Titel: Der Indianer
Autor: Aisling
Fandom: Karl May
Personen: OFC, OMC, Winnetou
Inhalt: Winnetou mit anderen Augen gesehen.
FF-25 Antwort: Prompt 24 freie Wahl (beobachten) & Prompt 25 Freie Wahl (überleben)
Disclaimer: Ich darf damit spielen, ohne irgendwelche Rechte zu verletzten, schließlich ist Karl May lange genug tot. Trotz allem hoffe ich, dass ihm die Story gefallen hätte.
Beta:
magnifica7Dank:
thelana ohne sie wäre dieser dritte Teil nie entstanden.
Teil 1 Teil 2 Draußen schien die Sonne und nichts schien sich verändert zu haben. Doch ich wusste, dass ich mir einen Feind gemacht hatte.
Die härteste Auseinandersetzung hatte ich noch vor mir: meinem Vater mitzuteilen, dass er ab sofort keinen Alkohol mehr bekommen würde.
Nach dem Grauen, das ich gerade hinter mir hatte, ging ich nach Hause, überzeugte mich, dass es Thomas gut ging und trank in der warmen Küche eine Tasse Tee. Ich umklammerte den Becher mit beiden Händen, da meine Finger stark zitterten und ich das belebende Getränk nicht verschütten wollte.
Als ich meinen Vater die Stufen hochkommen hörte, zuckte ich zusammen. Ich hatte mindestens zwei Stunden in der Küche gesessen und vor mich hin gestarrt. Ich hatte noch nicht einmal gemerkt, dass die Magd angefangen hatte, das Abendessen vorzubereiten. Dankbar nickte ich ihr zu und ging in die Stube, um den Tisch zu decken.
Ich war gerade fertig, als mein Vater frisch gewaschen den Raum betrat. Sein erster Weg führte zum Schrank, in dem die Whiskyflasche stand. Er goss sich das Glas halb voll und leerte es in einem Zug, er schüttete nach und setzte sich an den Tisch.
Mich hatte er - wie üblich - mit keinem Ton begrüßt.
Mir fiel auf, dass er in den letzten Monaten jeden Abend solche Mengen zu sich genommen hatte, ohne dass es mir aufgefallen war.
Wie viel hatte er direkt unter meinen Augen getrunken, ohne dass ich es gemerkt hatte? Und wie oft war er mittags in den Saloon gegangen, statt zu uns zu kommen?
Ich sagte noch nichts, wartete, bis wir zu Abend gegessen hatten. Mit vollem Magen war mein Vater nicht so aufbrausend.
Als er seinen Teller leer gegessen hatte, stand er auf und füllte sein Glas nach.
Ich blieb sitzen und hatte sittsam mein Haupt gebeugt, schaffte es aber dennoch, ihn zu beobachten - eine Kunst, die mir meine Mutter schon als kleines Mädchen beigebracht hatte.
„Vater, ich muss mit dir sprechen.“
„Hast du schon wieder dein Haushaltsgeld verschleudert? Hast du bei deiner Mutter überhaupt nicht gelernt, was das Wort ‚Sparen’ bedeutet? Du hattest genug für diesen Monat. Du bekommst nichts.“
„Wie kann ich sparen, wenn du alles mit vollen Händen rausschmeißt? Bei Patrick hast du fast 30 Dollar anschreiben lassen und Mr. Tannigen schuldest du 228,37 Dollar. Wer weiß, wo du sonst noch anschreiben lässt. Wenn du schon nicht an mich denkst, solltest du dir wenigstens um Thomas’ Zukunft Sorgen machen.“
Mein Vater wurde angesichts der Beschuldigung weiß wie die Wand. Mit zitternden Fingern stellte er sein Glas ab.
„Was bildest du unverschämtes Gör dir ein? Spionierst mir hinterher…“ Er brüllte mich an, warf mir Beleidigungen an den Kopf, doch schließlich fehlten ihm die Worte. Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben.
„Ich habe auch bei Patrick anschreiben lassen, weil ich mit dem Haushaltsgeld nicht zurecht kam. Wie du weißt, ist morgen Zahltag für die Magd, da hätte ich dich um Geld bitten müssen. Damit ich mich nicht zwei Mal mit dir streiten muss, habe ich Patrick gefragt, wie viel er von uns bekommt, und herausgefunden, dass du Schulden machst.“
Ich brach ab, wollte nicht erzählen, was im Saloon passiert war.
