Beim dritten Versuch (Adventskalender: 18. Dezember)

Dec 18, 2011 03:19


Genre: Slash, First Time
Rating: P-12
Wörter: ca. 3900
Kurzinhalt: Das Münsteraner Team erlebt eine turbulente Weihnachtsfeier mit diversen Zwischenfällen...
Beta: cricri_72
Disclaimer: Die Charaktere des Tatort Münster gehören nicht mir, sondern der ARD. Ich ziehe keinerlei finanziellen Nutzen aus der Geschichte.

A/N:Tja ihr Lieben, nun bin auch ich zur dunklen Seite der Macht übergetreten ;-) soll heißen, ich habe meine allererste Slash-Geschichte geschrieben... Ein großes Dankeschön gebührt cricri, die dafür gesorgt hat, dass die Story einigermaßen logisch wurde ;) Ich hoffe, ihr habt auch diesmal Spaß beim Lesen!



Beim dritten Versuch

„Chef, wo bleiben Sie denn? Die Weihnachtsfeier hat schon längst angefangen...“

„Ich bin ja gleich da! Mein Vorderreifen hatte einen Platten, das scheiß Ding“, fluchte es aus dem Telefon.

Nadeshda verdrehte die Augen und musste gleichzeitig grinsen. Ihr Chef hatte aber auch wirklich nur Pech mit seinem Fahrrad, seit er nach Münster gezogen war. Wenn es nicht gerade geklaut wurde, dann war entweder die Bremse kaputt, die Kette herausgesprungen, das Licht nicht funktionstüchtig, die Reifen platt, oder irgendetwas anderes...

„Beeilen Sie sich, sonst verpassen Sie noch das Beste“, antwortete sie fröhlich, legte auf und steckte ihr Handy zurück in die Tasche. Nachdem nun geklärt war, wo ihr Chef abgeblieben war, wollte sie schnell wieder zur Feier zurückgehen, die im Foyer des Polizeipräsidiums stattfand und zu der zahlreiche Kollegen aus allen möglichen Abteilungen erschienen waren.

Nadeshda kehrte an den Tisch zurück, an dem der Rest der Truppe saß, mit der sie meistens zusammenarbeitete: Professor Boerne, seine Assistentin Frau Haller und Staatsanwältin Klemm. Während die beiden letzteren sich angeregt unterhielten, saß Boerne schweigend dabei und schien ein wenig vor sich hinzuschmollen. Seine Wangen waren leicht gerötet, und ein Blick auf seine schon wieder leere Glühweintasse verriet Nadeshda sofort, wo die Ursache dafür lag.

Sie unterdrückte ein Grinsen und setzte sich an den Tisch. Wenn der Professor heute kräftig dem Glühwein zusprechen wollte, würde sie ihn bestimmt nicht davon abhalten... das konnte nur unterhaltsam werden.

„Ah, Frau Krusenstern, da sind Sie ja wieder“, sagte Boerne mit einem gewissen Missmut in der Stimme, den sie nicht recht zuordnen konnte. Er griff nach seiner Tasse, nur um dann mit einem enttäuschten Blick festzustellen, dass diese ja bereits leer war. „Wo steckt er denn nun, der Herr Thiel?“

„Er kommt gleich - sein Fahrrad hatte mal wieder einen Platten“, entgegnete Nadeshda.

„'Gleich', das kenne ich schon - das dauert sicher noch eine halbe Stunde“, winkte Boerne verdrießlich ab. „Dann werde ich mir in der Zwischenzeit noch eine Tasse von diesem äußerst delikaten Glühwein genehmigen - man merkt eben, dass der selbstgemacht ist.“

Er stand auf und ging in Richtung des Getränketisches. Nadeshda sah ihm amüsiert nach. „Sie sollten heute Abend wohl ein wenig auf Ihren Chef aufpassen“, sagte sie dann lächelnd an Frau Haller gewandt. „Sonst stellt er womöglich noch was Dummes an.“

***

„Na endlich...“

Es kam Thiel wie eine Ewigkeit vor, seit er von zuhause aufgebrochen war. Natürlich konnte er ausgerechnet heute nicht bei Boerne mitfahren, weil dieser außerhalb von Münster zu tun gehabt hatte und direkt zur Feier kommen wollte. Und natürlich musste es ausgerechnet heute Nachmittag leicht zu schneien anfangen, sodass eine Fahrt mit dem Fahrrad ohnehin schon mühselig war.

Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass nach zwei Minuten sein Vorderreifen den Geist aufgeben würde. Fluchend hatte er das Fahrrad an den nächsten Laternenpfahl angeschlossen und seinen Vater angerufen, der ihn jedoch unwirsch damit abwies, dass er gerade einen sehr lohnenswerten Kunden und keine Zeit für seinen Herrn Sohn habe. Kaum aufgelegt, rief auch dann auch noch Nadeshda an und wollte wissen, wo um alles in der Welt er denn bliebe...

Eigentlich hätte er lieber zuhause bleiben sollen, dachte Thiel mürrisch, als er das Polizeipräsidium betrat. Er musste nicht lange nach dem Tisch suchen, an dem seine Kollegen saßen - Boerne hielt gerade in einer solchen Lautstärke einen Vortrag über irgendwas, dass man ihn quer durch den Raum hörte.

„Ja schönen guten Abend, Herr Hauptkommissar!“, wurde er von Boerne überschwänglich begrüßt, als dieser ihn erblickte. „Kommen Sie, setzen Sie sich doch zu uns - ich hol' Ihnen was zu trinken!“

Mit gerunzelter Stirn starrte Thiel seinen Nachbarn an. Welche Drogen hatte der denn bitteschön... dann fiel sein Blick auf Nadeshda, die unverhohlen grinste und mit den Lippen das Wort „Glühwein“ formte. Okay, nun war ihm alles klar.

Boerne war in der Zwischenzeit tatsächlich zum Glühweinstand geeilt und brachte nun eine volle Tasse an den Tisch, die er einem erstaunten Thiel in die Hand drückte. Dass Boerne ihm etwas zu trinken holte, war nun wirklich eine Premiere.

„Na, sind wir schon leicht angeschickert, Herr Professor?“, sagte Thiel brummig, während er sich zwischen Boerne und Frau Klemm setzte.

„'Leicht' ist gut“, murmelte die Staatsanwältin vor sich hin.

„Angeschickert, ich bitte Sie“, sagte Boerne empört. „Nach dem einen Glühwein - ich bin ja sozusagen noch völlig nüchtern.“

„Sicher, Chef“, flötete Frau Haller und tätschelte ihm die Schulter. „Sicher.“

***

Angeschickert, also wirklich. Was erlaubte sich Thiel eigentlich? Der war ja nur schlecht aufgelegt, weil er eine Reifenpanne gehabt hatte und es nun nicht einmal Bier zu trinken gab. Und das ausgerechnet heute, dachte sich Boerne enttäuscht. Dabei hatte er diesen Abend schon lange gespannt und freudig erwartet - allerdings hatte er in seinen Überlegungen nicht einen zu spät kommenden und mies gelaunten Thiel einkalkuliert.

Im Gegenteil, er hatte damit gerechnet, dass sein Nachbar auf einer fröhlichen Weihnachtsfeier endlich wiedermal gut aufgelegt sein würde... und dass mit genügend Glühwein, schummrigem Licht und schnulziger Weihnachtsmusik vielleicht endlich einmal eine günstige Situation entstehen würde, um...

Im Geheimen ausgemalt hatte er sich das ja schon lange, aber einen Schritt in diese Richtung gewagt hatte er noch nie. Mal eine Andeutung hier und da hatte er fallengelassen, ja - aber Thiel war meistens so abweisend gewesen... Doch vielleicht würde sich das Blatt ja heute Abend wenden.

