Adventskalenderstory 2015: Der Dieb im Rosengarten (Torchwood, pg12, Romanze, het & slash)

Dec 12, 2015 12:59



Es entging Jack nicht, dass Owen dieser Vorschlag nicht besonders zu gefallen schien. Tosh hatte offenbar einen nachhaltigen Eindruck bei Doktor Harper hinterlassen. Bei der nächsten Gelegenheit musste er seine Freundin danach fragen. Schon beim Tee am Vortag verbrachte er mehr Zeit damit, sich mit ihr zu unterhalten, als mit Jack. Überhaupt waren noch sehr wenige Worte darüber gefallen, wieso sie eigentlich hier waren, nämlich Harpers Kunstsammlung. Eigentlich war das Jack gar nicht so unrecht. Es bedeutete, sie konnten länger hier bleiben und er hatte mehr Gelegenheiten, Ianto Jones kennen zu lernen…

Und so, während er die richtigen Antworten gab und amüsante Anekdoten über berühmte Künstler und Kunstwerke erzählte, grübelte Jack darüber nach, warum ihn plötzlich der Coup viel weniger interessierte als ein gewisser Waliser…

***

Jack hatte beschlossen, dass es endlich an der Zeit war, sich an die Arbeit zu machen. Immerhin befanden sie sich schon den dritten Tag in Maenor Llyswennod. Zwar hatte er den ganzen vergangenen Tag damit verbracht, sich von Owen Harper dessen Sammlung zeigen zu lassen, aber es war etwas auffällig, sich in der Gegenwart des Hausherrn zu sehr für die Sicherheitseinrichtungen zu interessieren. Abgesehen davon geizte Harper nicht mit Informationen. Er schien die Biographie jedes einzelnen Bildes bis ins letzte Detail auswendig zu kennen. Ehrlich gesagt, wunderte es Jack, dass Haper ihm die Story abnahm, dass er Artikel darüber schreiben wollte. Owen könnte vermutlich selbst ganze Bücher über seine Sammlung schreiben.

Und die Gelegenheit, sich ungestört umzusehen, schien dazu heute besonders günstig.

Grant hatte beim Frühstück beiläufig erwähnt, dass er nach Cardiff fuhr, um einige Dinge zu regeln, die sich nicht per Telefon oder online erledigen ließen. Ianto Jones sah von den Briefen auf, die er um seinen Teller ausgebreitet hatte und schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln, bevor er sich an den Assistenten seines Bruders wandte und ihn bat, ihn auf dem Weg dorthin mit in den nächsten Ort zu nehmen. Owen Harper - der wieder neben Tosh saß, wie bei allen bisher gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten - machte eine spöttische Bemerkung darüber, ob er Kalbskopfgelee und Lebertran unter den Armen und Kranken zu verteilen gedenke, die Ianto allerdings ignorierte.

Auf Jacks Frage, ob er immer so früh mit der Arbeit anfangen würde, antwortete der Waliser nur, dass er heute einen engen Terminplan hätte, da eine seiner Kolleginnen sich krank gemeldet habe. Jack nahm das als Hinweis, ihn nicht weiter zu stören und ging, um sich einen Kaffee zu holen und zu sehen, was es heute zum Frühstück gab.

Offensichtlich hatte Ianto gegenüber seinem Stiefbruder nichts von Jacks Fehleinschätzung während der Teegesellschaft erzählt. Zumindest war Jack sich ziemlich sicher, dass sie dann längst nicht mehr hier sein würden. Allerdings waren die Kopien wirklich ausgezeichnet - auf seine Art war Jack schließlich der Kunstexperte, der er vorgab zu sein - auch wenn der Waliser so abschätzend darüber gesprochen hatte.

Er versuchte zwischen Rührei und gebuttertem Toast ein Gespräch mit Ianto anzuknüpfen, aber es war Grant, der antwortete. Unter anderen Umständen hätte Jack das ausgenutzt und versucht mit Harpers Assistent zu flirten - es war eine Möglichkeit an Informationen zu kommen, auf die er sonst keinen Zugriff hatte und vielleicht war ja Grant auch an ein bisschen mehr als nur Reden interessiert. Aber er war sich des leicht spöttischen Ausdrucks in den graublauen Augen bewusst, die dann und wann von ihrer Lektüre auf- und ihn anblickten.

Jack entschuldigte sich, um seine Kaffeetasse aufzufüllen und beobachtete den dunkelhaarigen Mann, der sich über seine Post beugte. In der einen Hand vergessen einen Kaffeelöffel, mit dem er gedankenverloren wippte. In der anderen einen Kugelschreiber, mit dem er gelegentlich eine Notiz in einem herrlich altmodischen Notizbuch machte.

Was machte Ianto Jones so besonders, dass Jack kaum noch an etwas anderes denken konnte, als an ihn? Es war bisher nur sehr wenigen Menschen gelungen, so einen tiefen Eindruck bei ihm zu hinterlassen. Estelle, seine erste große Liebe. John, der keine Grenzen kannte. Lucia, die Mutter seines einzigen Kindes. Keine dieser Beziehungen hatte gut geendet und Jack hatte von jeder einzelnen Begegnung Narben davon getragen. Estelle, die er mit sechzehn so sehr liebte, dass es wehtat und mit der er für immer zusammen bleiben wollte. Estelle, die mit ihm Schluss machte, als sie erführ, dass er sich entschlossen hatte, Militärdienst zu leisten. Als er das letzte Mal von ihr hörte, lebte sie mit Ehemann und mehreren Kindern in St. Louis. John, der ihn nach seiner Ankunft in London mit der Stadt bekannt machte, der wild und zügellose war und vor nichts Angst oder Respekt hatte. John, der ihn fast mit in seinen persönlichen Strudel aus Alkohol und Drogen zog und der ihn monatelang mit Anrufen und Besuchen verfolgte, seine sogenannte Liebe zu ihm am Ende eine Besessenheit, als Jack sich von ihm trennte. Da Johns Familie eine gewisse Prominenz hatte, tauchte ab und zu eine seiner Eskapaden in den Schlagzeilen auf - oder sein neuester Aufenthalt in einer Entzugsklinik. Lucia, die ihn mit der Nachricht überraschte, dass sie schwanger war, plane das Kind zu behalten - und es alleine großzuziehen. Lucia, die ein Jahr nach der Geburt ihrer Tochter verkündete, dass sie mit ihr zu ihren Eltern zog. Nach Italien. Und sollte er jemals versuchen, sie gegen ihren Willen zu sehen, würde sie ihm die Polizei auf den Hals hetzen. Er hatte sich ihr gebeugt - denn um ehrlich zu sein, welche Art von Vater hätte er für ein Kind abgegeben?



Danach war es einfacher gewesen, sich auf flüchtige Abenteuer oder kurze Affären zu beschränken. Gegenseitige Anziehung, Lust, selbst ein wenig ehrliche Zuneigung - das genügte doch.

Abgesehen davon, nach allem was er wusste, war Ianto Jones strikt heterosexuell und selbst Jacks nicht unbeträchtlicher Charme hatte seine Grenzen.

Grant verließ das Frühstückszimmer, aber bevor Jack einen zweiten Versuch starten konnte, schob Ianto seine Post auf einen ordentlichen Stapel zusammen, leerte seine Tasse und verabschiedete sich. Da Tosh ihm nach wie vor keine Aufmerksamkeit schenkte, kehrte Jack zu seinem inzwischen fast kalten Rührei zurück und vertiefte sich in eine Ausgabe einer lokalen Tageszeitung.

Gründlich darüber informiert, welches örtliche Schaf einen Zuchtwettbewerb gewonnen hatte und das die Bibliothek am Wochenende eine Spendenveranstaltung durchführte, bemerkte Jack eine Weile später, dass er sich alleine im Raum aufhielt.

Von der Frau, die kam um das Geschirr abzuräumen, erfuhr er, dass Doktor Harper und Miss Sato weggefahren waren. Er musste wirklich ein ernsthaftes Wort mit ihr sprechen. Sie hatte wohl vollkommen vergessen, dass sie nicht hier waren, um Urlaub zu machen.

Nach einem kurzen Abstecher auf sein Zimmer machte sich Jack an eine unauffällige, aber gründliche Erkundung des Hauses.

Und das war nicht so einfach, wie es klang. Denn an Zimmern mangelte es nun wirklich nicht. Gerade hielt sich Jack in einem Raum auf, der offensichtlich Ianto Jones als Büro diente. Er hatte sich bereits den Schreibtisch angesehen - ein schlichtes Stück, das mehr schwedisches Möbelhaus als Country Life besagte - und das nur eine Menge Unterlagen über Veranstaltungen und Programme der Stiftung enthielt, die Ianto von seiner Mutter übernommen hatte. Ein Laptop, nicht das neuste Modell und ein Telefon mit Wählscheibe - wo auch immer der Waliser das aufgetrieben hatte - bildeten das ganze technische Inventar. Die Wände zierten Fotos mit und ohne Sibylla Harper-Jones, mit und ohne ihre Familie, auf verschiedenen Veranstaltungen. Einige davon waren vertraut, sie hatte Toshs Internetsuche während ihrer Vorbereitung bereits zum Vorschein gebracht.

