglicht. r

Von Martin Lindemann

SAARBRÜCKEN | Bei Operationen steht den Chirurgen immer öfter eine neue Assistentin zur Seite: die künstliche Intelligenz (KI). Am Saarbrücker Winterberg-Klinikum wird derzeit bei Bauchspeicheldrüsen-OPs erprobt und erforscht, ob die KI den Ärzten die Arbeit erleichtert und den Patienten Vorteile bringt. Bei der Operation trägt der Chirurg eine spezielle, computergesteuerte Brille, die ihm in 3-D-Bilder umgewandelte MRT-, CT- oder Röntgen-Aufnahmen von der Bauchspeicheldrüse und deren Umgebung in der Bauchhöhle des Patienten ins Blickfeld einspiegelt. Diese Bilder kann der Chirurg wahlweise per Sprach- oder Gestensteuerung exakt auf die echten Organe und Gefäße projizieren, um die es bei der Operation geht.

So kann der Chirurg zum Beispiel die Lage eines Tumors, seine Verbindungen zum Gefäßsystem und umliegende lebenswichtige Strukturen deutlich erkennen, was ihm sehr präzises Arbeiten ermöglicht. Tiefer im Organ liegende Gefäße, die fürs Auge unsichtbar sind, können durch die zusätzlichen Bilder sichtbar gemacht werden. Je nach Bedarf kann der Chirurg die projizierten Bilder jederzeit ein- oder ausblenden. Auf dem Winterberg hat Privatdozent Dr. Dr. Gregor Stavrou, Chefarzt der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie und Chirurgische Onkologie, einen Prototyp der speziellen Brille bereits mehrmals bei Operationen von Bauchspeicheldrüsen genutzt. Er sieht in dem System eine wertvolle Hilfe. „Ich kann individuell entscheiden, welche Zusatzinformationen ich sehen möchte und welche nicht, welche ich brauche und welche nicht. Es ist quasi wie die Karte eines Navigationssystems im Auto“, sagt Stavrou.

Das System zählt zur AR-Technologie. AR ist die Abkürzung von augmented reality. Das bedeutet im Deutschen erweiterte Realität, weil die eingeblendeten Bilder den Ärzten zusätzliche Informationen liefern. Entwickelt wurde es von Wissenschaftlern des Forschungsbereichs „Eingebettete Intelligenz“ am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) Kaiserslautern. Die Entwickler sind bei jeder AR-Operation auf dem Winterberg dabei, um seine Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit zu überprüfen und Erkenntnisse für Verbesserungen zu sammeln.

Stavrou bewertet das System als wertvolle Hilfe. „Es erleichtert uns bei Operationen maßgeblich, die richtigen Entscheidungen zu treffen.“ Zudem biete es die Möglichkeit, die Ausbildung junger Ärztinnen und Ärzte zu verbessern. Zuletzt haben der Chefarzt und sein Team die AR-Technologie bei einer komplexen Operation eingesetzt, in der einer 82-jährigen Patientin wegen eines bösartigen Tumors Teile der Bauchspeicheldrüse entfernt werden mussten. Bei dieser sogenannten Pankreaslinksresektion musste eine Hauptschlagader umgeleitet werden. Die Operation erwies sich als sehr anspruchsvoll, weil der Tumor im Hinblick auf die Gefäßen, die Milz und Darm versorgen, sehr ungünstig lag. Durch die Unterstützung des AR-Systems sei es problemlos gelungen, den Tumor zu operieren, ohne die Milz entfernen zu müssen und ohne die Gefäße im Umfeld zu schädigen, sagt der Chefarzt.

„Die Möglichkeit, die komplexe Anatomie der Organe übersichtlicher darstellen zu können und dadurch vor allem bei schwierigen Fällen das Risiko für Komplikationen oder schlicht Fehler zu minimieren, hat uns bewogen, diese Studie gemeinsam mit dem DFKI durchzuführen“, sagt Stavrou. Bereits bei der Vorbereitung auf die OP sei die AR extrem hilfreich. „Der Chirurg kann sich am OP-Tisch jederzeit wertvolle zusätzliche Informationen einblenden lassen, zum Beispiel aktuelle CT-Bilder. Beim Operieren lassen sich die anatomischen Strukturen, die bei jedem Patienten individuell sind, schneller erfassen, sicherer freilegen und operieren. Dies nimmt eine gute Portion Stress.“

Das AR-System werde sich auch in der Ausbildung des Ärzte-Nachwuchses durchsetzen. „Es ist vielfältig einsetzbar und bietet große Vorteile. Zum Beispiel lernen junge Ärzte damit viel einfacher, bei einer Operation anatomische Strukturen zu präparieren, also freizulegen“, erklärt Stavrou. Er muss allerdings einräumen, dass das System noch nicht perfekt funktioniert. „Daran arbeiten wir. So, wie es jetzt läuft, ist es schon ein echter Fortschritt.“

Nicht nur für die Chirurgen im OP, auch für die Wissenschaftler des DFKI ist die Studie interessant. Durch die Kooperation mit dem Klinikum können sie sehen, was ihre AR-Technologie bei echten Operationen taugt. Nach jedem Einsatz besprechen die Wissenschaftler mit den Ärzten die Ergebnisse. Jede neue Erkenntnis könnte helfen, das AR-System noch zu verbessern. „Solche Einblicke in die Praxis sind für uns von unschätzbarem Wert“, sagt Projektleiterin Hamraz Javaheri, wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFKI. Sie hat das Assistenzsystem maßgeblich mit entwickelt und ist bei jeder OP dabei. Eine optimierte Version des Systems soll schon bald in neuen klinischen Studien erprobt und bewertet werden.

Die Studie auf dem Winterberg läuft im Rahmen eines von der Europäischen Union geförderten Projektes, das HumanE-AI-Net genannt wird. Dabei arbeiten Spitzenforschungszentren, Universitäten und namhafte Industrieunternehmen zusammen, um Programme und Systeme, die auf Künstlicher Intelligenz basieren, zu entwickeln, die unter strengen ethischen Aspekten für den Menschen nützlich sind. Zudem soll mit dem Projekt die Position Europas im globalen Wettbewerb gestärkt werden.

Saarbrücker Zeitung 28.12.2023

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