***

Eine Stunde und drei weitere Tassen Glühwein später war sich Boerne sicher. Die Signale, die er seit Thiels Ankunft von ihm empfangen hatte, waren einfach nicht misszuverstehen - sein Nachbar hatte sich angeregt mit ihm unterhalten, zumindest teilweise über seine Witze gelacht, und einmal sogar den Arm um seine Schultern gelegt, als die ebenfalls schon angeheiterte Polizeiband plötzlich Schunkelmusik spielte.

Mit einem seltsam benebelten Gefühl im Kopf beschloss Boerne, dass es an der Zeit war, die nächste Phase einzuleiten. Er stand vom Tisch auf und sagte: „Ich muss mal zur Toilette... wo...“
Während er sich suchend umsah, fegte er mit der rechten Hand absichtlich das fast leere Weinglas von Alberich um und torkelte dann überrascht einen Schritt nach hinten.

„Du lieber Himmel“, sagte Alberich kopfschüttelnd, stellte ihr Glas wieder hin und beugte sich dann zu Thiel. „Herr Thiel? Würde es Ihnen vielleicht was ausmachen, den Professor kurz zu begleiten? Sie sehen ja, dass er ein bisschen... naja...“

„Na gut, wenn's unbedingt sein muss“, brummte der Kommissar und erhob sich ebenfalls. Boerne tat derweil so, als habe er von dem leise geführten Gespräch nichts mitbekommen. Genau das hatte er sich erhofft - auf Alberichs Besorgnis war doch immer Verlass.

Auf dem Weg zur Toilette, von der Boerne genau wusste, dass sie auf der anderen Seite des Gebäudes lag, hängte er sich bei Thiel ein und schlurfte neben ihm her. Eigentlich war es gar nicht so schwierig, den Betrunkenen zu spielen... obwohl er sich eingestehen musste, dass ein Teil davon wohl doch nicht mehr gespielt war nach den zahlreichen Tassen Glühwein.

„Mensch Boerne, muss das sein? Sie sind nicht gerade der Leichteste... trinken Sie das nächste Mal doch einfach nicht zuviel Alkohol.“

„Zuviel? Davon kann ja wohl keine Rede sein, mein lieber Thiel...“

Sie gingen einen schlecht beleuchteten Gang hinunter, in dem sich ein Büro an das andere reihte. Nirgendwo schimmerte allerdings Licht unter der Tür hervor.

„Thiel... meinen Sie, wir könnten uns mal kurz in eins der Büros setzen... mir ist irgendwie schwindlig...“

„Wehe Sie kotzen jetzt auch noch“, sagte Thiel warnend, während er eilig die nächstbeste Tür öffnete und Boerne hineinbugsierte. „Hier, setzen Sie sich auf den Stuhl.“

Boerne ließ sich von Thiel auf einen bequemen Bürosessel hinter dem Schreibtisch drücken und schloss halb die Augen. Er spürte, wie sein Herz plötzlich schneller schlug, obwohl das ja eigentlich albern war...

„He, Professor, nicht einschlafen!“ Thiel beugte sich zu ihm herunter und klopfte ihm leicht auf die Wange.

Das Einzige, was Boerne in seinem berauschten Zustand noch denken konnte, war: Jetzt oder nie.
Mit einer einzigen fließenden Bewegung beugte er sich vor und berührte mit seinen Lippen ganz leicht die von Thiel, dessen Augen sich vor Überraschung weiteten...

„Herr Professor?!“
„Thiel?!“

Im gleichen Moment, als hinter Boerne zwei ihm bekannte Stimmen erklangen, stolperte Thiel bereits einen Schritt zurück, einen fassungslosen Ausdruck auf dem Gesicht.

Boerne drehte sich um. Im Türrahmen standen - Alberich und Frau Klemm. Während seine Assistentin sich offenbar nur mit Mühe das Lachen verbiss, stand der Staatsanwältin die pure Überraschung ins Gesicht geschrieben.

