100 Jahre „Ich und Du“ von Martin Buber Stephan Grätzel 1923 erschien Martin Bubers Hauptwerk Ic

Aug 10, 2023 14:57

100 Jahre „Ich und Du“ von Martin Buber

Stephan Grätzel

1923 erschien Martin Bubers Hauptwerk Ich und Du. 100 Jahre nach Veröffentlichung, in Zeiten von Desinformation und Missverständnissen, gilt es diesen Denker des Dialogischen wiederzuentdecken, meint Stephan Grätzel.

Wer in den Einführungswerken zur Philosophie des 20. Jahrhunderts nach dem Philosophen Martin Buber sowie dessen Hauptwerk Ich und Du Ausschau hält, wird höchstens kleinere Einträge finden und manchmal sogar vergeblich suchen. Eine Tatsache, die durchaus erstaunen kann, muss das Werk doch sonst zu den einflussreichsten Büchern des Jahrhunderts gezählt werden. Der Grund für die Ignoranz mag in der Unvermitteltheit liegen, mit der Buber seine Thesen gleichsam wie ein Orakel präsentiert. Doch könnte das auch Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus vorgehalten werden, der sehr wohl breite Erwähnung in derartigen Werken findet, zumal beide Bücher mit den Worten: „Die Welt ist …“ beginnen.

Auch vom Stil her ähneln sie sich. Bubers Ich und Du müsste dann aber als Gegendarstellung zum Traktat gelesen werden, denn für Buber ist die Welt „zwiefältig“, also nicht die „Gesamtheit der Tatsachen“, wie es bei Wittgenstein heißt. Tatsachen sind für Buber der Erfahrung zuzuordnen und damit bereits Abwandlungen einer Begegnung von Ich und Du, die jeder Erfahrung vorausgeht. Die Zwiefältigkeit der Welt liegt demnach in ihrer Erscheinung als Begegnung und Erfahrung. Bubers Ich und Du basiert nicht einseitig auf der „Logik der Tatsachen“, sondern auf einer ‚Logik der Beziehungen‘, die von der Begegnung ausgeht. Doch bleibt trotz dieses Gegensatzes zu Wittgenstein auch eine tiefere Gemeinsamkeit, wenn man Wittgensteins Bemerkungen zum „Mystischen“ am Ende seines Traktats als „Überwinden“ und Verlassen des logischen Weges versteht.

Differenzierung und Bewertung der Logik sind also maßgeblich für ein philosophisches Verständnis von Bubers Werk. Während die klassische Logik nur zwischen wahr/falsch oder 0/1 differenziert und auf den drei Säulen der Identität, des Satzes vom Widerspruch und des ausgeschlossenen Dritten aufruht, geht die Logik der Beziehung auf das „dialogische Prinzip“ Bubers zurück, bei dem das Du einbeschlossen wird. Das Du ist dabei nicht auf eine Person reduzierbar, da das Ich immer auch Du ist, sowohl für den Anderen, aber auch für sich selbst. Logisch ist so etwas nur mit einer mehrwertigen Logik zu entschlüsseln, die Buber aber noch nicht kennen konnte. Doch selbst dann, wenn er sie gekannt hätte, wäre er wohl nicht darauf eingegangen, da sein dialogisches Prinzip eine Logik der Beziehungen vorstellt, die allein aus dem Zwischen der „Begegnung“ heraus verstanden werden kann. Die Begegnung ist eine Beziehung, die in erster Linie zwischen den Menschen stattfindet und nicht von einer Seite aus bestimmbar ist.

Der Kern des dialogischen Prinzips liegt damit in der Begegnung von Ich und Du. Begegnungen finden aber nicht nur zwischen Menschen statt, sondern zwischen allen Lebewesen in der Natur. Buber hat das an der Begegnung mit einem Baum exemplifiziert. Wenn er noch nicht versachlicht ist, begegnet mir der Baum zunächst als Du. Aber aus Du muss Es werden, wie Buber darlegt. Die Du-Beziehung zu dem Baum ist also nur für eine kurze Zeit gewährleistet. Sie zerlegt sich oder „zerscheidet“ uns, wie Buber es nennt, in Ich und Es, sobald der Baum nur noch als Gegenstand erfahren und behandelt wird. Wie das genau geschieht, bleibt bei Buber im Dunkeln. Er deutet aber an, dass sich das Ich zum „Träger“ der Empfindung hervorhebt, indem es erklärt, dass „ich den Baum sehe“. Durch diese Reflexion wird aus einer Begegnung eine Erfahrung. Die Erfahrung drückt für Buber die besagte „Zwiefältigkeit“ aus, die unsere Beziehung zur Welt kennzeichnet. Sie hat nun neben dem intimen auch einen sachlichen Charakter. Fast beiläufig wird die Erfahrung als ein Leben in der Vergangenheit ausgewiesen. Wenn wir auf sachliche Weise Gegenstände erfahren, leben wir also in der Vergangenheit. Sie wird dem Es zugerechnet, und sie ist auch wichtig. „Ohne Es kann der Mensch nicht leben“. Aber sie darf nicht ausschließlich vorherrschen, da wir sonst keine Gegenwart mehr erleben. Wichtig ist deshalb Bubers Zusatz, dass „aus Es wieder Du werden kann“. Auch in seiner Es-Form bleibt die Du-Beziehung erhalten, allerdings auf indirekte Weise. Das Es drückt eine distanzierte Beziehung als Stellvertretung des Du aus. Deshalb bleibt auch in der Zerscheidung von Ich-Es die Intimität der Du-Beziehung erhalten.