Ein gerahmtes Foto auf der Fensterbank fing Jacks Blick ein. Es unterschied sich von den anderen und zeigte Ianto Jones mit einer atemberaubend attraktiven, dunkelhäutigen Frau, möglicherweise bei einem Picknick. Im Hintergrund waren Sonnenschein, Bäume und die durch die Perspektive scheinbar an den Knien abgeschnittenen Beine eines Mannes zu sehen. Offensichtlich ein privater Schnappschuss, keine professionelle Aufnahme. Aber das war zweitranging, denn als der Fotograf oder die Fotografin abgedrückt hatte, wandte sich das Paar gerade einander zu, lächelnd, völlig ineinander versunken. Sie hatten es vielleicht nicht einmal bemerkt, dass jemand das Bild schoss. Es war das Foto eines glücklichen, sehr verliebten Paares.

Jemand räusperte sich hinter ihm und Jack wusste, dass er schon wieder beim Schnüffeln ertappt worden war. Er musste langsam alt werden, denn berufsbedingt war es normalerweise sehr schwer, sich ihm unbemerkt zu nähern.

Anstatt sich die Blöße zu geben, sich umzudrehen um zu sehen, wer es war, atmete er unauffällig tief ein. Er roch das markante Aftershave, dass Ianto Jones benutzte - Leder- und Zitrusnoten, klassisch wie der Rest seines Geschmacks - in die sich unerwartet Rosenduft mischte. Vermutlich kam der junge Mann gerade aus dem Rosengarten.

Jack entschloss sich für Frechheit. „Ich habe eine Schwäche für schöne Bilder“, meinte er. „Oder nennen wir es eine Leidenschaft.“ Erst jetzt wandte er den Kopf.

Ianto blickte an ihm vorbei auf das Bild, der Ausdruck seines Gesichts unerwartet nüchtern. „Lisa. Wir waren einmal verlobt.“ Seiner Stimmlage nach hätte er über die Wettervorhersage für morgen sprechen können. „Wir haben uns vor acht Monaten getrennt.“

Das musste er bei seinen Recherchen übersehen haben. Allerdings hatte er sich auch mehr auf den Älteren der beiden Stiefbrüder konzentriert. Jack war unwissentlich in ein Fettnäpfchen getreten. „Das tut mir leid.“ Erstaunt stellte er fest, dass es nicht nur eine Floskel war. Jemanden zu verlieren, den man so voll Liebe ansah, aus welchem Grund auch immer, war ein bedauerlicher Verlust…

Der jüngere Mann runzelte die Stirn, als könne er mit dieser Antwort nichts anfangen, dann nickte er. „Danke.“

„Was ist passiert?“ Verspätet fiel Jack ein, dass er vielleicht ein wenig zu viel Interesse zeigte. Er war schließlich nur ein Gast, kein Freund der Familie.

Der Waliser musterte ihn mit einem Anflug Amüsement, aber ohne Ärger. Dann schob er seine Krawatte zur Seite, knöpfte zu Jacks Überraschung Weste und Hemd auf und entblößte eine schmale Narbe auf der linken Brustseite, unterhalb der Brustwarze.

„Ein Tumor“, meinte er sachlich, die Knöpfe an seinem Hemd wieder schließend. „Auf der Außenwand meines Herzens. Er wurde vor zwei Jahren frühzeitig entdeckt, als er etwa so groß wie mein Daumennagel war. Zum Glück stellte er sich als gutartig heraus, deshalb bin ich heute wieder völlig gesund. Die Schädigung am Herzen war minimal. Mein Vater… also mein leiblicher Vater… ist an einem ähnlichen Tumor gestorben, als ich noch ein kleines Kind war.“ Ianto strich seine Krawatte glatt, ließ die Weste aber offen. „Deshalb hat Owen mich schon vor Jahren an einen früheren Studienfreund verwiesen, zu einem jährlichen Krebs-Screening. Damit hat er mir vermutlich das Leben gerettet. Zumindest aber habe ich alles schneller und leichter überstanden.“


„Sie hat sich von dir… Pardon... sie hat sich von Ihnen getrennt, weil Sie krank gewesen sind?“ Jack bedauerte, dass der Waliser bereits wieder zugeknöpft war, bevor er eine Chance auf mehr als einen flüchtigen Blick erhielt.

„Nein.“ Jones griff an ihm vorbei, nahm das Foto in die Hand und betrachtete es nachdenklich. „Lisa verhielt sich wundervoll. Sie verbrachte jede freie Minute mit mir, als ich im Krankenhaus war. Und später nahm sie sich drei Monate frei, um mit mir zur Erholung den Winter im Penthouse unserer Eltern in Miami zu verbringen.“

Er stoppte kurz und stellte das Foto zurück an seinen Platz. „Es war alles gut mit uns. Ich war der, der sich veränderte. Mir war nie besonders wichtig, Karriere zu machen. Manche Menschen, die so etwas erleben oder überleben, werden aktiver. Machen mehr aus ihrem Leben. Ich bin zufriedener damit geworden, wer ich bin. Wo ich bin. Was ich tue. Die Stiftungen und Charities meiner Mutter fortzuführen, ist praktisch schon eine Vollzeitbeschäftigung, wenn ich will. Ich kann viel Gutes tun, weiter in ihrem Sinne handeln. Und ich fühle mich hier wohl. Hier bin ich Zuhause. Mir gehört das Haus zur Hälfte. Winfield hat es so festgelegt.“

Jack lehnte sich gegen die Wand, sah ihn an. „Und Lisa hatte dafür kein Verständnis? Für diese… Zufriedenheit mit dem Leben, wie es ist?“ Es klang natürlich edel, sein Leben dem guten Zweck zu opfern, aber Jones musste auch ohne Job nicht am Hungertuch nagen. Er war im Testament seines Stiefvaters so großzügig bedacht, dass er sich nie mehr Gedanken um seinen Lebensunterhalt machen musste. Selbst wenn sein Stiefbruder ihm irgendwann einmal den Geldhahn zudrehen sollte.

„Anfangs schon. Sehr lange sogar, im Rückblick.“ Ianto schob die Hände in seine Hosentaschen, ohne darauf zu achten, dass er sein Jackett zerknitterte. Es machte ihn in Jacks Augen allerdings noch sympathischer. „Dann bekam sie das Angebot in New York zu arbeiten.“ Er lächelte schief. „Wir haben uns in entgegengesetzte Richtungen entwickelt. Es war… vernünftig, das Ganze zu beenden, bevor es wirklich schmerzhaft wurde.“

„Vernünftig?“ Jack schüttelte den Kopf. „Was hat Vernunft mit Gefühlen zu tun?“

Der Waliser sah an ihm vorbei. „So etwas hat Lisa auch gesagt. Aber sie hat auch nicht vorgeschlagen, dass ich mit ihr nach New York gehe.“ Er zog die Schultern hoch als fröstle er. „Wie ich von Bekannten gehört habe, ist sie inzwischen eine neue Beziehung eingegangen.“

„Es klingt ein wenig nach Verschwendung. Du bist jung. Reich. Attraktiv.“ Jack vergaß seine Rolle für einen Moment und bemerkt nicht, dass er den anderen Mann duzte. „Du solltest dein Leben genießen, die schönen Dinge genießen: Reisen und Frauen und Partys. Nicht hier in der Provinz versauern. Rosenpflegen und Häkeldeckchen für einen guten Zweck versteigern kann man auch noch mit Neunzig.“ Er machte einen Schritt auf Ianto zu, legte die Hand auf seinen Arm. „Es gibt auf dieser Welt so viel zu erleben, Ianto. Ich könnte da Geschichten erzählen…“ Und was er ihm erst zeigen könnte…

„Vielen Dank für den Rat“, entgegnete der Waliser trocken. „Aber ich habe nicht das Gefühl, hier zu… versauern. Und ganz so abgeschieden sind wir hier auch nicht. Es sind nur drei Meilen bis zur nächsten Stadt. Etwa achtzig bis Cardiff.“ Er zog den Arm unter Jacks Hand weg. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich habe noch einiges zu erledigen. Sicherlich möchten Sie auch gerne an Ihre Arbeit zurückkehren.“

Das war eine der höflichsten Abfuhren, die Jack je gehört hatte - und dabei hatte er nicht mal wirklich etwas versucht - aber nichtsdestotrotz war es eine Abfuhr. „Natürlich“, sagte er mit einem Lächeln „Ich bedauere sehr, wenn ich Sie aufgehalten habe.“

Ianto sah ihn einen langen Moment an, dann neigte er den Kopf, drehte sich um und setzte sich an den Schreibtisch. Er schaltete den Laptop ein und ignorierte Jack. Zu seiner Erleichterung fragte er nicht, was Jack eigentlich in seinem Büro gesucht hatte…

Er verließ den Raum wesentlich hastiger, als er ihn betreten hatte. Jack sackte erneut gegen die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust, seine Unvorsichtigkeit verfluchend. Offenbar hatte Jones nur einen kurzen Ausflug unternommen, er hätte sich vorher vergewissern sollen, ob er wirklich ungestört war. Und Jones‘ Büro half sicherlich nicht beim Katalogisieren der Sicherheitseinrichtungen und Owen Harpers Kunstsammlung… Wenn da nur nicht ein Paar graublauer Augen wäre, in das er sich sehr viel lieber vertiefen würde.

