Title: Zehn neue Freizeitideen für Sie und Ihre willenlose menschliche Marionette (Teil II)
Words: ca. 1900
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part 1 Zehn neue Freizeitideen für Sie und Ihre willenlose menschliche Marionette (Teil II)
In Hogwarts war Emmeline immer ganz kompetent in Wahrsagen gewesen. Ihre Wettervorhersagen für die nächsten zwei Tage waren gut, richtig gut (ihr brach das Herz, als sie feststellte, dass die Muggels da irgendwie noch besser drin waren). So richtig brauchbar wurde das Talent erst, als sie Marlene McKinnon kennenlernte, die in der Schule vier Jahre über ihr gewesen war und die profanes Wahrsagen mit inferenzstatistischer Arithmantik kombinierte. Intuitiv geht anders, hatte Emmeline damals gedacht, aber aufgeklärte Varianz ist aufgeklärte Varianz, da beißt die Maus keinen Faden ab.
Das alles ist nüchtern betrachtet in etwa so aufregend, wie die Deckelmotive von Kaffeesahnenäpfchen zu sammeln, bis sich irgendwann herausstellte, dass sie damit einen Vorteil vor den Todessern hatten - obwohl die über einige ethisch nicht ganz so einwandfreie Vorhersagemethoden verfügten, die anständiges Kaffeesatzlesen um Längen schlugen.
Dieser Tage, wenn Emmeline mal wieder mit dem Gefühl aufwacht, dass die Welt heute ganz sicher untergeht, stattet sie zunächst Marlene im Souterrain eines verlassenen Muggel-Bürokomplexes einen Besuch ab, die ihr dann, Notizzettel mit arithmantischen Symbolen vollkritzelnd, über ihre Weltuntergangsstimmung ein Gleichungssystem modelliert, während Emmeline andächtig nickt. Manchmal versteht sie, was Marlene da rechnet; meistens nicht.
Je nachdem, wieviel Zeit dann noch bleibt, macht Emmeline dann noch einen Kaffee, während Marlene ihre Gleichungen in Lochkarten stanzt und damit ihre woher auch immer organisierte, riesengroße und so vielfach wie unnachvollziehbar modifizierte Rechenmaschine füttert.
(Das erste Mal, dass Lily hier unten gewesen war, hatte sich die Höllenmaschine angeschaut, sie mit einem "Die Stromversorgung hast du wohl wegrationalisiert?" kommentiert, was Marlene mit einem "yep" beantwortete. Emmeline war das in Monaten nicht aufgefallen!)
Am Ende solcher frühmorgendlichen Aktionen steht dann u.U. ein auf Thermopapier ausgedruckter Plan der Londoner U-Bahn, der nichtsdestotrotz aussieht wie eine grobe Zeichnung und auf der Blackfriars fehlt. Das finde erst mal raus! Manchmal versuchen sie dann noch, die Abteilung für Strafverfolgung zu aktivieren, meistens bleibt es aber den den Leuten des Phönixordens hängen, dort nach dem rechten zu sehen.
"Ich sollte das System hier echt mal dokumentieren," sagt Marlene dann zwischen zwei Schlucken schwarzen Kaffees. "Die sind imstande und stauben das Ding ein, wenn es mich mal erwischt. Oder noch schlimmer. Ich würde niemandem empfehlen, es auseinanderzunehmen."
Emmeline zählt innerlich, dann sagt sie: "Sechs Wörter, Marlene. Büro gegen den Missbrauch von Muggelartefakten."
"Ein Wort," sagt Marlene. "Arthur."
Emmeline ist sich manchmal gar nicht so sicher, ob Marlene sie überhaupt braucht für ihre Modelle - die Todesser jedenfalls halten offenbar Marlene für das Mastermind, und inzwischen ist das Kellerbüro wahrscheinlich der bestgesicherte Ort Englands -, aber Marlene behauptet, ohne düstere Vorahnungen geht es nicht, und sie selbst hat nun mal nur ganz normale schlechte Laune, da ist nichts zu machen. Inzwischen sind sie ein eingespieltes Team: Emmeline wacht grantig auf, Marlene modelliert, gemeinsam retten sie die Welt.