Mein Vater hatte sich hingesetzt und starrte auf das Glas vor sich.
Ich wartete auf seine Reaktion, einen beißenden Kommentar, doch es kam nichts. Er starrte einfach nur vor sich hin und schien ganz weit weg zu sein.
Als mir die Stille unerträglich wurde, versuchte ich, zu ihm durchzudringen.
„Vater?“ Ich legte meine Hand auf seinen Unterarm.
Er zuckte zusammen, löste seinen Blick von dem Glas und sah mich an.
„Du hattest damals Recht, als du mir vorwarfst, dass ich meine Heather im Stich gelassen hatte. Doch ich wusste nicht weiter. Wie du weißt, hatte Doktor Brown die Anweisung gegeben, dass sie sich nicht aufregen durfte, wenn sie Thomas nicht verlieren und selbst in Lebensgefahr geraten wollte. Jedes Mal, wenn ich zu ihr ging, wurde Heather wütend. Sie bekam einen roten Kopf und beschimpfte mich. Sie gab mir die Schuld an ihrer Schwangerschaft, dabei hatte sie sich doch so viele Jahre nach einem weiteren Kind gesehnt. Der Doktor bekam bei einem seiner vielen Besuche Heathers Reaktion auf mich mit. Er nahm mich zu Seite und gab mir die Anordnung, mich von ihr fernzuhalten.“ Er schluchzte auf. Mein starker Vater, der noch nicht einmal bei der Beerdigung wirkliche Trauer gezeigt hatte, weinte. „Was hätte ich auch machen sollen? Er hatte ja Recht. Anfangs stahl ich mich hin und wieder nachts in das Schlafzimmer, damit ich sie wenigstens sehen konnte. Doch zum Ende der Schwangerschaft schlief Heather sehr unruhig und einmal erwachte sie, als ich gerade den Raum betrat. Ich schaffte es gerade noch, die Tür zuzuziehen, bevor sie mich erkannte. Doch danach riskierte ich selbst diese Besuche nicht mehr. In den Stunden nach der Geburt, bevor sie von uns schied, war sie wieder meine liebenswerte, lächelnde Heather, die mir alles verzieh. Aber wie soll ich mir selbst verzeihen? Wie soll ich ohne sie leben?“
Auch mir liefen die Tränen herab. Ich sah die Verzweiflung meines Vaters und hatte keinen Trost für ihn.
„Ich weiß es nicht, Vater. Aber wenn du so weiter machst, zerstörst du nicht nur dein Leben, sondern auch das von Thomas und mir.“
„Das will ich nicht.“ Es war ein Flüstern, für mich war es alles, was ich wissen musste.
Ich stand auf, ging zu ihm und nahm ihn in den Arm. Als er mich so fest drückte, dass es mir den Atem raubte, wusste ich, dass wir den ersten Schritt geschafft hatten.
Die nächsten Wochen waren nicht einfach. Ich musste meinen Vater drängen, mit mir einen Haushaltsplan aufzustellen. Auf den Cent genau sollte er mir sagen, wie hoch die Kosten für die Schmiede waren und wie viel er einnahm. Die Ausgaben für unseren Haushalt kannte ich zu genau.
Er war dazu nicht in der Lage. Ich stellte fest, dass meine Mutter früher die Bücher geführt hatte und Vater seit dem Beginn der Schwangerschaft keinen Eintrag in das Kassenbuch gemacht hatte. Schlimmer noch, es gab so gut wie keine Belege und eine nachträgliche Buchführung war unmöglich. Die Kasse war nicht leer, wie ich befürchtet hatte, sondern mit über 50 Dollar gut gefüllt. Trotz der Proteste meines Vaters nahm ich das Geld zur Verwaltung an mich.
Es war eine heftige Auseinandersetzung, aber ich konnte ihn überzeugen, dass ich ab sofort die Buchführung der Schmiede übernehmen würde und er keinen Einfluss mehr auf das Bargeld haben würde, bis die Schulden bei Mr. Tannigan und Patrick getilgt waren.
Am schlimmsten war nicht unsere finanzielle Situation, sondern Vaters schlechte Laune, weil er weder Alkohol noch Geld bekam. Er war zuerst unausstehlich und ich vermied jedes Zusammentreffen mit ihm.