„Ich-ich-also-“, stammelte Boerne. In der Zwischenzeit hatte dafür jedoch Thiel seine Sprache wiedergefunden.

„Was sollte das denn, Boerne?!?“, stieß er entrüstet hervor. Mit wütenden Schritten durchquerte er das Zimmer, stürmte an den beiden Frauen vorbei und verschwand.

„Was - was machen Sie denn hier?“, sagte Boerne, immer noch um Fassung ringend.

„Das, lieber Herr Professor, ist mein Büro“, sagte Frau Klemm hoheitsvoll. „Wir waren auf dem Weg zur Toilette, und da ist mir aufgefallen, dass hier Licht brennt. Ich würde Ihnen raten, sich das nächste Mal eine andere Örtlichkeit auszusuchen.“

Sie wandte sich Alberich zu. „Kommen Sie, Frau Haller - wir stören hier nur.“ Mit diesen Worten verließen die beiden das Zimmer, und ließen Boerne allein zurück.

***

Thiel wusste eigentlich gar nicht, wo er hinlief. Er wusste nur, dass er so schnell und so weit wie möglich von Boerne weg wollte. Seine Gedanken wirbelten wild durcheinander. Was in aller Welt hatte sein Nachbar sich dabei gedacht, ihn so plötzlich zu küssen... nicht dass es sich unbedingt schlecht angefühlt hatte, das musste sich Thiel eingestehen.

Aber das war einfach zuviel gewesen - erst diese unerwartete Aktion von Boerne und dann auch noch die hochpeinliche Situation, dass Frau Klemm und Frau Haller sie dabei gesehen hatten. In seiner Überraschung und Verwirrung hatte er keinen klaren Gedanken mehr fassen können und war stattdessen Hals über Kopf aus dem Zimmer der Staatsanwältin geflohen. Im Nachhinein betrachtet vielleicht nicht das schlaueste Manöver... aber er brauchte erstmal ein wenig Abstand, um über die Situation nachdenken zu können.

Mit einem Mal bemerkte Thiel, dass er unbewusst in Richtung seines Büros gelaufen war und nun dort vor der Tür stand. Kurzentschlossen ging er hinein und setzte sich in seinen Drehstuhl. Während er aus dem Fenster starrte, atmete er tief durch und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

Wieso war ihm nicht schon viel früher bewusst geworden, dass Boerne ihn offenbar... mochte? Und war es war es vielleicht möglich, dass er selbst - anscheinend unbewusst - ebenfalls Gefühle für den anderen hegte? Wenn ihm diesbezüglich wirklich nichts an Boerne liegen würde, dann hätte er den Kuss ja wohl als schlicht abstoßend empfunden... was eindeutig nicht der Fall gewesen war.

Und er hatte seinen Nachbarn zum Beispiel auch explizit zu dieser Weihnachtsfeier eingeladen, obwohl der - auch wenn der Eindruck manchmal täuschte - nicht einmal bei der Polizei arbeitete. Jetzt, wo er darüber nachdachte, fiel ihm außerdem auf, dass er außer Boerne eigentlich kaum Freunde in Münster hatte. Und dass er tatsächlich einen großen Teil seiner Freizeit mit dem Rechtsmediziner verbrachte. Manchmal zwar unfreiwillig, aber dennoch.

Wie oft hatten sie schon zusammen gekocht, abends ein Glas Wein getrunken und dabei den aktuellen Fall besprochen... oder aus irgendwelchen Gründen in der Wohnung des jeweils anderen übernachtet... oder zusammen in brenzligen Situationen gesteckt...