Leider war Marlene heute morgen nicht da.
Das muss erst mal gar nichts heißen, denkt Emmeline, meistens kürzen sich eh alle Variablen aus dem System raus und dann ist eben den lieben langen Tag gar nichts los. Es sagt ja niemand, dass jedes Mal, wenn Emmeline mit einer negativen Gesamteinstellung aufwacht, gleich alles den Bach runtergeht, denn man hat ja wirklich jeden Tag neue Gründe für eine negative Gesamteinstellung. Und so oft, wie Emmeline in letzter Zeit eine negative Gesamteinstellung hat, kann sie ja auch nicht zu Marlene rennen, die weiß ohnehin besser als jede andere über Emmelines Seelenleben Bescheid und wird sicherlich bald anfangen, ihr hilfreiche Tipps fürs Leben zu geben.
Und dass sie einen solchen im Moment besser brauchen könnte als einen Haufen Zahlen, das mag Emmeline kaum zugeben. Aus dem Gespräch mit Lily hat sie jedenfalls mitgenommen, dass schon alles gutgehen wird, wenn nur alle ehrlich miteinander sind.
Nachdem Emmeline das Ministerium verlassen hat, überlegt sie kurz. Weil sie im Moment nicht apparieren kann, würde sie wenigstens anderthalb Stunden verlieren, wenn sie noch einmal bei Marlene vorbeischaut. Dann könnte sie es knicken, sich vor dem Treffen des Phönixordens noch einmal hinzulegen, und auch das nötige Gespäch mit Polly würde notwendigerweise kurz und herzlos ausfallen. Andererseits ist sie sich immer noch nicht sicher, ob sie nun schon den ganzen Tag eine blöde Vorahnung mit sich herumschleppt oder ob sie doch nur wieder eine Migräne bekommt. Vielleicht tut ihr auch der Spaziergang gut, das ist doch besser, als sich bei gefühlten zwölf Grad in der Wohnung hinzulegen.
In den zu Marlenes Büro gehörenden Kellerfenstern brennt kein Licht, aber das ist alles Teil der Absicherung, also klingelt Emmeline ganz normal und stellt sich schön sichtbar ins Blickfeld der Überwachungskamera. Muggeltechnik hat einen Vorteil, nämlich dass die Todesser sie ungern zur Kenntnis nehmen, daher sind die meisten ihrer Täuschungszauber wirkungslos ihnen gegenüber. Sie müssten sich schon die Mühe machen und Vielsafttrank brauen. Sie hat noch einen Vorteil: keiner denkt daran, dass die Tür noch anderweitig gesichert sein könnte, z.B. durch ein Passwort.
Als sie endlich drin steht, kann sie Marlene nicht gleich entdecken. "Ich habe gesehen, dass du heute morgen geklingelt hast," kommt aber ihre Stimme aus einer Ecke, wo Emmeline schließlich inmitten des ganzen Chaos' Marlene entdeckt, die halb versteckt hinter der Rechenmaschine auf dem Boden kniet und gerade eine Schnur an einem Heizungsrohr festknotet. Schließlich taucht sie auf, überprüft, dass die Schnur fest gespannt ist.
"Der Rechner ist kaputt," sagt Marlene erklärenderweise. "Gibt seit gestern nur noch Nullvektoren aus, ich musste improvisieren. Hab heute morgen erstmal Strippen und Spiegel gekauft. Gefällt's dir?" In ihrer Hostentasche steckt ein zusammengefalteter Zollstock.
