Und hier die letzten drei Kapitel :)
Kapitel 8
Schlecht gelaunt schlug Thiel in seinem Büro schließlich die Akte zum aktuellen Fall zu, verabschiedete sich von Nadeshda und radelte dann nach Hause. In keinem seiner bisherigen Fälle hatte er sich dermaßen ziellos und wie im Nebel gefühlt - normalerweise lieferte ihm zumindest sein Gespür immer gute Ansätze.
Fast freute sich Thiel auf die Aussicht, zusammen mit Boerne dessen Video vom Public Viewing anzuschauen; auch wenn er dies niemals vor jemandem zugegeben hätte. Vor allem angesichts seines festen Entschlusses, nie wieder etwas Derartiges zu tun, war dies eine bemerkenswerte Entwicklung, die allerdings nur von seiner Hilflosigkeit bei diesen Mordfällen zeugte.
Es war aber immerhin besser, als gar nichts zu tun, dachte Thiel, während er um die letzte Ecke bog und sein Fahrrad vor der Haustür anschloss. Er ging hinauf zu seiner Wohnung und zögerte einen Moment lang vor Boernes Tür. Sollte er jetzt gleich klingeln?
Sicher erwartete der Gerichtsmediziner ihn schon wieder ungeduldig. Aber nach dem langen Arbeitstag verspürte er den eindeutigen Wunsch, sich erst einmal umzuziehen und frischzumachen.
***
Eine Viertelstunde später schloss ein frisch geduschter Thiel seine Wohnungstür hinter sich und klingelte bei seinem Nachbarn gegenüber, einen Sechserpack Bier unter den Arm geklemmt. Boerne würde sich zwar darüber beschweren, aber ihm war heute nicht nach teurem Wein zumute.
Während er dastand, ohne dass sich bei Boerne etwas rührte, wurde er zunehmend ungeduldig. Wieso brauchte der Gerichtsmediziner denn heute so lange, um die Tür zu öffnen? Sonst war er auch immer innerhalb von Millisekunden zur Stelle. Und der schnittige Sportwagen stand vor der Tür, also musste der andere eigentlich zuhause sein - Boerne tat doch keinen Schritt zu Fuß...
Als in diesem Moment die Tür ruckartig geöffnet wurde, zuckte Thiel zusammen. „Na endlich, Boerne“, nörgelte er. „Haben Sie schon geschlafen oder -“.
Er verstummte jäh. Vor ihm stand nicht, wie erwartet, Karl Friedrich Boerne, sondern - die neue Obduktionsassistentin, Theresa Niemeyer, lediglich mit einem T-Shirt und Boxershorts bekleidet.
„Ach, Herr Thiel“, sagte sie mit ihrer rauen Stimme. „Kann ich Ihnen helfen?“
Dieser starrte mit offenem Mund auf die junge Frau vor ihm, unfähig ganze Sätze zu bilden. „Ich - äh - wir... mit Boerne - verabredet - das Video -“
„Ahja, Kalle hat das vorhin erwähnt“, antwortete sie, während sie subtil den Namen betonte. „Er lässt Ihnen ausrichten, dass er das gerne morgen nachholen würde - er ist gerade ziemlich beschäftigt, wissen Sie.“
Ihre verwuschelten Haare und der verschmierte Lippenstift ließen eindeutig darauf schließen, womit sie und Boerne beschäftigt waren.
„O-okay“, stotterte Thiel und stolperte fast rückwärts im Versuch, so schnell wie möglich von Boernes Tür wegzukommen. „Dann - schönen Abend noch...“
Sie verzog das Gesicht zu etwas, was sich als Grinsen deuten ließ, und schloss dann die Tür. Thiel ging langsam in seine Wohnung zurück. Er ließ sich schwer auf die Couch fallen und stellte das Bier auf dem Tisch ab. Warum war er eigentlich so überrascht? Er wusste doch, dass Boerne jungen Frauen gern mal Avancen machte.
Aber das war dann doch sehr überraschend gekommen - oder war er wiedermal der Einzige, der nichts hatte kommen sehen? Er wusste selbst, dass er in solchen Dingen oft sehr blind war und mit Tunnelblick durch die Gegend lief. Und trotzdem - dass Boerne was mit einer Mitarbeiterin hatte, die zudem noch Studentin und um einiges jünger war...