Sollte allerdings der Besitzer dieser Augen seinen Stiefbruder in Kenntnis setzen, dass Jack an Orten herumschnüffelte, an denen er nichts zu suchen hatte… Er massierte sich den Nasenrücken mit zwei Fingern. Jetzt war es ohnehin zu spät. Wenn er zurückging und Ianto irgendeine Erklärung zu verkaufen versuchte, würde er ihn nur misstrauisch machen. Oder noch misstrauischer, falls er es bereits war.

Und wo trieb sich eigentlich Tosh herum? Sie schien völlig vergessen zu haben, dass sie als seine Assistentin hier war. Obwohl er sich bestimmt nicht darüber beklagte, dass sie Owen von ihm fernhielt.

***


***

Tosh tauchte zum Tee wieder auf. Allerdings ergab sich keine Gelegenheit, privat mit ihr zu sprechen, denn Owen hielt sie weiter mit Beschlag belegt. Außerdem saß Grant mit am Tisch und war mit Ianto in die letzten Details der Planung einer Party vertieft, die am folgenden Tag stattfinden würde. Eine Gartenparty, offenbar. Jack fühlte sich sehr als fünftes Rad am Wagen - ein Gefühl, mit dem er nicht besonders vertraut war. Für gewöhnlich gelang es ihm, die Aufmerksamkeit anderer zu gewinnen.

Eines der Sandwiches essend, die serviert worden waren, schlenderte Jack am Bücherregal entlang und gab vor, die Titel zu lesen, für die er sich nicht interessierte.

„Ich hoffe, Ihre Arbeit mit meinem Bruder lässt Ihnen genug Zeit, um morgen zu unserer Gartenparty zu kommen?“ Ianto trat neben ihn und schien die gleichen Bücher zu studieren, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. „Ich verspreche auch, ich werde Sie nicht um eine Spende bitten.“

„Oh, es ist diese Art von Party“, erwiderte Jack mit einem Lächeln. „Aber ich denke, die Entscheidung liegt bei Ihrem Bruder.“

Ianto sah zu Harper hinüber, der mit Tosh am Fenster stand und ihr etwas draußen zeigte. Er hob die Schulter. „Owen wird ebenfalls an der Party teilnehmen. Ihre Miss Sato scheint einen großen Eindruck bei ihm zu hinterlassen. In den letzten Jahren hat er selten für etwas anderes als seine Kunst Interesse gezeigt. Wir sind keine leiblichen Geschwister, aber Owen und ich teilen das gleiche… Unglück… dass wir nicht in der Lage sind, Beziehungen mit den Menschen aufrecht zu halten, die wir lieben. Nicht auf Dauer. Wenn auch aus verschiedenen Gründen.“

„Toshiko arbeitet für mich, aber sie ist auch eine gute Freundin. Und sie ist eine erwachsene Frau, ich kann ihr nicht vorschreiben, mit wem sie sich trifft.“ Allerdings wich sie vom Script ab. Eigentlich hätte Tosh sich mit Ianto Jones beschäftigen sollen, sie hatte sich eingehend über seine Stiftung und die verschiedenen Projekte informiert. Aber dann war bisher kaum etwas so gelaufen, wie er es geplant hatte…

Ianto sah ihn an, eine Augenbraue hochgezogen. „Ich wollte damit nicht andeuten, dass ich etwas gegen Owens Bekanntschaft mit Miss Sato habe. Wir hatten ein paar Mal Gelegenheit, miteinander zu sprechen, während Sie mit meinem Bruder beschäftigt waren. Sie hat mich sogar bei einem Computerproblem beraten.“

Jack lachte. „Hat sie den Computer auseinander genommen und neu zusammen gebaut? Das kann sie übrigens mit verbundenen Augen.“

„Gut zu wissen.“ Ianto rieb einen Staubfleck von einem Buchrücken. „Die Party beginnt um elf.“

„Ich bin nicht sicher, ob ich passende Kleidung für eine Party eingepackt habe.“ Eine Party bedeutete, das Haus war voll Gäste. Harper und die Sicherheitsleute waren beschäftigt. Er konnte Fotos der Bilder machen - natürlich nur für seine Artikel - ohne dass sein Gastgeber ihm an den Fersen hing. Ungestört die Räume, in denen die Kollektion untergebracht war, untersuchen…

„Es ist eine Gartenparty. Im Sommer. Lassen Sie einfach diesen hässlichen Pullover, die Krawatte und das Jackett im Schrank, das genügt vollkommen.“

Jack sah an sich herab. „Ich würde nicht sagen, der Pullover ist hässlich.“ Flirtete Jones mit ihm? Ein klein wenig vielleicht...

„Definitiv hässlich“, beschied der Waliser. Seine nächsten Worte jagten einen kleinen Schauder über Jacks Rücken. „Sie hätten sich nicht solche Mühe mit einer Verkleidung geben müssen. Owen hat den Modegeschmack einer Stubenfliege.“ Er rückte ein Buch zurecht, nickte Jack zu und kehrte zu Grant zurück.

Das konnte keine versteckte Anspielung gewesen sein, nur eine… Bemerkung. Tosh hatte etwas Ähnliches zu ihm gesagt, bevor sie nach Wales abreisten. Zugegeben, er trug diese Kleidung wie ein Kostüm, als Teil seiner Rolle. Aber wieso sollte das Ianto Jones auffallen? Oder meinte der Waliser damit nur, dass er durchschaut hatte, was er für einen Versuch hielt, Harper gegenüber als besonders kompetent zu erscheinen, indem er ein äußerliches Klischee erfüllte? Wenn Ianto wirklich Misstrauen gegen ihn hegen würde, dann hätte er doch längst seinen Bruder informiert. Oder das Sicherheitspersonal, das so unauffällig den Zutritt zum Gut kontrollierte. (Aber nur die Teile des Hauses, die Harpers Sammlung beherbergten.)

Er entschuldigte sich bei den anderen und hoffte, es sah nicht zu sehr nach Flucht aus, als er sich in sein Zimmer zurückzog.

***

Jack warf im Vorbeigehen einen zufriedenen Blick in den Spiegel. Verschwunden war der Professor-Look, wie Tosh es genannt hatte. Er trug Jeans - eng genug, um seine langen Beine zu betonen, aber nicht so eng wie für eine Nacht in einem Club oder einer Bar. Dazu ein kragenloses, blütenweißes Hemd, das ihm Harpers Haushälterin freundlicherweise aufgebügelt hatte. Darüber eine blaue Anzugweste aus Seide, die er nur aus dem Grund eingepackt hatte, weil er wusste, dass die Farbe die seiner Augen unterstrich. Anstatt die Haare glatt nach hinten zu kämmen, hatte er sie mit Gel zu ihrer üblichen Stachligkeit frisiert, was ihn zweifelsohne Jahre jünger aussehen ließ. Nicht, dass er mit viel Konkurrenz rechnete. Eine Gartenparty an einem Sonntagvormittag war vermutlich eher etwas für die ältere Generation.



In der Hinsicht hatte er sich allerdings gründlich geirrt, wie Jack feststellte, als er in den Rosengarten trat. Von Kleinkindern bis hin zu Greisen tummelten sich jede Menge Leute zwischen den Rosen. Der Garten selbst sah verändert aus, mit Tischen und Stühlen und einer Art Zeltdach, das Schutz vor der Sonne bot, die von einem wolkenlos blauen Himmel strahlte. So viel zum berüchtigten, walisischen Regenwetter.

Tosh kam auf ihn zu und hakte sich bei ihm unter. Sie sah ebenfalls verändert aus und Jack musterte seine Freundin überrascht. Ihr fiel das Haar offen um die Schultern und sie versteckte ihre Augen nicht hinter ihrer Brille. Und sie trug ein weißes Sommerkleid, das mit rosa Rosen bedruckt war, und das ihr offenbar auf den Körper geschneidert worden war, so wie es sich an ihre Figur schmiegte. Sie sah zugleich jung und erwachsen aus und sehr, sehr weiblich.

„Woher hast du das Kleid?“, fragte Jack. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie es vorsorglich eingepackt hatte.

