Oct 31, 2021 21:04
Jeff Bezos' Pläne für eine private Raumstation »Niemand hat richtig begriffen, was da los ist«
Noch vor Ende des Jahrzehnts soll die kommerzielle Raumstation »Orbital Reef« die Erde umkreisen, mit Hotelmodulen und »Annehmlichkeiten von Weltklasse«. Geben in Zukunft Milliardäre statt Staaten den Kurs der Raumfahrt vor?
Von Viola Kiel
Der reichste Mann der Welt hat ein neues Projekt: eine Raumstation. Blue Origin, das Raumfahrtunternehmen des Multimilliardärs Jeff Bezos, hat am Montag bekannt gegeben, gemeinsam mit mehreren Partnern eine kommerzielle Station zu bauen - die »Orbital Reef«. Ein Riff, ein blühendes Ökosystem, das Leben im All möglich macht, ausgerechnet vom Turbokapitalisten Bezos?
Ähnlich hochtrabend wie dieser Name sind die Versprechungen, die in der gemeinsamen Mitteilung von Blue Origin und dem Unternehmen Sierra Space gemacht werden: »Die Station wird das nächste Kapitel der Erforschung und Entwicklung des Weltraums durch den Menschen aufschlagen, indem sie das Wachstum eines dynamischen Ökosystems und Geschäftsmodells für die Zukunft ermöglicht«, heißt es darin.
Viel konkreter wurde es nicht. Bislang haben Blue Origin und Sierra Space nur einige computeranimierte Bilder und eine grobe Aufgabenverteilung vorgelegt: Blue Origin wolle die Versorgung der Station garantieren, ein Kernmodul stellen und den Transport mit wiederverwendbaren Schwerlastraketen gewährleisten. Sierra Space soll ein Knotenmodul beisteuern. Mit von der Partie sind außerdem Boeing, Redwire Space, Genesis Engineering Solutions und die Arizona State University.
Daran, dass es möglich ist, eine kommerzielle Raumstation innerhalb der nächsten Jahre aufzubauen, zweifelt derzeit kaum jemand. Denn: Hinter Blue Origin steht mit Bezos ein Förderer mit nahezu unbegrenzten finanziellen Mitteln.
Noch in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts soll das »Orbital Reef« in der Erdumlaufbahn den Betrieb aufnehmen. Wenn man den Ankündigungen glaubt, soll es Kundinnen und Kunden aus Forschung und Industrie ebenso zur Verfügung stehen wie Privatpersonen. »Erfahrene Raumfahrtagenturen, Hightech-Konsortien, souveräne Nationen ohne Raumfahrtprogramme, Medien- und Reiseunternehmen, finanzierte Unternehmer und geförderte Erfinder sowie zukunftsorientierte Investoren haben alle einen Platz im Orbital Reef«, hieß es von den Unternehmen weiter. Geboten würden »Annehmlichkeiten von Weltklasse«.
Braucht die Menschheit das wirklich? »Grundsätzlich begrüße ich jede weitere Säule der bemannten Raumfahrt«, sagt Reinhold Ewald dem SPIEGEL am Telefon. Ewald ist Professor im Fachgebiet Astronautik und Raumstationen am Institut für Raumfahrtsysteme der Universität Stuttgart. Er arbeitete mehrere Jahre für die Esa und war bereits selbst im All: 1997 verbrachte er 18 Tage auf der russischen Raumstation »Mir«.
Die Inbetriebnahme einer neuen Raumstation könne der Wissenschaft dienen, meint er - in zwei Bereichen: »Forschung, die uns Erkenntnisse für den weiteren Gang der Raumfahrt liefert, und Forschung, die Erkenntnisse für die Erde bringt, gehen immer Hand in Hand.« Es sei eine Chance, irdisch noch nicht gelöste Probleme auf einer Raumstation zu untersuchen und bestenfalls zu lösen. Ewald nennt das Beispiel geschlossener Kreisläufe: Auf der ISS wird zum Beispiel versucht, Wasser zu recyclen - denn Wasser muss man von der Erde mitbringen und das ist aufwendig und teuer. Sauberes Wasser wird aus dem Urin der Besatzung gewonnen, der aufgefangen und aufbereitet wird, aber auch aus kondensierter Feuchtigkeit, die in die Umgebungsluft innerhalb der Station geatmet oder geschwitzt wurde. Insgesamt liegt die »Gesamtwasserrückgewinnung« laut Nasa aktuell bei 93,5 Prozent. Wenn dieses System weiter verbessert würde, könnte man davon zweifellos auch auf der Erde profitieren.