Thiel schüttelte den Gedanken ab und stellte den Fernseher an, wo gerade ein Tatort begann. Na schön, dann würde er sich eben selbst einen gemütlichen Abend machen. Wahrscheinlich war er einfach nur neidisch auf Boerne, weil dieser doch mehr Erfolg bei den Frauen zu haben schien als er…
Der Kommissar öffnete eine Flasche Bier, trank sie in einem Zug halb leer und machte es sich auf seiner Couch bequem. Noch bevor im Tatort der erste Mord passierte, war er eingenickt.
***30 Minuten zuvor, auf der anderen Seite des Flurs... ***
Gewitter. Draußen musste ein gewaltiges Gewitter toben. Oder vielleicht hatten die Jungs aus der WG über ihm mal wieder ihre Rockmusik voll aufgedreht. Anders war das Hämmern in seinem Kopf nicht zu erklären... aber warum konnte er dann seine Hände nicht bewegen? Und warum war es stockdunkel um ihn herum?
Langsam und mühsam öffnete Boerne die Augen. Er begriff nichts. Offenbar saß er auf dem Boden, mit dem Rücken gegen die Heizung in seinem Wohnzimmer gelehnt.
Ihm wurde zwar sofort klar, warum er seine Hände nicht bewegen konnte - sie waren mit einem der Kabel, die er für die Videokamera gebraucht hatte, an die Wandhalterung der Heizung gefesselt. Er verstand jedoch nicht, wie es dazu gekommen war.
„Thiel?“, murmelte er, noch nicht vollständig bei Bewusstsein. „Thiel? Sind Sie hier?“
In diesem Moment nahm er im Augenwinkel eine Bewegung war. Er blickte auf und sah, wie Theresa Niemeyer ins Zimmer trat, in der Hand eine große Taschenlampe - seine Taschenlampe, die er für Notfälle immer auf der Kommode im Flur liegen hatte.
Schlagartig kehrten seine Erinnerungen zurück. Die Türklingel - der unerwartete Besuch seiner Obduktionsassistentin - der Schlag gegen seinen Kopf... das erklärte dann wohl auch die höllischen Kopfschmerzen.
„Thiel...“, sagte Theresa in höhnischem Tonfall. „Herr Hauptkommissar Thiel, mit dem hatten Sie wohl gerechnet, wie?“ Aus ihrem Mund klang die Berufsbezeichnung höchst abfällig. „Aber mit mir, mit mir hatten sie nicht gerechnet...“
„Haben Sie - haben Sie mich niedergeschlagen?“, fragte Boerne mit schwacher Stimme.
„Natürlich, Professor. Sie sind wohl noch nicht ganz wieder da? Oder kommt es häufiger vor, dass Sie niedergeschlagen werden...“
Darauf wollte Boerne lieber nicht antworten. Stattdessen sagte er: „Aber... wieso... warum haben Sie...?“ In diesem Augenblick befiel ihn eine dunkle Ahnung. „ Haben Sie... etwas mit den Morden zu tun?“
„Sind Sie also doch noch drauf gekommen“, flüsterte Theresa, während sie dicht vor ihm stehenblieb. „Ich hätte es Ihnen ja schon nicht mehr zugetraut. Aber Sie haben ja auch lange genug gebraucht... Sie, der Sie doch angeblich alles können...“
„Aber wie haben Sie... das Kalium...“
„Sie wollen wissen, wie ich auf die Idee gekommen bin, ja?“, sagte sie fast triumphierend. „Dachte mir schon, dass sie neugierig sind. Gerichtsmediziner sind die neugierigsten Menschen überhaupt.“
Boerne schloss die Augen in der Hoffnung, dass das Hämmern in seinem Kopf etwas nachlassen würde. „Ja“, sagte er dann ruhig, „ich bin neugierig.“