Im Raum ist etwas gespannt, das auf den ersten Blick wie ein riesengroßes Spinnennetz wirkt, nur nicht so organisiert. Marlene hat offenbar angefangen mit alten Elektrokabeln, hat dann mit Drähten improvisiert, dann mit etwas, das aussieht wie Gitarrensaiten, und am Schluss mit Bindfäden aus dem Supermarkt. Sie sind befestigt an der Deckenlampe, an Fensterriegeln, an der Heizung; teilweise auch bloß mit Malerkrepp an die Wand geklebt. Überall hängen kleine Spiegel; einige stationär, andere drehen sich sanft. Linsen brechen und bündeln das Licht. Vor dem Schrank mit den Aktenordnern schwingt ein Pendel mit einem Lötkolben hin und her.
"Ist im Prinzip das gleiche wie die Lochkarten," sagt Marlene erklärenderweise, "ich hab sie nur umgerechnet. Hast du irgendwas, womit ich das Ding ausprobieren kann?"
Es erinnert Emmeline an die elenden Arihmantik-Praktika in der Schule, bloß dass da die Netze in kleine vergitterte Kisten gepasst hatten, von denen jeder Schüler eine bekam. Und dann sollte man damit irgendetwas simulieren, zum Beispiel den Effekt von Lumos bei bedecktem Himmel und einer Regenwahrscheinlichkeit von dreiundzwanzig Prozent an einem Frühlingsabend.
"Ich bin zwei Minuten vor dem Wecker aufgewacht," sagt Emmeline, und Marlene nimmt sich einen Winkelmesser, einen Kompass und eine astrologische Karte.
"Wecker klingelt wann?" fragt Marlene.
"Fünf vor sechs," sagt Emmeline. "Naja, und dann noch mal fünf nach sechs. Und viertel nach sechs."
"Das übliche?"
"Yep," sagt Emmeline. "Vage Zukunftsangst, ein schlechter Traum, den ich vergessen hab, und ein metallischer Geschmack im Mund."
"Wo sonst," sagt Marlene.
Emmeline wird keineswegs auf solche Klugscheißereien eingehen! Ebensowenig wird sie jetzt ein dummes Witzchen reißen, das ihr, ehrlich gesagt, auf der Zunge brennt. "Könnte aber zugegebenermaßen auch der Tequila gewesen sein," sagt sie deshalb.
"Hm," sagt Marlene. "Ich glaub, ich hab nur Weinbrand. Muss aber gehen." Sie tränkt einige Bindfäden in der braunen Flüssigkeit, spannt sie entlang der Ost-West-Achse. Den Sonnenstand von heute morgen markiert sie mit einem weiteren Spiegel. Der Boden, sieht Emmeline, ist bereits mit einer Lage Thermopapier ausgelegt.
"Komm, stell dich in die Mitte," sagt Marlene, "mit Medium krieg ich 'ne höhere Varianzaufklärung. Aber nimm mal den Feuerlöscher mit in den Kreis, der steht hinter dir."
Emmeline duckt sich zwischen den Schnüren hindurch. An einigen klingeln kleine Glöckchen, als sie sie berührt. Einige klingeln aber auch, an die sie gar nicht rangekommen ist - Emmeline hat das Gefühl, das Netz bewegt sich von allein. Über ihr pendelt ein Beutelchen an einer Schnur.
"Was ist da drin?" fragt Emmeline unschuldig. "Schießpulver?"
"Nee," sagt Marlene, während sie die Fenster verdunkelt. "Mehl. Wie Kornkreis, bloß instant."
Noch so eine Improvisationsaktion, denkt Emmeline. Eines Tages wird der Keller noch in die Luft fliegen.
Marlene manipuliert derweil am Lötkolben. "Auf drei," sagt sie.
"Und zum Geburtstag schenke ich dir einen richtigen Flammenwerfer!" sagt Emmeline noch.
"Zwei. Lass die Untergangsstimmung fließen."
"Sie spritzt richtig."
"Eins."
