Textart: Minigeschichtchen (608 Wörter)
high/sober-Prompt: Zeig' die Narben her, nichts war verkehrt
Nachts ist jeder See ein schwarzes Meer
Unter Wasser
Sie liegen auf dem Bett, von Kissenbergen vor den gegenseitigen Blicken verborgen und zerteilt vom Licht der untergehenden Sonne, das sich durch die Spalten der Jalousie drängt. Den ganzen Tag über haben sie sich so viele Worte geschenkt, ihre Geschichten dem anderen vor die Füße gelegt und gehofft, dass dieser sie nicht zertreten würde. Nun lauschen sie dem gemeinsamen Atmen, das an den Rändern der Stille bricht, wie Wellen es tun würden.
Sie ist glücklich, so gut sie es eben kann, doch sie spürt schon, wie die Angst aus den Tiefen ihrer Nacht steigt um ihr den Atem abzuschnüren. Sie hat nicht alles gesagt, sie hat nicht alles von sich gezeigt, und er verdient, sie zu kennen, so sehr. Doch verdient sie, gekannt zu werden?
Das Klopfen ihres Herzens wird schneller und schneller und sie lässt ihre zitternden Hände sich gegenseitig die Handgelenke festhalten.
Seid still, Hände. Atme ruhig, Lunge. Lass mich in Ruhe, Gehirn.
Er hat irgendwie gemerkt, dass sie unruhig geworden ist - ihr Atem hat sie verraten - doch sagt er nichts, sondern starrt nur stumm durch die Dunkelheit.
Sie wird untergehen und falls er ihr sein Rettungsboot anbietet, wird sie Löcher hineinschlagen, bis das schwarze Wasser auch ihn in die Tiefe zerrt.
Sie sieht, wie er langsam auf sie zurutscht und sogar die Art, wie er einen Fuß von den Wirrungen der anhänglichen Bettdecke befreit, wirkt so gekonnt. Weil er alles kann und alles weiß und wie sollte er Schwäche verstehen?
Komm nicht näher. Mit Worten haben wir uns schon so eng berührt, dass es kaum zu ertragen war. Deine Hände würden nicht mich töten, aber das, was zwischen uns lebt.
Er streckt seine Hände aus und obwohl sie nicht will hält sie sich plötzlich an ihnen fest, als würde die Flut ihrer Gedanken sie sonst hinforts pülen. Ihr Atem wird schneller und ihre Fingernägel pieksen sich in seine Hände und ihre Augen starren direkt in das Auge des Sturmes und was sie sieht, lässt sie zittern. Ganz still sitzt er da, obwohl es wehtut, wie sie sich an ihn krallt, doch obwohl er die Feinde, die sie fühlt, nicht wahrnehmen kann, wusste er noch nie etwas so sicher, wie dass er sie nun retten muss.
„Ich ertrinke“, sagt sie und ihre Stimme ist rau und leicht, „Jeden Tag steigt die Flut immer mehr an, bis es Nacht ist und nachts schlagen die Wellen über mir zusammen, ich kann nichts sehen, ich kriege keine Luft.“
Er weiß nicht, was er darauf sagen soll, doch von einem endgültigen Mut ergriffen schiebt er ganz vorsichtig ihre Ärmel hoch, so langsam und von ihr so aufgeregt beobachtet. Doch auch sie ist nun endgültig. Soll er doch gehen, und sie den Fluten überlassen, sie wird nicht mehr vortäuschen, schwimmen zu können.
Obwohl er erwartet hat, was er sieht - die Ängstlichkeit, mit der sie immer ihre Ärmel langzieht; wie sie beim Händewaschen nur die Fingerspitzen unter den Wasserstrahl hält - ist er erschrocken, so erschrocken, doch er zeigt es nicht. Stattdessen fährt er vorsichtig mit den Fingern die Narben nach, immer nach ihrem Blick suchend, um Erlaubnis bittend, und es fühlt sich an, als müssten unter seinen zarten Berührungen die Narben verblassen.
„Du wirst nicht ertrinken“, finden sich nun Worte, „Du musst dich einfach fallen lassen, denn du kannst unter Wasser atmen. Außerdem sind unter Wasser keine Wellen und Tauchen fühlt sich an wie Fliegen!“ Seine Stimme lächelt, als er ihr das erklärt und den Kopf an seine Brust gelehnt lernt sie in langsamen, vorsichtigen Schwimmzügen - im Rhythmus ihres nun wieder synchron-ruhigen Atems - dass zumindest der Lärm der Welt unter Wasser abschwillt.