Einmal waren sie gar gemeinsam Schuhe kaufen gegangen, wie Thiel sich fast schmunzelnd erinnerte. Und obwohl ihn der Rechtsmediziner auch häufig nervte, musste Thiel trotzdem zugeben, dass er gerne etwas mit Boerne unternahm. So oft einen Boerne nämlich auf die Palme bringen konnte, so oft gab es dabei dann aber auch Überraschungen und skurrile Erlebnisse. Wenn er ganz ehrlich war, dann fand er es schon länger schön, mit Boerne zusammen zu sein. Auch wenn sich dies noch nie zuvor eingestanden hatte.

Während er sich langsam in seinem Stuhl drehte und über alles nachdachte, spürte er, wie seine anfängliche Entrüstung über Boerne langsam verrauchte und stattdessen einem neuen Gefühl Platz machte: der Neugierde. Neugierde darüber, wie es sich wohl angefühlt hätte, wenn er sich von Boerne richtig hätte küssen lassen. Vielleicht richtig... angenehm und passend? Es kam ihm jetzt auch ziemlich feige vor, wie er vor den beiden Kolleginnen und seinen eigenen Gefühlen geflüchtet war.

Thiel holte tief Luft und beschloss, dass es an der Zeit war, sich der neuen Lage zu stellen.

***

Frau Haller wusste kaum, worüber sie mehr schmunzeln sollte, nachdem sie Frau Klemms Bürotür hinter sich geschlossen hatte: über die heikle Situation, in der sie ihren Chef soeben ertappt hatte, oder über den erstaunten Gesichtsausdruck der Staatsanwältin.

„Haben Sie das gewusst?“, raunte diese auch sogleich, während sie sich wieder auf den Weg zur Toilette machten. „Ich meine, dass Boerne... und dann ausgerechnet Thiel?“

„Also Herr Thiel schien ja gerade nicht sehr erfreut zu sein“, kicherte Frau Haller. „Aber der Professor... naja, sagen wir's mal so: Ich merke doch schon seit Jahren, wie er um den Herrn Hauptkommissar herumtänzelt... und so oft, wie die beiden trotz ihrer Gegensätze zusammenstecken, würde ich sagen, dass Herr Thiel auch nicht abgeneigt ist. Er weiß es nur noch nicht“, fügte sie augenzwinkernd hinzu.

Frau Klemm starrte sie mit offenem Mund an, klappte ihn dann zu und kramte in ihrer Tasche. „Also auf den Schreck brauch' ich jetzt erstmal eine Zigarette... Wobei, von mir aus können die beiden ja gern machen, was immer sie wollen.“

Sie zündete sich eine an und nahm rasch mehrere Züge.

„Aber Frau Haller“, sagte sie dann streng, „das bleibt vorerst unter uns, alles klar? Das sollen die beiden erstmal unter sich klären, bevor es gleich das ganze Präsidium weiß.“

„Da bin ich ganz Ihrer Meinung, Frau Staatsanwältin.“

***

Nadeshda verstand die Welt nicht mehr. Erst war ihr Chef mit einem angetrunkenen Professor Boerne in Richtung Toilette aufgebrochen und nach mittlerweile geschlagenen 30 Minuten immer noch nicht zurückgekommen. Hatten die beiden sich etwa verlaufen?

Und nun waren vor kurzem immerhin Frau Haller und Frau Klemm an den Tisch zurückgekehrt, sodass sie hier nicht mehr alleine herumsaß. Aber das Problem war, dass die beiden sich seither irgendwie komisch verhielten. Sie wirkten leicht zerstreut und in Gedanken, während sie zudem krampfhaft über das Wetter und andere belanglose Themen zu reden versuchten.

„Ist denn... alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte sie schließlich. Die beiden wechselten einen Blick, der Nadeshda nicht entging, und nickten dann gleichzeitig.

„Wenn Sie meinen...“, sagte Nadeshda zweifelnd. „Aber Sie haben unterwegs nicht zufällig gesehen, wo die beiden Herren abgeblieben sind?“

„Nein, keine Ahnung“, sagte Frau Klemm ungerührt und zog an ihrer Zigarette, während Frau Haller verhalten den Kopf schüttelte. Irgendetwas an der unmittelbaren Verneinung machte Nadeshda misstrauisch - aber das konnte sie gegenüber der Staatsanwältin ja schlecht offen sagen.