„Der alte Professor Schönfeld“, antwortete Theresa, als würde das bereits alles erklären. „Hat vor ein paar Jahren wie üblich seine Kursteilnehmer am Semesterende zum Grillen eingeladen... und dabei kräftig dem Wein zugesprochen. Wollte ihn eigentlich noch was zu einer Hausarbeit fragen. Aber er saß betrunken in einer Ecke seines Gartens, als ich ihn ansprach... fragte mich stattdessen lallend, ob ich mal was wirklich Spannendes wissen wolle. Ob ich eigentlich schon mal von der perfekten Mordmethode gehört hätte.“
Sie lächelte zufrieden. „Tja, da war ich natürlich ganz Ohr - sowas Interessantes hatte mir in 12 Semestern Medizinstudium keiner erzählt...“
„Aber weshalb würde man so etwas tun?“, sagte Boerne ungläubig. „Sie wollen doch Ärztin werden - den Menschen helfen - Gutes tun -“
Theresa lachte verächtlich auf. „Ärztin werden, ja, das wollte ich. Aber im Frühjahr bin ich zum dritten Mal beim Hammerexamen durchgefallen... was nicht nur meine Schuld war, aber das ist ja jetzt auch egal. Jedenfalls sind damit sechs Jahre Studium zum Teufel. Ich werde niemals Ärztin werden und den Menschen helfen können. Ich wäre 'ohnehin nur eine schlechte Ärztin geworden', hat mir einer der Prüfer noch freundlicherweise mit auf den Weg gegeben.“
Sie setzte sich neben der Heizung auf die Couch und nahm einen Schluck aus der Weinflasche, die Thiel zwei Tage zuvor mitgebracht hatte.
„Als ich mich am Abend nach der dritten Prüfung betrunken habe“, fuhr sie fort, „da fielen mir plötzlich Professor Schönfelds Worte wieder ein. Und auf einmal wusste ich, was ich tun konnte. Wie ich diesen ganzen Superärzten mal zeigen konnte, dass auch sie fehlbar sind. Kaliumchlorid konnte ich ganz leicht im Krankenhaus klauen, die kannten mich da noch von meinem Pflegepraktikum...“
Sie richtete den Blick auf den neben ihr sitzenden Boerne, und ihre Augen funkelten plötzlich mit einem irren Glanz. „Ich wollte herausfinden, ob überhaupt jemand bemerkt, was ich da tue.“
„Na schön, aber ich habe es jedenfalls bemerkt!“, entgegnete Boerne fast trotzig. „Sie sind nicht so genial wie Sie glauben.“
„Lange Zeit ist niemandem etwas aufgefallen!“, widersprach Theresa hitzig. „Nicht so lange ich mir ältere Leute ausgesucht habe. Aber das wurde irgendwann... langweilig.“ Sie grinste böse.
„Also habe ich beschlossen, noch einen Schritt weiterzugehen: mich erstens für den Nebenjob in der Rechtsmedizin zu bewerben und mir zweitens jüngere Leute vorzunehmen. Und selbst Sie, der allwissende Professor Karl Friedrich Boerne, haben sehr lange gebraucht, um die Lösung herauszufinden...“
„Aber ich habe es immerhin herausgefunden“, sagte Boerne nicht ohne Genugtuung in der Stimme. „Und ich werde dafür sorgen, dass man Sie dafür lebenslang hinter Gitter bringt!“
„Ach, werden Sie das?“, sagte Theresa süffisant. „Da wäre ich mir aber nicht so sicher...“
Sie griff in ihre Handtasche und zog langsam etwas heraus. Boerne schluckte, als er sah, was es war - eine Spritze mit einer klaren Flüssigkeit und eine Packung Tabletten.
Mehr um seine aufsteigende Angst zu verdecken, sagte er bemüht lässig: „Und was jetzt? Wollen Sie mich auch mit Kaliumchlorid umbringen? Das nimmt Ihnen doch kein Mensch ab, dass ich plötzlich an Herzversagen gestorben sein soll - Herr Thiel am allerwenigstens, der weiß über alles Bescheid...“
Ihm fiel plötzlich wieder ein, dass der Kommissar ja eigentlich heute Abend bei ihm vorbeikommen sollte - wo zum Teufel blieb der bloß so lange? Unwillkürlich blickte er auf seine Uhr und sah, dass es bereits kurz nach Acht war.