Eigentlich war ich froh, dass er mir aus dem Weg ging. Ich hatte Angst, dass sich der Zwischenfall im Saloon herumsprechen und man mich verachten würde. Ich war so angespannt, dass ich mehrfach unsere Magd aus nichtigen Gründen anbrüllte. Dabei wollte ich das nicht, sie sollte gerecht behandelt werden - auch wenn sie mich nicht als ihre Herrin akzeptierte. Aber genau dieses Verhalten bewirkte, dass sie anfing, mich zu respektieren, und meinen Anweisungen folgte.
Als der Vorfall auch nach zwei Wochen nicht publik geworden war und mich auch niemand beim Kirchgang seltsam ansah, war ich mir sicher, dass es keinen Skandal geben würde.
Vielleicht schämten sich die Männer aus dem Saloon für das, was sie getan hatten und schwiegen deswegen. Vielleicht hatte Mr. Tannigan sie aus Sorge vor meiner Erpressung darum gebeten, Stillschweigen zu bewahren. Die Gründe waren mir egal, ich war froh, dass mein Ruf nicht ruiniert war.
Als ich zwei Wochen nach dem Vorfall im Saloon Patrick einen Teil seines Geldes geben wollte, weigerte er sich, es anzunehmen. Ich sollte zuerst die Schulden im Saloon abbezahlen und dann wiederkommen.
Er sah mich dabei in einer Art und Weise an, die nur eins bedeuten konnte: Er wusste über den die Geschehnisse im Saloon bescheid.
Peinlich berührt senkte ich meinen Kopf. Angesichts unserer finanziellen Lage konnte ich sein Angebot nicht zurückweisen und bedankte mich am nächsten Tag mit einem selbstgebackenen Kuchen.
Er hatte aber Recht, ich konnte nicht weiter vorgeben, dass ich Mr. Tannigan nicht kennen und ihm nichts schulden würde.
Am nächsten Sonntag kümmerte sich mein Vater um Thomas, während ich zur Kirche ging. Nach der Messe bat ich Mr. Tannigan um ein Gespräch. Pater Bush hatte ich gebeten, mir als Zeuge beizustehen. Egal, was Winnetou gesagt hatte, ich wollte mit diesem Mann keine Sekunde allein sein.
Ich überreichte dem Saloonbesitzer 20 Dollar und einen Vertrag, den ich mit Pater Bushs Hilfe aufgesetzt hatte.
Darin sagte ich zu, jede Woche fünf Dollar abzuzahlen, solange mein Vater keinen Alkohol mehr bekommen würde. Falls dies passieren würde, würde ich die Zahlung der Schulden verweigern.
Mr. Tannigan las den Vertrag zweimal durch, blickte erst mich, dann den Pater an und unterschrieb.
Anschließend warf er das Dokument auf den Boden, spie aus und verließ wortlos das Pfarrhaus.
Sein Verhalten war mir egal. Seine Unterschrift zählte.
Ich hob den Vertrag auf und gab ihn Pater Bush zur Aufbewahrung.
Erst als ich zu Hause war, gestattete ich es mir, mich weinend in mein Zimmer zu verkriechen.
Die Anspannung der letzten zwei Wochen war zu groß gewesen und meine Angst, zusammen mit Thomas auf der Straße zu landen, noch viel größer.
Erst zum Abendessen verließ ich mein Zimmer und als ich meinen Bruder in den Arm nahm und er mich zahnlos anlächelte, wusste ich, dass der Kampf sich lohnte.
Die nächsten drei Wochen verliefen friedlich.
Mein Vater brachte mir jeden Abend die Einnahmen aus der Schmiede und sagte mir, welche Ausgaben er hatte.
Während er mit Thomas spielte, führte ich das Kassenbuch und anschließend trug die Magd das Abendessen auf.
Jeden Sonntag gab ich Pater Bush 5 Dollar, die er an Mr. Tannigan weiterleitete.
Um das Geld zusammen zu bekommen, sparte ich eisern. Fleisch gab es nur noch sonntags und Patrick wusste schon nach wenigen Tagen, dass ich nur noch das welke Gemüse und schrumpeliges Obst kaufte.