„Owen hat es mir gekauft. Gefällt es dir?“ Rote Flecken erschienen auf ihren Wangen. „Das war nicht meine Idee, Jack. Er hat mich dazu überredet. Weil ich sagte, ich könne nicht an der Party teilnehmen, weil ich keine passende Kleidung eingepackt habe.“

„Hey, so war das nicht gemeint. Du siehst atemberaubend aus.“ Er sah sie an. „Ich bin nur überrascht. Du und Owen?“

Die Röte in Toshs Gesicht vertiefte sich. „Ich bin auch überrascht. Aber er ist… Owen ist ganz anders, als ich dachte. Er ist ernst und höflich, aber auch witzig und… und ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Ich fühle mich bei ihm… erwachsen. Mom und Mary und sogar du, ihr neigt dazu, mich immer noch wie ein Mädchen zu behandeln. Wie jemand, den man beschützen muss. Owen sieht mich als Frau.“

„Wir sind aus einem bestimmten Grund hier“, erwiderte Jack leise. Er war sich der Menschen um sie herum bewusst, die unabsichtlich ihr Gespräch mithören könnten. „Tosh, in ein paar Tagen verschwinden wir von hier und Owen wird…“

„Sind wir das wirklich? Du hast doch nur noch Augen für Ianto Jones“, unterbrach ihn Tosh. „Es ist Owen schon aufgefallen. Und er denkt übrigens, dass du dir die Mühe sparen kannst. Er lässt sich nur noch mit Frauen ein.“ Sie winkte Harper zu, der sich gerade mit einer älteren, gebückt gehenden Dame unterhielt.

„Was?“ Jack registrierte den letzten Satz mit einiger Verspätung, da er sich noch mit den Komplikationen beschäftigte, die Ianto Jones in seinen Plänen verursachte. „Was war das?“

„Owen sagt, dass sein Stiefbruder… möglicherweise bisexuell ist. Zumindest hat er sich offenbar während des Studiums in einen der anderen Studenten verliebt. Der besagte Student nahm sein Interesse nicht gut auf und hat wohl den Rest des Semesters zusammen mit seinen Freunden damit verbracht, sich über Ianto lustig zu machen und ihn zu demütigen. Danach hatte Ianto nur noch Freundinnen.“ Tosh löste sich von ihm. Harper hatte es geschafft, die alte Dame mit dem Gehstock abzuwimmeln und trat auf sie zu.

„Mister Harkness. Ich freue mich, dass Sie sich von Ihrer Arbeit freigemacht haben“, sagte Harper zu Jack, während sein Blick jedoch an Tosh festhing. „Ianto hat die Absicht tief in ein paar Taschen zu greifen, um eines seiner Projekte zu finanzieren, aber davon sollten wir uns nicht abhalten lassen, den schönen Tag zu genießen. Wer weiß, wie lange dieses Wetter noch anhält. Mrs. Hopkins hat mir gerade erzählt, sie hätte seit dreißig Jahren nicht mehr erlebt, dass eine ganze Woche lang ohne Pause die Sonne schien.“ Er lächelte Tosh an und die Verkniffenheit wich aus seinen Zügen. „Ich bin bereit zu glauben, dass es an meinem charmanten Besuch liegt.“ Eindeutig meinte er damit nicht Jack, dem er kaum mehr als einen flüchtigen Blick gegönnt hatte. „Entschuldigen Sie mich, ich muss zurück zu den Gästen. Ianto zwingt mich dazu, die Rolle des Gutsbesitzers zu spielen. Er glaubt, es beeindruckt die Leute. Als würde das in diesem Jahrhundert noch eine Rolle spielen.“ Harper nickte ihm zu, nahm Toshs Arm und führte sie zu einer Gruppe von Gästen, die bereits neugierige Blicke in ihre Richtung geworfen hatten.

Jack sah ihnen unschlüssig nach. Etwas lief ganz gewaltig schief mit seinen Plänen und Tosh konnte er dafür nicht verantwortlich machen. Vielleicht war es an der Zeit, abzubrechen und nach London zurück zu kehren. Bevor Tosh sich zu sehr in eine Beziehung verwickelte, die auf Lügen aufgebaut war. Bevor er sich wegen Ianto Jones noch mehr zum Narren machte und hinter ihm her schmachtete, wie ein Schuljunge, der zum ersten Mal verliebt war. Toshs Vorschlag, irgendwo auf einer tropischen Insel in der Sonne zu schmoren, klang plötzlich nicht mehr so langweilig wie noch vor zwei Wochen, als sie zum ersten Mal darüber gesprochen hatten.

In diesem Fall konnte er die Party genießen, anstatt sich irgendwann davon zu stehlen, um etwas zu stehlen… Jack steuerte einen der Tische an, auf denen Gläser darauf deuteten, dass Alkohol serviert wurde.


„Es freut mich, dass Sie meinem Rat gefolgt sind.“

Jack stoppte auf halben Weg und drehte sich um. Offensichtlich richtete sich Ianto Jones nicht nach seinen eigenen Worten, denn er war alles andere als lässig gekleidet. Der Waliser steckte in einem klassischen, dreiteiligen Nadelstreifenanzug, den er auch jederzeit zu einer Hochzeit oder einem Abendessen bei der Queen hätte tragen können. Seine rote Krawatte passte perfekt zu der roten Rose an seinem Reverse.

„Ich habe plötzlich das Gefühl, Sie haben mich mit der Kleiderordnung für diese Party auf den Arm genommen“, erwiderte Jack mit einem schiefen Grinsen. „Oder soll meine Aufmachung die Leute zum Spenden anregen?“

Ianto lächelte. „Richtige Kleidung hilft dabei, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen, das stimmt. Im Anzug wirke ich einfach seriöser als in meinen Klamotten, die ich zur Gartenarbeit trage. Allerdings geht es heute um den Erhalt der örtlichen Bibliothek und ihrer Förderprogramme - wenn Sie mir beim Spendensammeln helfen möchten, dann müssten Sie schon vorgeben, nicht lesen zu können.“

„Wenn es der guten Sache dient, bin ich zu fast allem bereit.“ Jack trat näher zu ihm. Seine pessimistische Laune von eben war wie weggeblasen. „Aber dafür schulden Sie mir einen Drink. Und ich bestehe darauf, dass wir den…“ Er brach ab, blinzelte und vergaß, was er eben hatte sagen wollen.

Der Waliser wartete einen Moment, dann drehte er den Kopf, um über seine Schulter zu sehen - in die Richtung, in der etwas Jacks Blick so fesselte, dass er sich mitten im Satz unterbrach. Ein paar neue Gäste hatten den Garten über die Terrasse betreten, aber es waren Leute aus der Gegend, die ihr Besucher aus London wohl kaum kannte. „Mister Harkness?“, fragte er. „Jack? Ist alles in Ordnung?“ Er legte die Hand auf den Arm des anderen Mannes. „Sie sehen aus, als wären Sie einem Geist begegnet.“

Jack wandte sich ihm zu. Er quälte sich ein Lächeln ab. „Vielleicht bin ich das.“ Aus der Fassung gebracht, schüttelte er den Kopf. „Ich weiß, dass das eine merkwürdige Frage ist, aber wer ist das?“ Jack deutete auf einen jungen, blonden Mann, der sich ein paar Schritte hinter Ianto angeregt mit seiner Begleiterin unterhielt.

Der Waliser musterte ihn einen Moment. „Das ist Taylor. Bennett. Er ist der kleine Bruder von...“ Er sah sich um und deutete dann auf eine Frau, die an der Terrassentür stand. „...Evelyn. Sie arbeitet mit mir in der Stiftung, die Kinder wieder mehr zum Lesen anregen soll, einer der Anlässe für diese Party. Kennen Sie ihn?“ Es kam keine Antwort. Harkness starrte weiter den jungen Mann an. „Jack? Ist etwas nicht in Ordnung?“ Nach kurzem Zögern griff er nach Jacks Ellbogen und führte ihn ein Stück eines gepflasterten Wegs entlang. Er öffnete eine Tür und sie traten ins Haus. Ein kurzer Korridor endete in zwei Treppenstufen, nach deren Überwindung Ianto eine weitere Tür öffnete und Jack in den dahinterliegenden Raum schob.

Die Geräusche der Party drangen hier nur noch gedämpft zu ihnen. Ianto führte Jack zu einem Sessel und der andere Mann setzte sich wortlos.

Der Raum war hell und sehr feminin eingerichtet. Bücherregale aus dunklem Holz waren in eine Wand eingebaut, die anderen schmückten Rosentapeten und viktorianische Gemälde ornamentaler Gärten. Direkt vor dem Fenster stand ein zierlicher, weißlackierter Schreibtisch mit passendem Stuhl. Zwei Chintzsessel - natürlich mit rosengemustertem Bezug - wandten sich einem kleinen, offenen Kamin zu. Jack saß im rechten davon, vornüber gebeugt, die Arme auf die Oberschenkel gestützt.

Der Waliser musterte ihn einen Moment, dann trat er zu einem halbhohen Schränkchen, auf dem ein Globus befestigt war. Die obere Hälfte der auf antik gemachten Erdkugel ließ sich zurückklappen und gab drei Glaskaraffen mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten frei. Er wählte eine davon aus und nahm zwei Gläser aus dem Schränkchen, um sie mit einer kleinen Menge bernsteinschimmernden Whiskeys zu füllen.