„Jaja, ich weiß, Sie und dieser Thiel wollten heute zusammen Ihr Video vom Public Viewing anschauen“, sagte Theresa in fast gelangweiltem Ton. „War ja nicht zu überhören im Obduktionssaal vorhin. Sie haben mich übrigens darauf gefilmt, das kann ich Ihnen verraten. Als ich an dem Abend gesehen habe, wie ihre Kamera mich zwischendurch plötzlich im Fokus hatte, da dachte ich schon, jetzt wäre alles aus. Aber Sie haben vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr bemerkt - nämlich dass ich ganz in Ihrer Nähe mit der Spritze in der Hand stand und auf meine Gelegenheit gewartet habe...“
Sie schnaubte verächtlich. „Aber ich konnte natürlich jetzt nicht riskieren, dass Sie mich auf dem Video entdecken. Deshalb muss ich nun handeln... gut, dass ich die noch zuhause hatte.“
Sie hob die Tabletten hoch und Boerne erkannte, dass es sich um ein starkes Herzmedikament handelte.
„Wenn die Polizei das auf ihrem Nachttisch findet, dann werden alle glauben, dass Sie ein schwerwiegendes Problem mit dem Herzen hatten - sonst hätten Sie es ja nicht 'verschrieben bekommen'.“
„Das... damit kommen Sie nicht durch, niemals - sowas Absurdes!“, sagte Boerne alarmiert, während er an seinen Fesseln riss und fieberhaft überlegte, wie er Hilfe alarmieren konnte. Als er sah, wie Theresa bereits prüfend die Spritze hochhielt, warf er alle unauffälligen Pläne über Bord und hob stattdessen die Stimme. „HILFE! HIL--“
Blitzschnell hatte Theresa die Spritze fallengelassen, sich ein Kissen von der Couch geschnappt und drückte es nun Boerne mit der linken Hand kräftig aufs Gesicht. „Nur die Ruhe, Herr Professor, es hört Sie sowieso keiner...“
Mit der freien rechten Hand griff sie erneut in ihre Tasche, holte eine Rolle Paketband heraus und klebte Boerne mit zwei raschen Bewegungen ein großes Stück über den Mund.
„Dachte ich mir doch, dass ich das noch brauchen werde“, sagte sie zufrieden. Einen Augenblick später klingelte es an der Tür.
„Das wird dann wohl der Herr Thiel sein, nehme ich an“, flüsterte Theresa dem geknebelten Boerne ins Ohr. „Aber machen Sie sich keine Hoffnungen - der geht gleich wieder, wenn er mich erst sieht...“
Boerne sah stumm und verwirrt mit an, wie seine Obduktionsassistentin sich in Windeseile Hose und Sweatshirt auszog. Erst als sie sich rasch etwas Lippenstift auftrug, mit der Hand darüber wischte und sich dann noch die Haare verwuschelte, wurde ihm klar, was sie seinem Nachbarn vorspielen wollte.
Er schickte ein stilles Stoßgebet zum Himmel, dass Thiel nicht darauf hereinfallen würde.
Kapitel 9
„Ja, hallo? Wer spricht da?“
„Herr Kommissar, ich brauche dringend Ihre Hilfe...“
Mit einem Ruck fuhr Thiel von seinem Nickerchen hoch. Im ersten Moment war er verwirrt - wer hatte da eben um seine Hilfe gebeten? Dann wurde ihm klar, dass im Fernsehen immer noch der Tatort lief und dass er keine Ahnung hatte, worum es ging. Missmutig drückte er den Aus-Knopf auf der Fernbedienung und streckte sich.
Aber noch etwas Anderes hatte ihn geweckt. Da war dieses dumpfe Gefühl, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Er dachte angestrengt nach, während er mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte.
Und plötzlich fiel ihm wieder ein, was so komisch gewesen war: die Situation vorhin an der Wohnungstür von Boerne. Irgendetwas daran war seltsam. Wieso war der Professor nicht selbst an die Tür gekommen, um ihn abzuweisen?