„Na gut, dann geh ich jetzt mal schauen, wo die beiden stecken“, beschloss sie resolut. Sie war vom Tisch aufgestanden und davonmarschiert, noch ehe eine der beiden sie aufhalten konnte.

***

Alles war schiefgegangen. Wie versteinert saß Boerne in dem Schreibtischstuhl, nachdem Frau Klemm und Alberich das Büro verlassen hatten. Thiel war über seinen Kussversuch scheinbar regelrecht... entsetzt gewesen. Hatte er die Zeichen etwa komplett falsch gedeutet? Das war ja eigentlich nicht möglich - schließlich irrte er sich dank seiner überragenden Menschenkenntnis so gut wie nie.

Aber was in aller Welt sollte er nun anstellen? Die ganze Situation war dermaßen vertrackt, dass Boerne sich zum ersten Mal in seinem Leben keinen Rat mehr wusste. Thiel wusste nun, was sein Nachbar tatsächlich für ihn empfand. Und da der Kommissar dies offenbar nicht erwiderte, war eine weitere Zusammenarbeit zwischen ihnen völlig ausgeschlossen. Mehr noch: auch ihre mehr oder weniger lose Freundschaft war damit nun wohl endgültig beendet.

Aber es war ja sogar noch schlimmer gekommen... auch Alberich und die Staatsanwältin wussten nun, was Sache war. Es würde wohl keinen Tag dauern, bis auch der Rest der Münsteraner Polizei sowie sämtliche Mitarbeiter des Rechtsmedizinischen Instituts Bescheid wussten. Nicht nur darüber, dass der Herr Professor auf Männer stand - das wäre Boerne ziemlich egal gewesen. Sondern auch darüber, dass er versucht hatte, Thiel zu küssen und dabei auf peinlichste Art und Weise abgeblitzt war.

Nein, er konnte unmöglich weiter hier in Münster arbeiten. Am besten, er machte sich sofort aus dem Staub, nahm erstmal unbezahlten Urlaub und versuchte dann, irgendwo anders eine Stelle zu finden - möglichst am anderen Ende Deutschlands.

Mit einem immer noch ziemlich benebelten Gefühl im Kopf stand Boerne auf und verließ das Büro.

***

Auf dem Weg durch das Polizeipräsidium überlegte Thiel, wo Boerne wohl stecken mochte und beschloss, es zunächst noch einmal im Büro der Staatsanwältin zu versuchen. Als er in den entsprechenden Gang einbog, kam ihm sein Nachbar jedoch schon entgegen. Kaum dass er Thiel erblickte, blieb Boerne wie angewurzelt stehen.

„Boerne, da sind Sie ja...“

Der Rechtsmediziner zuckte zusammen, als hätte Thiel ihn angeschrien und versuchte dann, sich hastig an ihm vorbeizuquetschen, ohne ihn anzusehen. Thiel vertrat ihm jedoch den Weg, packte ihn an den Armen und drückte Boerne kurzerhand gegen die Wand.

„Jetzt bleiben Sie gefälligst hier, ich möchte mit Ihnen reden!“

„Es gibt zwischen uns nichts zu reden“, antwortete Boerne mit einem überheblichen Ton in der Stimme. „Ich entschuldige mich hiermit in aller Form bei Ihnen für das - Vorkommnis; und ich versichere Ihnen, dass ich Sie nicht wieder belästigen werde - ich wollte mich sowieso auf diese lukrative Stelle an der Universität Passau bewerben...“

„Was - Passau?!“ Das brachte Thiel völlig aus dem Konzept. „Was wollen Sie denn in Passau? Weiter weg geht’s wohl nicht, hm?“

„Ich bin Ihnen keine Rechenschaft über meine beruflichen Pläne schuldig, Herr Thiel“, antwortete Boerne hochmütig. „Wenn Sie mich jetzt bitte loslassen würden...“

„Nein, Sie hören mir jetzt zu“, sagte Thiel entschlossen und verstärkte seinen Griff. „Ich wollte Ihnen sagen, dass... also dass ich...“ Verdammt, war das schwierig. Wie sollte er Boerne bloß erklären, dass er nicht abgeneigt war, ihre freundschaftliche Beziehung ein wenig... auszuweiten?