Dann kehrte er damit zu Jack zurück, setzte sich in den freien Sessel links von ihm und stellte die beiden Gläser auf dem Tischchen zwischen den beiden Sitzmöbeln ab. Ianto lehnte sich zurück, lauschte auf das Ticken der Barockuhr auf dem Kaminsims und betrachtete das Licht- und Schattenspiel, das die Sonne durch die Spitzenvorhänge auf den Kamin warf. Ein Gefühl der Ruhe ergriff ihn, wie immer wenn er sich in dem kleinen Schreibzimmer seiner Mutter aufhielt.

Nach einer Weile drehte Ianto den Kopf und musterte den anderen Mann. Jack hatte sich ebenfalls aufgerichtet und zurückgelehnt, seine Augen waren geschlossen.

Als spüre er den Blick des Walisers auf sich, hoben sich plötzlich seine Lider und Jack griff nach dem Glas. Er trank einen Schluck, holte dann tief Luft. „Danke“, sagte er leise.

Ianto nickte wortlos, nahm das andere Glas und ließ die schimmernde Flüssigkeit im Sonnenlicht kreisen. Er konzentrierte sich darauf, vielleicht um Jack die Gelegenheit zu bieten, sich unbeobachtet zu sammeln.

„Kennen Sie ihn näher? Taylor Bennett?“, fragte der ältere Mann schließlich.

„Kaum“, erwiderte Ianto. „Ich habe ihn ein paar Mal bei Veranstaltungen getroffen. Seine Schwester erzählt manchmal von ihm.“ Er warf Jack einen Blick zu. „Er studiert in Cardiff Architektur und ist für den Sommer nach Hause gekommen.“


„Er erinnert mich an meinen Bruder“, meinte Jack leise. „Nicht nur sein Aussehen, sondern wie er sich bewegt und lacht... Genau wie mein Bruder Gray. Wenn er so alt geworden wäre. Er ist tot.“

„Ich verstehe. Das tut mir leid.“ Der Waliser nippte an seinem Glas.

Jack massierte seinen Nasenrücken. „Er war erst acht.“

„Wie alt waren Sie?“ Ianto sah ihn nicht an, überließ Jack klar die Entscheidung, ob er antworten wollte oder nicht.

„Zwölf“, sagte er mit einem Seufzen. Eine Pause schloss sich an. „Es ist auf einem Ausflug passiert. Während der Ferien. Wir waren im Urlaub am Meer.“ Wieder schwieg er einen Moment. „Mein Vater hatte ein Segelboot gemietet, wir haben früher schon gesegelt. Meine Mutter ist nicht mitgekommen, sie wurde rasch seekrank, deshalb waren es nur wir drei.“ Er schluckte. „Wir haben herumgealbert, mein Bruder und ich. Und plötzlich...“ Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. „Gray ist aus dem Boot gefallen. Ich habe versucht nach ihm zu greifen, ihn fest zu halten, aber seine kleinen Finger rutschten… einfach aus meinen.“

Ianto lauschte aufmerksam. Es fiel ihm auf, dass Jack keine Details erwähnte, wo und wann dies alles passiert war, doch er ignorierte es, als der andere Mann weitersprach.

„Wir waren eigentlich beide gute Schwimmer. Aber er verschwand einfach im Wasser. Mein Vater... Er sagte, ich solle mich unter keinen Umständen von der Stelle rühren und dann...“ Jack senkte den Kopf, starrte in sein Glas. „Er hat versucht, Gray zu retten“, flüsterte er. „Dabei ist er selbst ertrunken. Die Leiche meines Bruders wurde nie gefunden.“

Sprachlos sah Ianto ihn an. Jack öffnete die Augen, leerte das Glas und fuhr sich hastig mit der Hand über das Gesicht. „Großartig“, meinte er, seine Stimme ein wenig brüchig. „Wir sind auf einer Party und ich werde weinerlich ohne mich vorher betrunken zu haben.“ Er stellte das Glas auf den Tisch zurück. „Entschuldigen Sie bitte.“

„Das ist mir auch schon passiert.“ Ianto stellte sein kaum angerührtes Glas neben Jacks. „Ich sollte vielleicht zurückgehen, Owen sieht es nicht gerne, wenn ich ihm die Gastgeberpflichten völlig überlasse.“ Er stand auf. „Bitte fühlen Sie sich frei, hier zu bleiben, so lange Sie möchten, Mister Harkness. Außer mir kommt niemand in diesen Raum, Sie sollten ungestört sein. Ich kann Miss Sato informieren, wo Sie sind.“

„Ianto.“ Jack sprang auf und trat ihm in den Weg. „Vielleicht...“ Er strich mit den Fingern an der Außenseite von Iantos Jackett entlang. „...Könnten wir die Förmlichkeiten hinter uns lassen? Nach meinem kleinen... Ausbruch... wäre es so schlimm, mich zu duzen?“

Einen langen Moment musterte ihn der Waliser, dann lächelte er. „Gerne, Jack.“

Wäre er nicht immer noch emotional wund gewesen, hätte er mehr genossen, wie sich Iantos Akzent um seinen Namen wand. „Es ist mir ein Vergnügen, Ianto. Und es ist nicht nötig, Tosh zu beunruhigen. Es geht mir gut.“ Er holte tief Luft. „Ich werde mich rasch frischmachen und mich dann zu den Gästen gesellen. Dein Bruder hat mich gebeten, ein paar Worte über seine Neuerwerbungen zu sagen.“

„Und ich bin sicher, er besteht darauf.“ Ianto warf automatisch einen Blick auf seine Armbanduhr. „Erst nach dem Essen, wenn ich den Zeitplan richtig im Kopf habe.“ Er lächelte erneut. „Wir sehen uns?“

„Wir sehen uns dort.“ Jack erwiderte sein Lächeln und sah ihm nach. Dann sank er zurück in den Sessel. Was stimmte nicht mit ihm? Er wich vom Plan ab, er wurde emotional, platzte mit der Wahrheit heraus... Alles wegen dieses Mannes mit den ernsten, graublauen Augen?

***

„Hier entlang, bitte.“ Ianto hielt eine Tür für ihn auf.

Jack warf dem Waliser einen Seitenblick zu, als er der Aufforderung folgte. Ehrlich gesagt war er sich nicht völlig sicher, was er hier machte. Die Stille im Haus hatte darauf hingewiesen, dass selbst die hartnäckigsten Partygäste gegangen waren, als es an der Tür zu seinem Zimmer klopfte.

Ianto Jones stand vor ihm, als er öffnete, etwas weniger förmlich, nun da er Jackett und Krawatte abgelegt und den Krägen seines Hemdes und die Weste geöffnet hatte. Aber nicht weniger attraktiv.

So, bemüht einen besseren Eindruck als zuvor zu hinterlassen, folgte Jack ihm ohne Fragen zu stellen, als der Waliser einen kleinen Spaziergang vorschlug.

Sie befanden sich jetzt in einem kleinen Durchgangszimmer, das bis auf einen leicht schief gegen die Wand lehnenden Schrank leer war.

Gerade als Jack sich erkundigen wollte, warum sie hier waren, ertönte ein langgezogener Pfiff. Gefolgt von weiteren. Jack sah sich überrascht um.

Ianto wandte sich ihm zu. „Ignorier es einfach“, meinte er amüsiert. „Das ist nur Myfanwy. Sie pfeift gerne schönen Männern hinterher.“

Jack grinste. „Sie hat Geschmack, deine... was ist eine Myfanwy?“

Der Waliser führte ihn durch die Glastür am anderen Ende des Raumes und in einen Wintergarten voll grüner Pflanzen. Auf einem an der Wand befestigten Ast saß ein Papagei, der auf den ersten Blick ausgestopft zu sein schien. Doch dann drehte das Tier den Kopf und spreizte die roten Flügel. Es pfiff erneut, überraschend menschlich klingend, und stürzte sich dann auf sie.



Jack duckte sich instinktiv als ihn die langen Schwanzfedern streiften, aber der Papagei landete elegant auf Iantos Schulter und rieb den Kopf gegen die Wange des Walisers.

Ianto lächelte und streichelte den Vogel. „Das ist Myfanwy“, sagte er. „Sie wohnt hier.“

„Dein Haustier?“, fragte Jack, den Papagei misstrauisch musternd. Es hatte wirklich so ausgesehen, als versuche ihn der Vogel zu attackieren. Waren Papageien wie Hunde oder Katzen und verteidigten ihre Besitzer? Die Krallen und der Schnabel sahen jedenfalls ganz schön kräftig aus.

„Ich habe sie geerbt“, erklärte Ianto, während Myfanwy seinen Kragen gründlich untersuchte und dann den Schnabel unter das Kinn des Walisers schob. „Sie gehörte meiner Großmutter, meiner Mutter und jetzt mir. Sie kennt mich mein ganzes Leben lang und manchmal denke ich, sie betrachtet mich als einen dummen, federlosen Vogel, der nicht fliegen kann. Gelegentlich ist sie ein wenig launisch, aber das muss man bei einer fast achtzigjährigen Dame entschuldigen.“ Er nahm auf einer weißlackierten Metallbank mit vielen Schnörkeln Platz. Myfanwy kletterten mit vorsichtigen Seitenschritten seinen Arm entlang, den er auf der Rückenlehne der Bank abgestützt hatte, bis sie Iantos Hand erreichte. Sie begann dann mit dem Schnabel seine Finger zu bearbeiten, bis Ianto die Faust öffnete und der Vogel die Erdnuss nehmen konnte, die er darin versteckt hatte. Der kräftige Schnabel machte kurzen Prozess mit der Schale, die laut knackend zerbrach.