Als mich Pater Bush im Mai darauf hinwies, dass ich aus meinen Kleidern herausgewachsen war, nickte ich nur und ging nach Hause.
Er hatte Recht. Egal in welches meiner Kleider ich schlüpfte, sie zwickten überall und hatten keinen Saum mehr, den ich auslassen konnte.
Geld für neuen Stoff hatte ich nicht.
Schweren Herzens ging ich auf den Dachboden. Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich es nicht über mich gebracht, ihre Kleider wegzugeben. Sie waren mit zu vielen Erinnerungen behaftet. Jetzt würde ich sie abändern und tragen müssen.
Ich hatte ihre Kleidung zusammen mit einem Lavendelsäckchen in eine Truhe gelegt. Als ich einen Rock herausnahm, roch er nicht nach dem Kraut, sondern nach meiner Mutter. Ich atmete den Duft ein, und erinnerte mich an sie. Doch es stiegen nicht die Bilder aus glücklichen Kindertagen hoch, sondern aus dem Endstadium der Schwangerschaft, als sie unerträglich war.
Danach fiel es mir leicht, mir drei einfache Kleider und ein gute Garnitur herauszusuchen.
Zwei Tage später waren sie fertig. Ich war froh, dass ich endlich wieder passende Sachen hatte.
Doch ich hatte nicht mit der Reaktion meines Vaters gerechnet, als er mich zum ersten Mal in Mutters Sachen sah.
Es war Abend und ich stand am Herd, um das Essen abzuschmecken, als er eintrat.
Zuerst bemerkte ich nichts Auffälliges, ich begrüßte ihn und kümmerte mich um die Suppe, doch als er meinen Gruß nicht erwiderte, drehte ich mich um.
Er starrte mich an, dann flüsterte er „Heather?“
All seine Trauer und Verzweiflung lagen in diesem einen Wort.
Schweigend, ohne ein Wort zu sagen schüttelte ich den Kopf. Er blickte mich noch einen Augenblick an, dann drehte er sich um und verschwand.
Erst spät in der Nacht kam er zurück. Ich lag schon im Bett, doch an seinem Gang und daran, wie er die Türen schlug, konnte ich hören, dass er nicht mehr nüchtern war.
Am nächsten Morgen ging er viel früher als üblich in die Schmiede.
Nachdem ich Thomas versorgt und ein wenig mit ihm gespielt hatte, legte ich mir mein einfaches Schultertuch um und ging die Treppe hinab, meinen Vater besuchen.
Ich musste mit ihm reden.
Als ich die Werkstatt betrat, hörte ich den schnellen Rhythmus von zwei Personen, die gemeinsam ein Eisen bearbeiteten.
Ich wollte ihre Konzentration nicht stören, deswegen hielt ich mich im Hintergrund, bis Vater das Eisen zurück ins Feuer legte. Dann räusperte ich mich.
Vater sah mich, drehte seinen Kopf und brüllte dem Knecht zu, dass er das Eisen nicht erkalten lassen dürfe, dann kam er zu mir.
„Was machst du hier?“, fragte er mich. Er ließ mir keine Zeit zu antworten, sondern überschüttete mich mit Vorwürfen. „Du weißt ganz genau, dass meine Kundschaft kein Umgang für dich ist und du deswegen der Werkstatt fernbleiben sollst.“
„Es steht kein Pferd vor dem Tor“, verteidigte ich mich. „Ihr seid allein und ich muss mit dir reden.“
„Willst du mir wegen gestern Vorwürfe machen?“
Vater sah mich böse an, aber ich ließ mich nicht einschüchtern, hob mein Kinn und blickte ihm in die Augen. Doch bevor auch nur eine Anschuldigung meinen Mund verließ, verteidigte er sich.
„Du bist nicht meine Frau und ich bin alt genug, um auch mal zu trinken, wenn mir danach ist. Ich habe nicht vor, es wieder zur Gewohnheit werden zu lassen. Du mischst dich da nicht ein!“
„Wenn ich mich nicht einmischen darf, dann kannst du dir jemand anderen suchen, der deinen Haushalt versorgt, die Bücher kontrolliert und deinen Sohn großzieht. Ich bin aber nicht hier, um mich mit dir zu streiten.“
Auch wenn es gut tat, meinem Vater die Meinung ins Gesicht zu sagen, hatte ich andere Pläne gehabt.