In diesem Moment erinnerte Thiel sich daran, dass Bilder ja angeblich mehr sagten als tausend Worte... und das galt doch sicherlich auch für Taten. Er streckte den Kopf, bis er mit seinen Lippen sanft auf die Boernes traf und...

„Chef?!“

Die ungläubige Stimme und lautes Scheppern hinter ihm ließ ihn herumfahren. Da stand Nadeshda; auf dem Boden lag eine zerbrochene Tasse, aus der Glühwein über den Boden sickerte. Ihre Hand flog erschrocken zum Mund, während sie zwischen Boerne und Thiel hin- und herblickte.

„Es - es tut mir leid, ich wollte Sie nicht - ich - ich geh schon wieder.“ Sie drehte sich um und rannte fast den Gang hinunter. Kaum dass sie verschwunden war, stieß Boerne Thiel mit beiden Händen heftig von sich weg, sodass der überraschte Kommissar an die gegenüberliegende Wand taumelte.

„Und was sollte das jetzt?“, sagte Boerne mit zusammengebissenen Zähnen. „Soll ich Ihnen etwa glauben, Ihre Gefühle hätten sich innerhalb von fünf Minuten geändert?“

Verblüfft sah Thiel ihn an. „Nein, Boerne, ich war nur -“

„Lassen Sie mich einfach in Ruhe, Thiel.“

Mit diesen Worten ging Boerne davon, so schnell er konnte.

***

Mit hochrotem Kopf lief Nadeshda ins Foyer zurück. Sie hätte ja nie gedacht, dass ihr Chef... und dann ausgerechnet mit Professor Boerne... Nicht dass es sie stören würde; aber es war ihr äußerst peinlich, Thiel in einer solchen Situation überrascht zu haben.

Und nun war ihr auch klar, dass Frau Klemm und Frau Haller vorhin vermutlich etwas Ähnliches gesehen hatten und deshalb so komisch gewesen waren. Wahrscheinlich hatten die beiden beschlossen, Stillschweigen darüber zu bewahren... nun gut, das war ihr nur recht. Sie hatte die Sorte Menschen, die immer gleich alles weitertratschen mussten, noch nie leiden können. Außerdem wollte sie ihrem Chef, den sie sehr schätzte, auf gar keinen Fall in den Rücken fallen.

„Na, haben Sie Thiel und Boerne gefunden?“, fragte Frau Klemm mit hochgezogenen Augenbrauen, als Nadeshda sich wieder an den Tisch setzte.

„Nein“, entgegnete sie lächelnd und in einem unschuldigen Ton. „Keine Ahnung, wo die sich rumtreiben.“

***

Thiel sah Boerne wie betäubt nach. Das war ja mal komplett schiefgelaufen. Vielleicht war es am besten, die Sache erstmal auf sich beruhen und Boerne gehen zu lassen... nachdem nun aber auch noch Nadeshda mitbekommen hatte, was los war, verspürte Thiel keinerlei Lust, zur Weihnachtsfeier zurückzukehren. Er holte sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer seines Vaters.

„Hallo Vaddern, ich bin's... kannst du mich bitte am Präsidium abholen? Ja, ich bin schon fertig mit Feiern... ja, ich bezahl' dir die Fahrt auch... bis gleich.“

Er legte auf und ging langsam in Richtung Ausgang, wobei sich seine Gedanken immer noch um die Szene von eben drehten.