Jack setzte sich auf einen Stuhl, der bequemer war, als er aussah. „So alt kann ein Papagei werden?“

„Ich habe gelesen, dass sie 120 Jahre und sogar älter werden können.“ Ianto wischte kleine Stückchen Erdnussschale von seiner Hose. „Sie ist normalerweise eine sehr wohlerzogene Dame mit besten Manieren, aber sie fühlt sich im Moment ein wenig vernachlässigt. Wegen der Party habe ich heute noch nicht besucht.“ Die Erdnuss verspeist, kletterte Myfanwy zurück auf Iantos Schulter und kehrte dazu zurück, an seinem Hemdkragen zu knabbern.

„Ich verstehe, dass du dich hier wohlfühlst“, meinte Jack. „Dieses Haus steckt voller Überraschungen.“

Ianto sah ihn an. „Mein Bruder führt Miss Sato zum Abendessen aus. Das Personal ist nach Hause gegangen. Abgesehen von Carys, sie hat ihre eigene kleine Wohnung in einem Nebenflügel. Wir sind hier ungestört.“

Myfanwy gab einen krächzenden Laut von sich und verdrehte den Kopf in einen fast unmöglich erscheinenden Winkel, als wolle sie an ihre Anwesenheit erinnern.

Jack lehnte sich zurück. „So, was machen wir jetzt, da wir ganz ungestört sind?“, fragte er flirtend.

Der Waliser räusperte sich. „Ich hoffe, dass du mir erzählst, warum du hier bist und welche Pläne ihr mit meinem Bruder habt.“

„Ich weiß nicht, was…“ Jack brach seine automatische Verteidigungsrede ab, als Ianto ihn kühl ansah.

„Und bitte mach dir nicht die Mühe, die Lüge über die Artikel über Owens Sammlung zu wiederholen.“ Ianto streichelte den unruhig auf seiner Schulter auf und ab wippenden Papagei. „Es ist schon… ironisch, dass Owen mich für naiv hält und dann auf so eine dünne Geschichte hereinfällt. Ich gebe zu, dass du sehr viel von Kunst verstehst. Aber du bist der erste Kunstexperte, der sich mehr dafür interessiert, wie die Bilder gesichert sind, als für sie selbst.“

Das hatte Jack nicht erwartet. „Wie?“, fragte er schließlich.

„Ich bin nicht blind“, erwiderte Ianto. „Und anders als Owen werde ich auch nicht von einer äußerst charmanten Assistentin abgelenkt.“

„Tosh hat damit nichts zu tun.“ Jack beugte sich vor. „Ich meine, dass sie und Owen… das gehörte zu keinem Zeitpunkt zu meinem Plan.“

„Vielleicht solltest du am Anfang beginnen. Wer bist du und was willst du hier. Die Wahrheit, Jack. Oder wie immer du heißt.“ Der Waliser griff in seine Hosentasche und Jack richtete sich alarmiert auf - vielleicht plante Ianto das Sicherheitspersonal zu rufen - aber er zog kein Handy, nur eine weitere Erdnuss hervor, die er ohne aufzusehen dem Papagei reichte.

Das Knacken der Schale unter den Druck von Myfanwys Schnabel klang sehr laut in der Stille, die sich zwischen ihnen ausbreitete.

„Mein Name ist Jack. Zumindest seit meinem sechzehnten Geburtstag. Und…“ Jack atmete hörbar aus. „Und ich schwöre, das ist mir noch nie passiert.“

„Ich soll glauben, dass noch nie jemand Ihre Identität in Frage gestellt hat?“, entgegnete der Waliser unterkühlt, wieder zum förmlichen „Sie“ zurückkehrend.

„Es kommt seltener vor, als man denkt.“ Offenbar kam seine Antwort nicht besonders gut an. Ianto verzog keine Miene. Jack war sich bewusst, dass der andere Mann höchstwahrscheinlich nicht mehr als einen Verdacht hegte, ansonsten würden sie dieses Gespräch nicht hier oder alleine führen. Er könnte lügen, er könnte sich herausreden und verschwinden, sobald Tosh zurück war. Ein vollkommen verrückter Gedanke war, die Wahrheit zu sagen. Richtig. Um im Anschluss von den Sicherheitsleuten vom Gelände eskortiert und der Polizei übergeben zu werden.

Ianto streichelte den Papagei, der seinen Sitzplatz auf der Schulter des Walisers gegen einen auf Iantos Oberschenkel eingetauscht hatte. Der Vogel schien die kleinen Knöpfe an seiner Anzugweste ins Auge zu fassen. „Ich weiß nicht, wie weit Sie in Ihren Recherchen über unsere Familie gegangen sind, aber Sie haben etwas Wichtiges übersehen. In den Referenzen, die Sie meinem Bruder geschickt haben, listen Sie verschiedene Personen auf, für die Sie angeblich in der Vergangenheit gearbeitet haben.“


Nicht ganz die Wendung des Gesprächs, die Jack erwartet hatte. Dieses Mal hielt er jedoch lieber den Mund und wartete ab.

„Darunter befindet sich Professor Laurel, eine Kunsthistorikerin. Sie hat vor einigen Jahren einen Schlaganfall erlitten und hat sich seither von der Universität zurückgezogen. Es ist also eher unwahrscheinlich, dass sich unter diesen Umständen jemand bei ihr nach einem früheren Mitarbeiter erkundigt.“ Iantos Finger klemmten den Schnabel seines Haustieres ein - sehr sanft, wie es aussah und scheinbar auch mit einiger Übung - und entfernte ihn so von seinen Knöpfen. Myfanwy entzog sich seinem Griff mit einem empörten Krächzen und schüttelte ihre Federn. Dabei löste der Waliser nicht eine Sekunde lang den Blick von Jack. „Professor Laurel und meine Mutter haben die gleiche Finishing School in London besucht. Sie sind über all die Jahre, bis zu ihrem Tod, in Kontakt geblieben.“

Jack spürte ein sinkendes Gefühl in der Magengegend. Das war mehr als ein unglücklicher, unglaublicher Zufall. Das war blankes Pech. Und das war ihm ebenfalls noch nie zuvor passiert.

„Ich hatte während des Studiums… Probleme“, fuhr Ianto fort. „Meine Mutter hat mich für ein halbes Jahr zur Erholung nach Sevilla geschickt. Ich konnte bei ihrer alten Freundin wohnen, Grundkenntnisse in Spanisch und Kunstgeschichte erwerben. In der Zeit habe ich mich mit Professor Laurels Tochter angefreundet, wir tauschen immer noch regelmäßig eMails aus. Als Owen von Ihrem… Angebot… erzählte und ich einen bekannten Namen in den Unterlagen gesehen habe, musste ich mich einfach bei ihr erkundigen. Wenn mir mein Stiefvater etwas beigebracht hat, dann dass man alle Unterlagen liest und nicht nur die ersten zwei oder drei Seiten. Olivia hat nie von einem Mitarbeiter ihrer Mutter namens Jack Harkness gehört. Zur Sicherheit habe ich ihr das Foto gemailt, dass Ihren Unterlagen beilag. Weder sie noch ihre Mutter kennen einen Jack Harkness. Was mir sehr seltsam vorkam, wenn Sie doch zwei Jahre bei ihr gearbeitet haben wollen…“

„Offensichtlich habe ich meinen Lebenslauf etwas… aufpoliert“, unterbrach ihn Jack.

„Ist irgendetwas darin nicht gelogen?“, erwiderte Ianto sarkastisch. „Pardon, wie sagten Sie noch? Etwas aufpoliert?“

„Mein Geburtsdatum. Nicht das Geburtsjahr, da habe ich mir nachträglich eines ausgesucht, dass mir besser gefällt.“ Jack hoffte zumindest auf ein müdes Lächeln, aber Jones war gut. Er reagierte nicht, sah ihn nur unverwandt ernst an. „Ich bin drei… zwei… vielleicht auch fünf… Jahre älter, als angegeben.“ Er murmelte die Jahresangabe absichtlich, um die Aussage amüsanter zu machen. Und weil er es hasste, wenn jemand wusste, wie alt er war. Nicht, dass er jetzt noch jemals eine Chance bei Ianto Jones haben würde.