„Nein? Deine Mutter kam immer hier hin, wenn sie mir wegen irgendetwas Vorwürfe machen wollte.“
„Ich bin nicht meine Mutter“, stellte ich fest. „Dass sie mir sehr viel beigebracht hat und ich ihr ähnlich sehe, bedeutet nicht, dass ich auch so handle wie sie. Ich bin hier, weil ich mich um dich gesorgt habe. Ich wollte mich entschuldigen.“
„Wofür?“
Ich räusperte mich.
„Dafür, dass ich dir nicht gesagt habe, dass ich Mamas Kleider tragen muss, um Geld zu sparen. Ich habe nicht daran gedacht, was für ein Schock das für dich sein könnte. Es tut mir leid.“
Sein Gesicht war verschlossen, doch er machte einen Schritt auf mich zu und tätschelte unbeholfen meine Schulter.
„Auch mit Vorwarnung hätte mich der Anblick schockiert. Du siehst meiner Heather nicht nur ähnlich, du bewegst dich auch wie sie. Jedes Mal, wenn du mich anblickst und lächelst, sehe ich Heather. Und die Kleider haben es noch mehr verdeutlicht.“
„Wenn es dich stört, dann packe ich die Sachen wieder in die Truhe.“
Sie waren bequem und nichts zwickte, doch wenn mein Vater den Anblick nicht ertragen konnte, dann würde ich mich in meine alten Kleider zwängen.
Er schob mich zum Tor, wo viel Licht war, betrachtete mich und schüttelte den Kopf.
„Du siehst gut aus. Viel besser als in deinen Mädchenkleidern. Wenn ich nicht alles Geld versoffen hätte, könnte ich dir Stoffe für neue Kleidungstücke kaufen. So werde ich damit leben müssen.“
„Danke, Vater.“
„Nicht dafür. Schon gar nicht, nachdem ich gestern weggegangen und entgegen meinem Versprechen getrunken habe. Es tut mir leid, dass ich dich enttäuscht hatte.“
Er hatte seine dreckige Lederschürze an und das Gesicht war rußverschmiert. Es störte mich nicht. Ich nahm ihn in den Arm und drückte einen Kuss auf seine Wange.
Ich hatte ihn zum letzten Mal so geherzt, als ich klein gewesen war und er mir sonntags vorgelesen hatte. Verlegen räusperte er sich. Dafür liebte ich ihn.
Ich löste mich von ihm und lächelte ihn warm an.
Mein Vater schüttelte den Kopf. „Bist du nicht zu alt für so einen Kram?“
„Nicht bei meinem Vater.“
Ich winkte ihm zu und schlüpfte durch die Tür hinaus. Wir hatten eine weitere Hürde gemeistert.
Irgendjemand musste ich von diesem Erfolg erzählen, musste meine Freunde teilen. Die Magd würde mich zwar verstehen, aber sich bestimmt nicht mit mir freuen. Schon gar nicht, wenn ich vorschlagen würde, etwas Besonderes zum Abendessen zu kochen.
Doch Patrick würde es.
Und mit etwas Glück würde er mich auch noch das passende Gemüse günstig anbieten.
Mit meinem Umschlagtuch wischte ich mir über das Gesicht. Es war ein warmer, dunkler Wollstoff, der nie richtig schmutzig, nur manchmal schmierig wurde. Ich sah an mir hinab. Obwohl ich meinen dreckigen Vater umarmt hatte, sah mein Rock noch manierlich aus. Nur ein kleiner, grauer Fleck verriet, dass ich in der Werkstatt gewesen war. Zu wenig, um mir an einem Werktag saubere Sachen anzuziehen.
Ich schürzte meine Röcke, als ich die Straße überquerte, und betrat kurz darauf Patricks Geschäft.
Er war aber nicht allein, sonder Miss Miller stand bei ihm und er rechnete ihre Einkäufe zusammen.
Da ich dieser Klatschtante keinen Grund geben wollte, mich in ein Gespräch zu verwickeln, ging ich auf Zehenspitzen in den hinteren Teil des Ladens. Ich wollte nicht wissen, was sie wieder als schrecklich anstößig empfand.