Auch die Mikrogravitation - die annähernde Schwerelosigkeit, die auf einer Raumstation herrscht - bietet ein für viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler reizvolles Forschungsumfeld. Wirklich schwerelos ist ein Körper in einer Raumstation nämlich nicht: In der üblichen Höhe einer solchen Station wirkt noch rund 90 Prozent der Erdanziehungskraft. Und auch sonst ist der Weltraum nicht frei von Schwerkraft: Sie hält den Mond in seiner Umlaufbahn um die Erde. Sie sorgt auch dafür, dass die Erde die Sonne umkreist.
Astronautinnen und Astronauten spüren die Schwerkraft nicht und fühlen sich entsprechend schwerelos. Denn: Sie befinden sich quasi im freien Fall, aber alles um sie herum, das eine Masse hat, fällt mit derselben Geschwindigkeit. Raumstation und Besatzung fallen auf die Erde zu und - wegen der Fliehkraft - um die Erde herum. Deshalb entsteht der Eindruck, dass Menschen schwerelos in einer Raumstation schweben können. Diese besonderen Bedingungen der Mikrogravitation wirken sich zum Beispiel auf die menschliche Gesundheit aus.
Sind Bezos' Pläne also ein Segen für die Wissenschaft? »Ich habe Zweifel, ob es genug Bedarf an Experimenten auf drei oder mehr Raumstationen gibt«, sagt Ewald. Es ist teuer, einen Versuchsaufbau so vorzubereiten, dass das Experiment an Bord einer Raumstation durchgeführt werden kann. Vor allem aber ist es teuer, das Versuchsmaterial ins All zu schicken. Es könnte also sein, dass es aus diesem Grunde nicht genug Experimente gibt, mit denen man die verschiedenen Raumstationen auslasten könnte. Wenn allerdings häufiger Flüge ins All durchgeführt werden, würde auch der Preis für den Transport von Versuchsmaterial sinken.
Das ist auch für Wissenschaftler wie Tino Schmiel relevant. Er ist Raumfahrtingenieur und leitet das Forschungsfeld Satellitensysteme und Weltraumwissenschaften an der Technischen Universität in Dresden. Der deutsche Astronaut Matthias Maurer, der am 31. Oktober zur ISS startet, wird zum Beispiel ein medizinisches Gerät für den Gesundheitscheck testen, das an der TU Dresden entwickelt worden ist - eines von mehr als 100 Experimenten, das Maurer während der Mission »Cosmic Kiss« durchführen wird.
»Am ›Orbital Reef‹ soll es Andockmöglichkeiten für wissenschaftliche Module geben und für Hotelmodule. Das klingt erst einmal toll, weil es der Forschung neue Experimentierplattformen bietet«, sagt Schmiel. Er spricht am Telefon mit dem SPIEGEL auch über die Zugänglichkeit der Raumfahrt. Als »Paradebeispiel« in dieser Hinsicht beschreibt er die Arbeit in der ISS.
Die allerdings wird von Raumfahrtagenturen betrieben, der Nasa, der Esa und den Weltraumbehörden Russlands, Japans und Kanadas. Wie sichern sich diese Agenturen den Zugang zu einer privat finanzierten, kommerziellen Raumstation? »Die Nasa sichert sich den Zugang durch Förderung«, sagt Schmiel. Die US-Behörde plant, private Raumfahrtunternehmen mit einer Summe von 400 Millionen US-Dollar zu unterstützen. »In Europa könnte man sich überlegen, ob sich nicht auch ein Konsortium zusammenfindet und mit einem eigenen Modul andockt« - ähnlich wie mit dem Columbus-Labormodul an der ISS.
Die »Orbital Reef« wird nicht die einzige Raumstation sein, die zum Ende des Jahrzehnts durch den Orbit schwirrt. Die ISS wird dann vermutlich in den Ruhestand versetzt worden sein: Der aktuelle Kooperationsvertrag für ihren Betrieb läuft 2024 aus, als technisch möglich gilt der Weiterbetrieb noch bis 2030. Die Raumstation ist in die Jahre gekommen: Immer wieder entdecken Besatzungsmitglieder Risse und Lecks in der Station, im Juli war es durch einen Softwarefehler zu Schwierigkeiten beim Andocken eines Moduls gekommen, Triebwerke feuerten versehentlich, der Kontakt zur Crew brach zwischenzeitig ab.