Boerne hatte ihn total missverstanden... wobei Thiel durchaus nachvollziehen konnte, dass es für seinen Nachbarn unglaubwürdig wirken musste, wenn man zuerst derart schroff abgewiesen wurde, nur um dann genau das Gegenteil zu erleben. Boerne hatte ganz offensichtlich Angst davor, verletzt zu werden und eine tiefe Enttäuschung zu erleben.

Aber so durften sie auf keinen Fall auseinander gehen. Er musste zumindest klarstellen, dass er Boerne nicht hatte veralbern wollen, sondern es ernst gemeint hatte. Vielleicht würde er ihn draußen noch erwischen... Thiel rannte los und stürmte wenig später durch die Eingangstür des Polizeigebäudes.

Draußen war es bitterkalt, und es schneite inzwischen kräftig. In der Dunkelheit glänzte der Schnee strahlend weiß. Thiel sah sich suchend um und erblickte tatsächlich Boerne, der regungslos auf der schneebedeckten Bank an der Bushaltestelle vor dem Präsidium saß, die nur matt von einer orangefarbenen Straßenlaterne erleuchtet wurde.

Er holte tief Luft, ging dann auf den Rechtsmediziner zu und setzte sich neben ihn. Boerne rührte sich nicht und sah ihn nicht an. Sie saßen einige Minuten schweigend nebeneinander, bis Thiel schließlich die Stille durchbrach.

„Ich hab es wirklich ernst gemeint, Boerne. Vorhin, meine ich. Ich... ich gebe zu, dass ich ziemlich geschockt und auch ein bisschen... empört war, als Sie versucht haben, mich zu küssen. Aber... ich hab dann eine ganze Weile drüber nachgedacht... auch an die vielen Dinge, die wir schon gemeinsam erlebt haben, und... naja, plötzlich fand ich den Gedanken gar nicht mehr so... abwegig... im Gegenteil, ich fand ihn... eigentlich... schön.“

Ein Glück, dass Boerne ihn immer noch nicht ansah. Ein Glühwürmchen war im Augenblick wahrscheinlich ein Witz gegen seine Gesichtsfarbe.

„Ich könnt's verstehen, wenn... Sie jetzt nicht mehr... interessiert sind, sozusagen... aber ich wollte, dass Sie auf jeden Fall wissen, dass ich... Sie nicht verarschen wollte oder so. Keineswegs. Ich hab's ernst gemeint.“

Als Thiel verstummte, drehte Boerne endlich den Kopf und sah ihm in die Augen. Zu seiner Beruhigung sah Thiel, dass der andere lächelte.

„Ich glaube Ihnen, Thiel. Und wissen Sie auch wieso?“

„Wieso?“

„Weil das eben vermutlich die längste Äußerung war, die Sie mir gegenüber jemals gemacht haben.“

Thiel grinste erleichtert. „Wie wär's dann, wenn wir nochmal... ganz von vorne anfangen?“

Anstatt einer Antwort griff Boerne mit beiden Händen nach Thiels Gesicht, zog ihn behutsam zu sich heran und endlich berührten sich ihre Lippen für mehr als den Bruchteil einer Sekunde. Genauer gesagt kam es Thiel so vor, als dauere ihr Kuss eine Ewigkeit, bis...

„Jungs, was zum Teufel treibt ihr da?!“

Thiel traf fast der Schlag, als er plötzlich die erstaunte Stimme seines Vaters von der Seite hörte. Aus dem Augenwinkel nahm er das Taxi wahr, das mit laufendem Motor und rauchendem Auspuff direkt vor ihnen auf der Straße stand.

Boerne löste sich aus ihrem Kuss, drehte sich zu Vater Thiel um und sagte leichthin:

„Das sehen Sie doch - wir küssen uns.“

***ENDE***

Tatort Münster, fanfiction, thiel/boerne, adventskalender 2011

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