Sie schien mich nicht bemerkt zu haben, also widmete ich mich in Ruhe meinem Einkauf. Ein Kohlkopf lächelte mich verführerisch an. Wenn ich zur Feier des Tages auch noch eine Speckschwarte kaufen würde, gäbe es im Vergleich zu unseren sonstigen Mahlzeiten einen Festschmaus. Seufzend rechnete ich nach, ob ich es mir leisten konnte.
Ich verabschiedete mich gedanklich von dem Fleisch, als Miss Millers schrille Stimme zu mir rüberklang.
„Wenn seine Tochter nicht den Haushalt an sich gerissen hätte, wäre er ja eine gute Partie. Aber so herrisch, wie sie ist, wagt man es ja noch nicht einmal, ihn auf der Straße zu grüßen. Dabei ist er…“
„Miss Miller, ich…“ Patrick versuchte, sie zu stoppen, ich sah ganz genau seine bewusst ausdruckslose Miene. Im Gegensatz zu seinem Vater machte er sich überhaupt nichts aus dem Klatsch und Tratsch des Ortes. Viel lieber redete über gute Pferde.
Doch sie erkannte sein Desinteresse nicht und schwatzte weiter.
„Ich weiß, Sie haben von ihr ja schon mehr als nur einen Korb bekommen. Mich wundert, dass sich Miss O’Braily überhaupt noch in Ihr Geschäft traut.“
„Sie reden von etwas, was Sie überhaupt nichts angeht. Das macht 2,69 Dollar.“
Angesichts seines kalten, bestimmten Tonfalls zuckte ich zusammen.
„Schreiben Sie es an und schicken Sie wie üblich meinem Vater die Rechnung.“
„Es tut mir leid, Miss Miller, aber für Sie gibt es keinen Kredit mehr. Entweder zahlen Sie bar oder ich muss die Ware einbehalten.“
„Was soll das?“ Ihre Stimme stieg noch einige Oktaven höher und tat mir in den Ohren weh.
„Wer in meinem Geschäft Personen beleidigt, die mir lieb und teuer sind, bekommt keinen Kredit. Ich habe Sie schon bei Ihrem letzten Einkauf gewarnt, jetzt reicht es mir, dass sie meine Wünsche ignorieren. Zahlen Sie, oder ich räume die Ware weg?“
Was hatte Miss Miller beim letzten Einkauf erzählt, dass Patrick so verärgert war? So kannte ich ihn gar nicht.
„Ich habe kein Geld mit“, musste sie zugeben. Ihre Tonlage war gesunken, dafür hörte sich die Stimme weinerlich an.
„Tja, dann…“ Patrick zuckte mit den Achseln. „Denken Sie bitte beim nächsten Einkauf daran, Geld mitzubringen, und zahlen Sie bitte auch noch 22,15 Dollar. So viel schulden Sie uns noch. Und richten Sie Ihrem Vater meine besten Empfehlungen aus.“
Als Miss Miller sich wutentbrannt umdrehte und fast schon im Laufschritt das Geschäft verließ, versteckte ich mich mehr schlecht als recht hinter einem Getreidesack. Sie war jedoch so aufgeregt, dass sie mich nicht bemerkte.
Nachdem ihr Schatten aus dem Eingang verschwunden war, stand ich auf und blickte ihr aus dem Fenster hinterher.
Miss Miller eilte zur Kutsche ihres Vaters und schien sich bei ihm bitterlich über Patricks Verhalten zu beschweren.
„Sie wird es nie verstehen. Selbst hier, wo auf eine Frau vier Männer kommen, fragt sie sich nicht, warum sie noch keinen Antrag bekommen hat. Sie gibt immer den andern die Schuld.“ Patrick war hinter mich getreten und blickte auf die Straße.
„Glaubt sie ernsthaft, dass mein Vater auch nur einen Moment erwägt hat, sie zu heiraten?“
„Sie glaubt es bestimmt, aber dein Vater mag zwar hin und wieder zu viel trinken, aber verrückt ist er noch lange nicht.“
Miss Miller war eigentlich hübsch und erfahren in der Haushaltsführung, aber ihr bösartiges Mundwerk schaffte es, jeden abzustoßen. Ich wusste, dass ich ihre Wort nicht ernst nehmen sollte - und doch, sie hatte mich mit ihren bösen Kommentaren getroffen.
„Was sie eben gesagt hat…“ Ich zögerte. Wie sollte ich es ausdrücken?
