Oct 01, 2020 10:17
Ihr seid doch noch schlimmer
Anhänger politischer Parteien reagieren auf Fehltritte der eigenen Leute oft mit stärkerer Ablehnung der Gegenseite. Das schützt das Selbstbild - und verstärkt die Polarisierung
Von Sebastian Herrmann
Es kostet Kraft, sich dauerhaft mit den täglichen Fehltritten politischer Figuren zu beschäftigen. Irgendeine öffentliche Person produziert ja immer einen Aufreger, über den die Öffentlichkeit dann empörungshungrig herfällt. Ob nun ein Möchtegern-Parteivorsitzender etwas Dummes sagt oder ein amtierender Parteivorsitzender einen unpassenden Witz raushaut, die täglichen Skandale geben einander die Klinke in die Hand.
Manche politische Figuren leisten sich sogar mit verblüffender Regelmäßigkeit Dinge, die einem die Kinnlade nach unten klappen lassen. Unbestrittener Großmeister dieser Kategorie ist US-Präsident Donald Trump, dessen Fehltritte, Provokationen und ungereimte Äußerungen so zahlreich sind, dass der Überblick längst verloren gegangen ist. Jedes Mal denkt der Beobachter: „Diesmal bleibt es an ihm kleben, diesmal wenden sich seine Anhänger von ihm ab!“ Jedoch, es geschieht nicht, seine Basis bleibt ihm weitgehend treu.
Warum das so sein könnte, warum er trotz unzähliger Skandale weiterhin Unterstützung genießt, dafür liefern nun die Psychologen Zachary Rothschild und Julianna Hauri vom Bowdoin College sowie Lucas Keefer von der University of Southern Mississippi Hinweise. Wie sie im Fachjournal Political Psychology berichten, steigern die Verfehlungen der eigenen Partei, Ablehnung oder gar Hass auf die politische Gegenseite.
Dahinter stecke der dringende Wunsch des Menschen, eine positive Identität aufrechtzuerhalten und sich als Teil einer wertvollen Gruppe zu begreifen. Wenn dann eine prominente Figur der eigenen Seite Mist baut, dann wirkt dies als Angriff auf die kollektive moralische Integrität und bedroht das positive Selbstbild deren Anhänger.
Statt dann den Übeltäter aus den eigenen Reihen zu verbannen, weckt dessen Fehltritt einen anderen Reflex: Man bewirft die Gegenseite mit Schmutz, um diese schlecht zu machen. Wenn die anderen noch übler sind, dann ist die eigene Seite ja doch gar nicht so schlecht, nicht wahr? Es ist eine Art politisch-moralische Relativität: Man versichert sich seiner eigenen Tugend, indem man die anderen zu den deutlich übleren Halunken ernennt. Im Vergleich sieht man dann selbst - vermeintlich - gar nicht mehr so schlecht aus.
In den USA, wo die Studie der Forscher um Rothschild durchgeführt wurde, stehen sich die Anhänger der beiden großen Parteien zunehmend feindselig gegenüber. Laut einer Studie des Pew Research Centers hatten 91 Prozent der Republikaner und 86 Prozent der Demokraten eine schlechte Meinung über die Gegenseite. 47 Prozent der Republikaner und 35 Prozent der Demokraten betrachteten die Anhänger der jeweils anderen Partei als unmoralisch. Und das war, dies muss betont werden, im Jahr 2016, bevor Donald Trump Präsident wurde, bevor beide Parteien noch tiefer in den Giftschrank der politischen Polarisierung griffen als zuvor. Auch ohne neuere Zahlen ist klar: Die Gräben sind heute tiefer als noch 2016, die Verachtung der Gegenseite ist noch stärker geworden.
Das Informationsmilieu in den USA - und vermutlich auch anderswo - heizt diese Tendenzen an. „Die Anhänger beider Seiten konsumieren vor allem Nachrichten, in denen die eigene Seite als die Guten und die Gegenseite als die Bösen dargestellt werden“, schreiben die Psychologen um Rothschild. Für alle Beteiligten gibt es ausreichend Schmutz, den sie werfen können: Studien haben gezeigt, dass die politische Berichterstattung sich in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend auf negative Inhalte eingeschossen hat. Skandale und andere schlechte Nachrichten erzeugen eben deutlich mehr Aufmerksamkeit, werden besser erinnert und wirken zudem glaubwürdiger. An Munition herrscht also kein Mangel.
Unter den Anhängern der kritisierten Personen und Parteien entsteht dadurch jedoch ein identitätsgetriebener Rechtfertigungsdruck, der dann womöglich als weitere treibende Kraft politischer Polarisierung wirke, so die Autoren. In drei Experimenten mit mehreren Hundert Teilnehmern sammelten die Wissenschaftler dafür Hinweise. So wurden den Probanden Informationen über Fehltritte von Politkern vorgelegt, die dann bewertet werden mussten - dabei ging es zum Beispiel um finanzielle Verstrickungen mit der Pharmaindustrie und dadurch beeinflusstes Abstimmungsverhalten.
Handelte es sich um Figuren der eigenen Partei, steigerte dies die Wut auf die Gegenseite - und zwar nicht nur auf einzelne Personen. Stattdessen neigten die Probanden dazu, gleich sämtliche Anhänger zu verteufeln. Dieser Effekt stellte sich unabhängig davon ein, ob hier Anhänger der Demokraten oder Republikaner schäumten. Auch die Tiefe der Verbundenheit zur eigenen Partei spielte keine Rolle. Auf die Gegenseite zu dreschen hat also nichts mit Ideologie und sehr viel mit Emotionen sowie psychologischem Selbstschutz zu tun.
Andere Studien haben in der Vergangenheit bereits gezeigt, was jeder Nutzer der sozialen Medien täglich erlebt. Verfehlungen der Gegenseite werden auf das Schärfste gegeißelt. Aber wenn sich Vertreter des eigenen Lagers den genau gleichen Fehltritt leisten? Dann wird mit den Achseln gezuckt, war doch nicht schlimm, kann man gar nicht vergleichen, hier gelten andere Regeln! Forscher um den Politikwissenschaftler Michael Meffert von der Universität Leiden haben sogar einmal festgestellt, dass negative Nachrichten Politikern nutzen können. Schlechte Nachrichten verstärkten die Unterstützung für einzelne Politiker, sofern man diese zuvor ohnehin schon ganz gut fand. Angriffe und auch berechtigte Kritik können dafür sorgen, dass ein Skandalpolitiker erst recht von seinen Anhängern gefeiert wird.
Vertiefen also alle Seiten ihre ideologischen Schützengräben, bis es irgendwann ganz gewaltig knallt? „Um politische Harmonie zu erlangen, müsste sich vermutlich die soziale Identifikation vieler Menschen verändern“, sagen die Psychologen um Rothschild. Aber das geschehe ohnehin gerade: Immer mehr Menschen in den USA würden sich selbst als Unabhängige begreifen, angewidert von den beiden großen Parteien, denen sie bei Wahlen zwar noch ihre Stimme geben, aber ohne sich dabei noch tief mit ihnen zu identifizieren. Diese veränderte Selbstidentifikation könne befriedend wirken, so die Psychologen: Man ist nicht mehr mit dem Herzen dabei, aber die Inhalte sind einem noch wichtig. Unter diesen Umständen kann man einen Fehltritt als das, was er ist, bezeichnen: ein Fehltritt. Denn dann fällt dieser nicht auf das eigene Selbstbild zurück.
Süddeutsche 1.10.2020
politik,
psychologie