Von irgendwoher kommt Licht, aber langsam, da scheint Marlene irgendwo ein magisches Wechselfeld installiert zu haben, grübelt Emmeline. Aber so ein großes? Der Lichtstrahl taumelt, wird abgelenkt, und ein vorbeipendelnder Spiegel fängt ihn, er streut sich hinter einer konkaven Linse und auf einmal wird es richtig hell, er ist in allen Spiegeln gleichzeitig. Dann hört das Mehl auf zu schwingen und geht in eine Kreiselbewegung über, größer, schneller.
Es wird warm und hell und laut.
Dann wird es kalt und dunkel und leise. und Emmeline erinnert sich für eine Sekunde an ihren Traum.
Marlene rollt die Verdunkelung wieder hoch. Überall liegen Schnüre, Scherben, leise kokelnde Reste von irgendetwas, und es sieht entsetzlich unordentlich aus.
"Das hätte eigentlich funktionieren sollen," sagt Marlene. "Geh mal da runter," und sie hebt das Thermopapier auf, auf dem sich einige dünne Linien eingebrannt haben. Früher in den guten alten Zeiten, als die Muggel das Thermopapier noch nicht erfunden hatten, mussten Zauberer wie Marlene häufig mal intensiver zündeln, da ist die eine oder andere Hütte abgebrannt. Sowas subtiles wie das hier hätte man auf einem Dielenfußboden gar nicht abgebildet bekommen!
Naja. Zumindest theoretisch. "Schon wieder so ein Scheiß-Nullvektor," sagt Marlene mit leisem Groll in der Stimme.
"Tut mir Leid," sagt Emmeline, und stellt den unbenutzten Feuerlöscher zurück an seinen Platz. "Vielleicht bin ich auch einfach nur etwas durch den Wind."
"Passt schon," sagt Marlene, "dann wäre das Mehl nicht verpufft. Wenn die jetzt auch noch mit dem Präkognitionsraum rumgespielt haben, dann geh ich persönlich hin und rechne denen mal was vor! Das kann man doch nicht machen! Die haben bestimmt einen Haufen Endlosschleifen im Raum verteilt, und wer darf das wieder aufräumen? Häh?"
"Aber dann haben sie bestimmt auch keinen Zugriff, oder?" fragt Emmeline.
"Da kannst du deinen Arsch drauf verwetten, dass die sich einen Zugang übriggelassen haben, und wenn ich den finde -" murmelt Marlene. Sie starrt das Papier an. "Geh weg, ich muss rechnen. Aber komm ruhig morgen früh wieder, ich brauch vielleicht ein Medium, um die Patches zu installieren."
"Okay," sagt Emmeline. Mit einer Marlene in Rechenwut kann man sowieso nicht so prima den späten Nachmittag verquatschen, die wird ganz unruhig.
"Kann ich dir noch was bringen?" fragt sie. "Cola, Schokoriegel, Erdnussflips? Du musst doch was essen. Lakritze? Einen Apfel?"
"Alles da," sagt Marlene, was im Fall der Lakritze möglicherweise eine Lüge darstellt, und schiebt sie bereits unmissverständlich Richtung Haustür. Emmeline kann ihr Gehirn richtiggehend arbeiten hören.
"Ich entschuldige dich beim Orden, okay?" sagt Emmeline.
"Ja, mach das mal," sagt Marlene, die das Treffen garantiert vergessen hatte, Brain, das sie ist. "Passt mal schön alle auf euch auf, und sag ihnen, sie sollen zur Zeit lieber mal nicht mit Wahrsagen rumspielen, da kommt nur Ärger bei raus, und Nullvektoren, und außerdem rauscht es dann an meinem Ende."
Das ist einer der wärmeren Marlene-Abschiede, und schon geht die Tür hinter Emmeline zu, und jetzt hat sie wirklich gar keine Entschuldigung mehr, nicht nach Hause zu gehen, nicht wenn sie vor dem Ordenstreffen noch mit Polly reden möchte.