„Glaube ihr kein Wort. Ohne dich würde dein Vater jetzt auf der Straße betteln und Thomas hätte den Winter nicht überlebt.“
„Das meine ich nicht. Sondern das, was sie über uns gesagt hatte.“
Ich sah angestrengt aus dem Fenster und hoffte, dass Patrick mir nicht sagen würde, dass es nur Freundschaft zwischen uns geben würde.
„Aus ihr sprach der Neid. Ich werde dich noch fragen, ob du meine Frau werden möchtest. Ich kann mir an meiner Seite niemand sonst vorstellen. Doch das hat noch Zeit.“
Es war genau das, was ich hören wollte, und ich atmete erleichtert auf.
„Danke, dass du wartest.“
Starke Hände zogen mich in eine Umarmung und ich schmiegte mich glücklich an ihm.
So standen wir einige Minuten und beobachteten, dass Miss Miller zu ihrem Vater in die Kutsche stieg und fort fuhr.
Ich war glücklich. Auch wenn es noch einige Jahre dauern würde, bis mein Vater seine Trauer überwunden hatte und eine neue Gefährtin auswählte, machte es mir nichts aus.
Wenn ich jetzt Patrick heiraten würde, würden alle tuscheln, dass ich zu jung für eine Ehe sei und dass ich vor meinem Vater fliehen würde. Das war aber nicht mein Motiv.
Für mich war viel wichtiger, dass Thomas mich brauchte und ich nicht bereit war, ihn an eine andere Frau abzutreten. Auch wenn meine Mutter ihn geboren hatte, er war mein Sohn. Und wenn er in zwei oder drei Jahren laufen konnte, dann würde es vielleicht nicht ganz so schlimm sein, dass er in einem anderen Haus wohnte. Das hoffte ich jedenfalls.
Als ein rassiger schwarzer Hengst vor dem Laden stehen blieb. merkte ich, dass ich nicht mehr Patricks volle Aufmerksamkeit hatte. Pferde waren halt seine große Liebe.
Dann sah ich, wer abstieg, und ich beobachtete ihn. Es war Winnetou.
Irgendwie war er genau wie mein Vater und Patrick schon immer Teil meines Lebens gewesen. Zuerst nur schemenhaft und von ganz weit weg. Doch dann wurde er zu meinem rettenden Engel. Vor ihm brauchte ich keine Geheimnisse zu haben und so hielt ich Patrick fest, als er sich von mir lösen wollte, als Winnetou die Schwelle überschritt.
Ich wollte, dass er von uns erfuhr.
Winnetou reagierte auch so, wie ich es gehofft hatte. Als er uns sah, strahlten seine Augen, er lächelte mich an und neigte zur Begrüßung den Kopf.
Ich lächelte zurück und als Patrick die Umarmung löste, ließ ich es zu. Er ging an die Theke, doch Winnetou blieb vor mir stehen.
Ich spürte, wie mein Herz schneller klopfte. Er war mit seinen edlen Gesichtszügen, den langen schwarzen Haaren und dem schlanken Körper, der von seiner indianischen Tracht umschmeichelt wurde, einfach atemberaubend schön.
Doch da ich wusste, was ich wirklich wollte - Patrick -, blieb ich ruhig stehen und lächelte ihn an.
„Winnetou macht sich Sorgen. Haben sich die Männer aus dem Saloon benommen? Oder haben sie es gewagt, Sie noch einmal zu belästigen?“
„Nein“, ich schüttelte meinen Kopf. „Danke für Ihre Sorge. Mit Mr. Tannigan habe ich eine Vereinbarung getroffen, Vaters Schulden in Raten zu zahlen.“
„Das freut Winnetou. Wie geht es Ihrem Vater? Ist er dem Feuerwasser entkommen?“
„Noch nicht ganz. Aber er kämpft dagegen an. Das ist für mich alles, was zählt.“ Ich erinnerte mich, dass auch er einen Grund gehabt hatte, den Saloon aufzusuchen. Ich brauchte die Frage noch nicht einmal zu formulieren, als sein Ausdruck traurig wurde.
„Mir war kein Erfolg vergönnt. Mein Stammesbruder hat den Stamm verlassen und sich ganz dem Feuerwasser hingegeben.“
„Das tut mir leid.“ Spontan nahm ich seine Hand und drückte sie, ließ sie schnell los, weil ich einfach nicht wusste, ob es ihm recht war.