„Vielleicht ist diese Unterhaltung ein Fehler.“ Ianto hielt Myfanwy den Arm hin, was für sie offenbar bedeutete, wieder auf seinen Arm zu klettern. Er stand auf, während der Vogel die langen Schwanzfedern spreizte, um die Balance zu bewahren. „Das Beste wird sein, Sie lassen sich einen guten Grund einfallen, warum Sie morgen früh unerwartet abreisen müssen und kommen mit Ihrer Assistentin nie mehr nach Wales zurück. Ich würde die Polizei informieren, aber ich möchte Owen die Enttäuschung ersparen. Er war von der Idee mit den Artikeln wirklich begeistert und ich glaube, Miss Sato… nun, ich habe ihn nicht so mit einer Frau erlebt, seit seine letzte Beziehung gescheitert ist.“

Jack stand ebenfalls auf. „Das ist sehr großzügig.“ Er trat Ianto in den Weg. „Bitte, lass mich erklären… es ist niemandem ein Schaden entstanden. Ich schwöre, ich habe kein Stück seiner Kollektion - oder sonst irgendwo hier im Haus - angerührt. Die letzten Tage habe ich sogar kaum noch daran gedacht, weshalb wir hergekommen sind.“

„Tatsächlich“, entgegnete Ianto trocken und ging um ihn herum. Allerdings verließ er den Raum nicht, er trug nur Myfanwy zu ihrem Ast und ließ sie von seinem Arm auf die Sitzstange klettern. Der Vogel machte mehrere Bewegungen, die wie wiederholte Verbeugungen aussah.

„Du hast mich in deinem Büro erwischt, weil ich zu abgelenkt von dem Foto von dir und deiner Ex gewesen bin“, gestand Jack zu. „Du lenkst mich ab.“

„Ich.“ Ianto wandte sich ihm zu, verschränkte die Arme lose vor der Brust. „Das muss eine der schlechtesten Ausreden sein, die ich je gehört habe. Und ein unglaublich dämlicher Versuch, sich bei mir einzuschmeicheln.“

„Es ist die Wahrheit, okay?“ Jack kämmte sich mit den Fingern durch die Haare und ließ sich auf die Bank fallen, auf der zuvor Ianto gesessen hatte.

„Die Wahrheit?“, wiederholte der Waliser, eine Augenbraue kritisch erhoben. „Haben Sie damit überhaupt Erfahrungen?“

Jack seufzte. „Du hast vorhin gesagt, ich solle am Anfang beginnen. Ich bin bereit, am Anfang zu beginnen, wenn du bereit bist, mir bis zum Schluss zuzuhören.“

„Ich wüsste nicht, was das ändern sollte“, beschied Ianto. Dann setzte er sich steif auf den Stuhl, den Jack freigemacht hatte. „Okay. Ich habe im Moment nichts anderes zu tun und ich bin immer an einer guten Geschichte interessiert.“

Ein schiefes Grinsen erschien auf Jacks Gesicht. „Können wir vielleicht wieder zum Du zurückkehren? Das lässt das ganze weniger wie ein Verhör aussehen.“

Ianto hob gleichgültig eine Schulter. „Der Anfang.“



„Was ich über meinen Bruder und meinen Vater erzählt habe, war die Wahrheit. Nach ihrem Tod wurde ich aus der Bahn geworfen. Ich landete im Jugendarrest. Der Richter hat mich vor die Wahl gestellt, Militärdienst zu leisten oder einen großen Teil meiner Jugend im Gefängnis zu verbringen.“ Jack räusperte sich. „Damals hatte ich bereits gefälschte Papiere und einen neuen Namen. Obwohl ich erst sechzehn war, hat niemand angezweifelt, dass ich achtzehn bin und ich leistete vier Jahre Militärdienst. Dann war ich eine Weile gar nichts. Und dann bin ich ein Dieb geworden.“

Ianto stand auf. „Den Rest kannst du mir draußen im Garten erzählen“, erwiderte er und Jacks Herz machte einen albernen kleinen Hüpfer, als Ianto die förmliche Anrede fallen ließ. „Ich denke, ich brauche frische Luft, um mir das anzuhören.“

„Den Rest?“, erkundete sich Jack vorsichtig, während er ihm folgte.

„Mir ist klar, dass du es auf Owens Sammlung abgesehen hast, oder zumindest Teile davon. Ich will Details wissen, damit ich Maßnahmen gegen den nächsten Dieb ergreifen kann“, erklärte Ianto nüchtern.

Oh. Das.

Nun, die Nacht war noch jung. Jack blieb also Zeit, Ianto umzustimmen…

***

Tosh verabschiedete sich von Owen, der sie noch auf einen letzten Drink in die Bibliothek einladen wollte, um nach Jack zu sehen. Es war nicht nur ein Vorwand, den sie ihm gegenüber aufbrachte. Sie musste wirklich dringend mit Jack reden. Ihre Pläne… sie mussten den Coup abblasen. Die Vorstellung, wie enttäuscht Owen sein würde, ihre wahre Rolle zu entdecken… Es war ihr unerträglich. So unerträglich, wie ihre Gefühle für einen fast fremden Mann unerklärlich waren...

Seit der Gartenparty hatte sie ihren Freund nicht mehr gesehen. Sie klopfte an seine Tür, wartete einen Moment und klopfte dann erneut. Tosh lauschte eine Weile auf ein Geräusch von drinnen, aber es blieb alles still. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war noch nicht so spät, dass es wahrscheinlich schien, dass Jack bereits schlief.

Mit einem Aufseufzen schlüpfte sie aus ihren hochhackigen Sandalen und trug sie in der Hand, als sie sich auf die Suche machte. Vielleicht war er draußen - der Abend war lau, nicht was man vom Sommer in Wales so erwartete. Überhaupt war alles anders, als Tosh es sich vorgestellt hatte. Dieses Haus, die Menschen, die darin lebten und natürlich vor allem Owen. Ein wenig kam sie sich vor wie in einem Film. Einer Romanze, in der ein Mädchen einen Millionär trifft und sie sich verlieben. Richtig. Und dann heirateten sie um bis ans Ende ihres Lebens glücklich miteinander zu sein. Aber das Leben war kein Märchen und sollte Owen dahinter kommen, weshalb sie und Jack wirklich hier waren, dann war das beste, dass sie sich erhoffen konnte, dass sie nur rausgeworfen wurden. Ihre Eltern würden die Schande nicht überleben, sollte sie im Gefängnis landen…

Der Duft der Rosen schlug wie eine warme Welle über ihr zusammen, als Tosh durch die Terrasse nach draußen trat. Fleißige Helfer hatten in der Zwischenzeit - bis auf das stellenweise arg zertrampelte Gras - bereits alle Spuren der Party getilgt.

Stimmen drifteten durch die Luft - Jacks Stimme, um genau zu sein - und Tosh folgte ihnen. Sie trat durch einen üppig mit weißen Rosen bewachsenen Bogen in einen anderen Teil des Rosengartens. Und stoppte.

Ein paar Schritte von ihr entfernt saß Jack auf dem Boden, direkt im Gras, die Knie hochgezogen, die Arme um die Beine geschlungen. Er sah zu Ianto Jones hoch, der gegen den Rand eines leeren Vogelbades oder Pflanzbeckens lehnte, und irgendetwas beschrieb oder erklärte, dass ihren Freund offensichtlich vollkommen in den Bann zog.

Lächelnd wandte Tosh sich ab und ging zurück im Haus. Sie konnte warten. So ungezwungen hatte sie Jack schon eine Weile nicht mehr mit jemand anderem als ihr selbst erlebt - und das mitten in einem Job. Aber dann hatte ihr Abendessen mit Owen ja auch nur sehr wenig mit dem Sammeln von Informationen zu tun gehabt... Und sie hatte so eine Ahnung, dass ihr Vorschlag, den Diebstahl abzublasen, vielleicht nach der heutigen Nacht gar nicht auf so viel Ablehnung stoßen würde.

***

Jack zupfte einen Grashalm aus dem Rasen und rollte ihn zwischen den Fingern, während er auf Iantos Reaktion wartete. Er hatte nichts ausgelassen - nun, nichts Wichtiges - und der Waliser kommentarlos zugehört.

Schließlich schüttelte Ianto den Kopf. „Du meinst, du hattest mit Plänen wie diesem tatsächlich schon mal Erfolg? Stiehlst du normalerweise Lollis von Kleinkindern?“

Es dauerte einen Moment, bis Jack diese unerwartete Antwort verdaut hatte. „Du hast ein Problem mit meiner Performance?“

„Performance ist das richtige Wort“, entgegnete Ianto. „Du solltest vielleicht versuchen, dein Geld auf ehrliche Weise zu verdienen. Als Autor von Abenteuerromanen, zum Beispiel. Oder Krimis.“

„Ich überlege gerade schwer, ob ich beleidigt sein oder mich geschmeichelt fühlen soll.“ Jack musterte den anderen Mann. Iantos Pokermiene war beeindruckend. Er hatte sich definitiv für den falschen Bruder interessiert, als er seine Pläne schmiedete.

Ianto stieß sich von dem Vogelbad ab, gegen das er sich gelehnt hatte und rieb die Hände aneinander, um sie von Schmutz zu reinigen. „So amüsant der Abend auch war“, meinte er trocken. „Es wird langsam spät und ich habe einen Tag voller Termine vor mir.“ Er wandte sich zum Gehen.