In der Wiederherstellung des Du liegt auch das Geheimnis des „ewigen Du“ mit dem sich Buber im dritten Teile seines Werkes beschäftigt. Gerade dieser Punkt befremdet Leserinnen und Leser bis heute, weil Buber hier scheinbar eine theologische Richtung einschlägt. Jedoch kann und sollte das „ewige Du“ atheistisch verstanden werden, weil es als „Gott“ auch nur in der Es-Form erscheint und damit ein Es darstellt. Dagegen umgibt uns das „ewige Du“ überall und leuchtet auch in den Augen eines Tieres, etwa einer „Hauskatze“ auf. In diesen Begegnungen erfahren wir die innige Verbindung mit der Natur, die uns im binären Gegensatz von Ich und Welt abhandengekommen ist. So wird gerade das „ewige Du“ als Grundlage der Verwandlungen und der „Verpuppung“ von Ich und Es zur Gewährleistung von Begegnungen.

Im Jahre 1923 erscheint auch Sigmund Freuds Buch Das Ich und das Es, in dem das Es den Begriffe des „Unbewussten“ ersetzt. Freud baut hier seine Topologie der Seele zu den bekannten drei Instanzen: Ich, Über-Ich und Es aus. Interessant ist die Genese, die Freud hierzu nachzeichnet: „Zu Uranfang ist alle Libido im Es angehäuft, während das Ich noch in der Bildung begriffen oder schwächlich ist.“ In seiner neuen Folge seiner Vorlesungen prägt er dann den berühmt gewordenen Satz: „Wo Es war, soll Ich werden.“ Diese Entwicklung vollzieht sich ohne Begegnung und ist vollständig in das Innere des Ich verlegt.

Auch bei Freud stellt das Es die Vergangenheit dar, allerdings geht er nicht von einem ursprünglich zugrundeliegendem Du aus. Das Es wird vielmehr dem Leib und seiner Entwicklung zugeordnet und damit immer schon als Objekt verstanden. Sigmund Freud hatte, wie er selbst schreibt, dieses Konzept von Georg Groddeck und dessen ebenfalls 1923 erschienenem Hauptwerk Das Buch vom Es übernommen. Im Unterschied zu Freud stattet Groddeck aber das Es von Anfang an mit personaler Kompetenz aus, wie sie nur ein Ich haben kann. Für ihn wäre deshalb eine Entwicklung vom Es zum Ich sinnlos.

Beiden Ansätzen fehlt aber die entscheidende und nur von Martin Buber erkannte Notwendigkeit eines Du-Bezuges vor allem Ich und Es. Ich und Es können erst nach einer Begegnung aus dem Du heraus entstehen, sie sind nicht von Geburt aus gegeben. Diese Begegnung ist dialogisch. Eine ego- und logozentrische Sichtweise, wie sie bei Freud vorliegt, bleibt also blind für Beziehungen und ihre Genese. Die 100 Jahre nach dem Erscheinen von Martin Bubers Ich und Du haben hieran wenig geändert. Es wäre deshalb gut, wenn er und sein Buch in der Philosophie hoffähiger würden. Aber auch in den sozialen und psychologischen Fächern sollte er noch gründlicher studiert werden. Das Buch ist aktueller denn je, sehen wir doch neben dem immer weiter schwindenden Bezug zur Natur gerade das Problem der künstlichen Sprachen durch KI als Bedrohungen heraufkommen. Natur und Sprache gehen dabei nicht mehr aus einer Begegnung hervor, also dem Anfang von Beziehungen. Demgegenüber kann Buber uns heute noch auf diese Anfänge zurückführen, auch wenn es erst der Beginn eines dialogischen Denkens ist. •

Philosophie magazin am 25 Juli 2023

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