„Danke.“ Er blickte mich ernst an, dann nickte er mir zu und ging zu Patrick.
Als er eine halbe Stunde später ging, wusste ich noch nicht, dass ich in zum letzten Mal gesehen hatte.
Die Wochen und Monate vergingen. Vaters Kampf gegen den Alkohol war erfolgreich. Immer länger wurden die Zeiten, in denen er keinen Tropfen anrührte. Nur noch ganz selten passierte es, dass ihn etwas so aufwühlte, dass er Trost im Alkohol suchte.
Der Sommer kam und es wurde Herbst. Anfang Oktober schaffte ich es, Mr. Tannigan die letzte Rate zu überreichen. Dank eines Auftrages des Bürgermeisters hatte Vater mehr Geld eingenommen als erwartet.
Zum ersten Mal seit Monaten konnte ich es mir wieder leisten, Kaffee und frisches Fleisch zu kaufen und feierte es mit einem Festmahl.
Als Winnetou beim ersten Wintersturm noch nicht zurückgekehrt war, um die bestellten Bücher abzuholen, sorgte ich mich sehr um ihn.
In der Zeit machte Thomas seine ersten wackeligen Schritte.
Erst kurz vor Weihnachten erfuhr Patrick von einem heruntergekommenen Westmann, der seine Vorräte bei ihm aufstockte, dass Winnetou im Sommer am Berg Hancock von einem Sioux erschossen worden war.
An dem Abend kam Patrick zum ersten Mal in unser Haus und erzählte mir, was er erfahren hatte. Er war bei mir, als mir die ersten Tränen über die Wange liefen. Er nahm mich in den Arm und hielt mich für eine sehr lange Zeit.
Obwohl Vater nicht verstand, warum ich trauerte, ließ er uns allein im Wohnzimmer und brachte Thomas ins Bett.
Es dauerte lange, bis ich keine Träne mehr hatte und ich nicht mehr ständig schluchzte. Erst dann ließ Patrick mich los und ging.
An der Tür drehte er sich zu mir um.
„Ich habe meine Meinung geändert, Beth. Wir haben keine Zeit mehr. Ich will nicht mehr auf einen unbestimmten Zeitpunkt warten, um mit dir zusammenzuleben, zu lachen und zu weinen. Ich will dich sofort.“
Ich nickte. Er hatte Recht, wenn selbst ein Mann wie Winnetou nicht sicher war, was konnte uns dann geschehen?
Patrick umarmte mich und dann war er zur Tür hinaus.
Als ich Vater sagte, dass Patrick mir einen Antrag gemacht hatte, nickte er zustimmend und schlug vor, dass Thomas bei uns wohnen konnte und er abends zu Besuch kommen würde.
Ich bat mir Bedenkzeit aus, um mit Patrick darüber zu sprechen.
Er war einverstanden.
Es war ein Tag vor Weihnachten, als mein Vater mich zum Altar geleitete. Pater Bush hielt eine ergreife Rede, doch meine Augen hatten sich auf Patrick geheftet. Er war alles, was zählte. Nachdem wir die Ringe getauscht hatten, musste ich mir eine Freudenträne aus dem Augenwinkel wischen.
Doch die Freude verging, als wir die Kirche verließen und ich auf der anderen Straßenseite einen schwarzen Haarschopf sah. Zuerst dachte ich, dass es Winnetou sei. Dass der Westmann Patrick eine fantastische Geschichte erzählt hatte, um einen Rabatt zu bekommen. Als der Indianer sich umdrehte, erkannte ich meinen Irrtum.
Es tat so weh.
Monate später - ich hatte von Patrick die Buchführung übernommen, nahm ich das Paket mit Winnetous Bestellung unter dem Tresen weg.
Es war in Ölpapier eingewickelt und fest verschnürt. Lange hielt ich es in den Händen und konnte mich nicht entscheiden, was ich damit anfangen sollte.
Dann nahm ich es und brachte es in unser Schlafzimmer. Ich legte das Paket unten in meinen Nachttisch.
Dort liegt es immer noch. Es ist mein ganz persönlicher Schatz.
Ende.
meine
FF-25 Tabelle