Aber schon jetzt entsteht im All eine neue Raumstation, unter der Führung Chinas. Die »Tiangong« soll bereits 2022 fertiggestellt werden. Ähnliche Pläne verfolgt Russland. Und auch aus Indien gab es schon Berichte, dass die staatliche Raumfahrtagentur eine eigene indische Raumstation errichten wolle.
Nun drängen zusätzlich private Firmen in den Orbit. Welche Konsequenzen hat das für die internationale Raumfahrt? »Der niedrige Erdorbit wird zukünftig immer mehr Teil der irdischen Ökonomie«, sagte Volker Schmid, der als Missionsleiter beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) die »Cosmic Kiss«-Mission betreut, dem SPIEGEL. »In den USA ist viel mehr Dynamik im System, viel mehr Unternehmergeist. Europa müsste hier aufschließen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Allerdings ist es in den USA auch einfacher, denn die müssen sich nicht mit anderen Mitgliedstaaten abstimmen.«
Auch Didier Schmitt, der strategische Leiter im Esa-Direktorat für robotische und astronautische Exploration, sieht große Veränderungen in der Raumfahrt. Die US-amerikanische Behörde habe ihren Weg längst gewählt: »Die Nasa will nach der ISS keine eigene Raumstation mehr bauen. Und ich befürchte sehr, dass wir in Europa das Geld nicht zusammenkriegen, um eine eigene, nur kleine Raumstation zu bauen.«
Die Esa verfüge bei Weitem nicht über dieselben Mittel wie die Nasa, sagt Schmitt: Ihr Budget betrage weniger als ein Zehntel der Summe, die der Nasa jährlich zur Verfügung steht.
Wie wird die Raumfahrt der Zukunft also aussehen? Eine staatliche Agentur werde die Industrie als Dienstleister bezahlen, prognostiziert Schmitt - für eine bestimmte Menge an Material für Experimente und für den Transport und die Verpflegung einer bestimmten Anzahl an Astronautinnen und Astronauten. »Wir bezahlen nur, was wir brauchen.« Selbstverständlich könnten die Firmen dann auch kommerzielle Angebote, wie Weltraumhotelzimmer, einschließen. »Das ist dann nicht unsere Sache«.
Deshalb werde auch die Esa künftig mit europäischen Privatunternehmen verhandeln, kooperieren und im besten Fall Verträge schließen, die der europäischen Raumfahrtagentur über einen gewissen Zeitraum Zugang zu einem Nachfolger der ISS garantieren. »Wir haben keine andere Wahl«, sagt Schmitt.
Und betont im Gespräch mit dem SPIEGEL die Wucht dieser Veränderung: »Niemand hat richtig begriffen, was da los ist. Die neuen Raumstationen werden nicht mehr von einer Agentur betrieben. Die Nasa wird nicht mehr die Besitzerin sein. Das ist eine Revolution.«
Es ist nicht mehr als eine Ankündigung, die Blue Origin am Montag verbreitet hat. Aber es ist eine weitere Ankündigung davon, dass in der Raumfahrt eine neue Epoche angebrochen ist - eine Epoche, in der die Entscheidungsgewalt im Weltraum nicht mehr bei staatlichen Raumfahrtagenturen liegt, sondern bei privaten Firmen. In der Hand von Multimilliardären.
Europa und Deutschland müssten sich mit der Frage befassen, in welcher Form sie an der Raumfahrt künftig beteiligt sein wollen, meint dazu der Raumfahrtmanager Schmid vom DLR. »Denken Sie an den Mond«, sagt er. »Machen wir da mit? Ich finde, das wäre der nächste logische Schritt.«
Und das ist nur eine der Fragen, die die Weltgemeinschaft beantworten muss, wenn die Zahl ihrer Außenposten in den kommenden Jahren zunimmt. Der Raumfahrer Reinhold Ewald äußert sich zuversichtlich, dass sie dazu in der Lage ist: »Ich habe bisher den Eindruck: Alle sind bemüht, Sinnvolles zu tun. In der Gesamtbilanz lohnt sich das für die Menschheit.«
Spiegel Online 29.10.2021
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