Jack sprang auf und hielt ihn am Arm fest. „Ianto… wo stehen wir jetzt?“, fragte er.

„Wir stehen immer noch im Garten meiner Mutter“, entgegnete der Waliser und zog seinen Arm aus Jacks Griff. „Gute Nacht, Mister Harkness.“ Er ging Richtung Haus.

„Dann… Heißt das, ich soll sofort meine Koffer packen und morgen früh in mein Mietauto steigen? Oder eskortieren mich gleich ein paar finster dreinsehende Wachmänner durchs Tor, wo die Polizei auf mich wartet?“ Jack sah ihm nach, die Arme ausgebreitet, als stände er kurz davor, auf die Knie zu fallen.

Der Waliser stoppte und drehte sich zu ihm um. „Definitiv eine Ader für Melodrama“, meinte er trocken. „Ich bleibe dabei, was ich früher gesagt habe. Finde eine Ausrede für Owen und verlasse mit Miss Sato Maenor Llyswennod.“

„Ist das alles?“ Jack war nicht sicher, was er damit meinte. Alles zwischen ihnen? Alles, was Ianto unternehmen würde?

Ianto schwieg einen sehr langen Moment. „Ich erwarte natürlich, dass der erste Artikel fertig ist, wenn du zurückkommst. Material dafür solltest du ja bereits genug gesammelt haben.“

„Wenn ich zurück…komme?“, wiederholte Jack überrascht.

„Nächstes Wochenende. Wenn ihr schon Donnerstagabend London verlasst, wird es sogar ein langes Wochenende. Bei deiner Kreativität solltest du doch bis dahin zumindest mit dem Entwurf des ersten Artikels fertig sein, oder?“ Ianto zog eine Augenbraue hoch.

„Das… das sollte machbar sein.“ Jack sah ihn immer noch verwundert an. „Was ist mit Tosh?“

„Ich überlasse ihr die Entscheidung, ob sie meinem Bruder die Wahrheit sagt - sollte sich die Beziehung zwischen ihnen intensivieren“, erklärte Ianto leicht ungeduldig. „War es das jetzt?“

„Eine Frage noch.“ Jack trat zu ihm. „Was ist mit uns und unserer Beziehung?“ Vielleicht nicht ganz das richtige Wort dafür…

Anstelle einer Antwort wandte sich Ianto zur Seite und pflückte eine Rose. Er hielt sie einen Moment fast nachdenklich in der Hand, bevor sie Jack überreichte. „Ein Andenken.“

Es war eine völlig natürlich und ungekünstelt wirkende Geste, aber vielleicht nicht vollkommen unschuldig. Die Finger des anderen Mannes streiften seine für einen langen Moment.

Es kam selten vor, aber Jack fehlten die Worte. Stattdessen sah er auf die Blume in seiner Hand. Als er den Blick hob, stand Ianto noch immer vor ihm, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Alle Vorsicht über Bord werfend, beugte Jack sich vor, die andere Hand bereits nach dem Waliser ausgestreckt, um ihn näher zu sich zu ziehen, damit er ihn küssen konnte.

„Hier steckt ihr also. Störe ich?“, meinte Harper trocken. „Ianto, langweilst du wieder jemand mit deinen Rosen? Wir haben Gärtner für so etwas.“

„Ich finde Rosen einfach faszinierend“, erwiderte Jack.

„Ihr entschuldigt mich sicher, es war ein langer Tag“, wandte sich Ianto an seinen Stiefbruder. „Owen, ich denke Mister Harkness hat Neuigkeiten für dich. Nos da.“ Mit einem Nicken in Jacks Richtung ging er.

Harper wandte sich Jack erwartungsvoll zu und er räusperte sich. „Es ist so…“, begann er seine rasch zurechtgelegte Erklärung.

***

„Ich habe gehört, Owen war begeistert von deinem ersten veröffentlichten Artikel über seine Sammlung.“ Ianto lehnte sich zurück, die Arme locker vor der Brust verschränkt. „Man hätte fast denken können, er stamme aus seiner Feder.“ Heute trug der Waliser Jeans, Turnschuhe und ein dunkelrotes Hemd, das am Hals offen war. Es sah nicht so aus, als wolle er noch ein paar Stunden mit entspannendem Jäten verbringen.

Aber so wie es aussah - und Jack spürte eben einen weiteren Regentropfen im Nacken - machte das Wetter ohnehin einen Strich durch jegliche Pläne zur Gartenarbeit. Der Abend war lau, aber das außergewöhnlich heiße Sommerwetter, das bei seinem ersten Besuch auf dem Gut geherrscht hatte, war zu einer angenehmen Erinnerung verblasst.

Im Verlauf der letzten Wochen - genauer gesagt, den Wochenenden, die er hier verbracht hatte - war der Sommer in einen regnerischen Herbst übergegangen. Im Gegensatz dazu war das „Klima“ zwischen ihm und dem jüngeren Mann mit den blaugrauen Augen wesentlich wärmer geworden, um beim Lieblingsthema der Briten zu bleiben. Der herausfordernde Ton zwischen ihnen war flirtender geworden. Selbst bei Myfanwy hatte Jack Fortschritte erzielt. Allerdings war Iantos Herz wohl nicht mit einer Tüte Erdnüsse zu gewinnen…

Er trat unter das Sonnensegel, das jetzt eher als Regenschutz diente und musterte den Waliser. „Nun, ich habe ihn tatsächlich an ein renommiertes Magazin verkaufen können, obwohl ich keinen Namen als Autor habe.“ Jack fragte sich, ob er einfach neben dem anderen Mann auf der freien Hälfte der Rattanliege Platz nehmen sollte. Kissen und Polster waren mit dezentem Rosenmuster verziert. Natürlich, was sonst. Wie nicht anders zu erwarten, hatte er ihn in einer ziemlich versteckten Ecke des Rosengartens gefunden. Er schuldete Carys, der Köchin, etwas für den Tipp. „Ich habe dich beim Tee vermisst. Und beim Abendessen.“

Ianto rückte ein wenig zur Seite, was Jack als Einladung sich zu setzen verstand. „Ich hatte eine Verabredung in Cardiff. Mit alten Freunden. Wir hatten uns viel zu erzählen und ich habe die Zeit darüber vergessen. Hat Miss Sato dich begleitet?“

Immer mehr Regentropfen prasselten auf das Segeltuch über ihren Köpfen. Jack drehte sich zur Seite, um Ianto anzusehen und sein Bein streifte das des anderen Mannes. „Ich glaube, Owen hat veranlasst, dass ich ohne sie überhaupt nicht mehr durchs Tor fahren darf“, meinte er trocken. „Wobei sie seither offenbar vergessen hat, dass ich überhaupt noch existiere. Sie hat mich beim Abendessen vollkommen ignoriert.“ Jack beugte sich vor und setzte in einem verschwörerischen Tonfall hinzu: „Ich fürchte, Mister Grant denkt bereits, ich hätte Absichten bei ihm, weil ich mich notgedrungen die ganze Zeit mit ihm unterhalten habe.“

„Ah.“ Iantos Miene war so neutral wie seine Stimme. „Und hast du? Absichten bei Huw?“ Er hob eine Schulter, zögerte, als ob er eine Bemerkung machen wollte, sich aber im letzten Moment um entschied und nichts sagte.

„Ich glaube, ich habe inzwischen sehr deutlich gemacht, dass ich Absichten bei dir habe.“ Im Schweigen, das sich anschloss, überdeckte der stärker werdende Regen vorübergehend jedes andere Geräusch.

Schließlich atmete Ianto hörbar aus und schüttelte den Kopf. „Mister Harkness. Ich fühle mich durchaus geschmeichelt. Aber... Es tut mir leid, ich bin nicht homosexuell und nicht interessiert.“ Er starrte in den Regen.

Wenn Jack eines konnte, dann eine Lüge erkennen, wenn sie ihm auf der Nase herumtanzte. Und was immer Ianto Jones sein oder nicht sein sollte, er war definitiv interessiert. Ansonsten hätte Jack heute Morgen nicht zum fünften Mal die Reise nach Wales angetreten, sondern würde den Regen vermutlich durch vergitterte Fenster betrachten. Was ihm fehlte, war die Sicherheit, dass Jack es ernst meinte. Und das tat er, zu seiner nicht geringen, eigenen Überraschung. „Das trifft sich gut, Mister Jones“, erwiderte er sehr viel leichtherziger, als er sich in diesem Moment fühlte. „Ich auch nicht.“ Jack legte beide Hände um Iantos Gesicht, drehte es zu sich herum und küsste ihn. Manchmal überzeugten Taten mehr als Worte…

Iantos Widerstand war kurz und zufriedenstellend halbherzig, bevor er nach Jacks Handgelenken griff, aber nicht, um sie von seinem Gesicht wegzuziehen. Und ihn mit einer Leidenschaft zurückküsste, die Jack ahnen ließ, dass es noch sehr viel gab, das er über Ianto Jones zu lernen hatte.

autor: lady charena 301-400, slash, fanfic, fandom: torchwood 1-100

Previous post Next post
Up