Es passte eigentlich gar nicht zu ihm, eine bis dato heimliche Liebschaft vorzuschicken und damit alles offenzulegen. Eine solch delikate Situation hätte Boerne normalerweise mithilfe seiner eloquenten Redeweise selbst gelöst.
Abgesehen davon, dass es seinem Nachbarn überhaupt nicht ähnlich sah, eine feste Verabredung wie für diesen Abend einfach ohne Grund abzusagen - schon gar nicht in diesem Fall, in dem sie Boernes Meinung nach mithilfe des Videos vielleicht den Durchbruch geschafft hätten.
Zudem, so fiel es Thiel plötzlich auf, hatte diese Theresa Boerne als „Kalle“ bezeichnet. Er wusste jedoch genau, dass der Gerichtsmediziner nichts mehr hasste, als mit einer solchen Verballhornung seines Namens angesprochen zu werden. Was wiederum bedeutete, dass Theresa ihren Chef eigentlich nicht so gut kennen konnte, wie sie vorgegeben hatte.
Wie er es auch drehte und wendete, irgendetwas was hier äußerst merkwürdig. Und wenn er in all seinen Jahren als Polizist etwas gelernt hatte, dann dass er seinem Bauchgefühl eigentlich fast immer vertrauen konnte. Er beschloss, noch einmal bei seinem Nachbarn zu klingeln und sich diesmal nicht abwimmeln zu lassen - und wenn er die zwei direkt im Bett stören musste, er wollte jetzt wissen, dass bei Boerne alles in Ordnung war.
Thiel stand auf, verließ seine Wohnung und drückte erneut auf den Klingelknopf an der Tür gegenüber. Alles blieb still. Er klingelte mehrere Male, lang und ausdauernd. Aber in Boernes Wohnung schien sich nichts zu rühren. Thiel war verwirrt. Waren die beiden vielleicht ausgegangen, während er geschlafen hatte? So wie Theresa ausgesehen hatte, dürfte das aber kaum Teil der Abendplanung gewesen sein. Er hämmerte mit einer Faust gegen die Tür.
„Boerne? Sind Sie da? Machen Sie auf!“
Thiel wusste nicht genau wieso, aber die Tatsache, dass in der Nachbarwohnung nun gar keiner mehr reagierte, machte ihn nur noch misstrauischer. Wenn da irgendjemand glaubte, man könne ihn verarschen, dann hatte sich derjenige aber gewaltig geschnitten.
„So leicht geb' ich nicht auf“, murmelte er, während er in seine Wohnung zurückkehrte.
***
In Boernes Wohnung kniete Theresa derweil direkt neben dem Gerichtsmediziner und hielt ihm eins seiner eigenen ultrascharfen japanischen Küchenmesser an die Kehle, die er noch nie verwendet hatte.
„Wenn Sie nur einen Mucks machen...“, flüsterte sie drohend, während es erneut klingelte. Boernes Augen waren vor Angst geweitet.
Während er sein Herz schnell pochen fühlte, wog er seine Möglichkeiten ab. Er konnte versuchen, gegen die Heizung zu trommeln oder ähnliches und so Lärm zu machen, der hoffentlich Thiels Aufmerksamkeit erregen würde. Allerdings standen die Chancen dann nicht schlecht, dass er das Ergebnis seiner Bemühungen nicht mehr erleben würde - ein einziger Schnitt mit diesem Messer würde genügen.
Inzwischen hämmerte es laut gegen die Tür, und dann hörte er Thiels Stimme. „Boerne? Sind Sie da? Machen Sie auf!“
Aber wenn er sich jetzt ruhig verhielt, würde Theresa ihm später wahrscheinlich sowieso diese Kaliumspritze verpassen, und dann wäre ebenfalls Sense. Allerdings konnte er sich so noch etwas Zeit verschaffen, um sich entweder selbst zu retten oder um vielleicht Thiel misstrauisch werden zu lassen...
Boerne schloss die Augen, atmete tief durch und entschied sich dafür, vorerst mitzuspielen.
***
Thiel stand in seiner Küche und überlegte gerade, ob er die Tür seines Nachbarn einfach eintreten sollte, als sein Blick auf seine Balkontür fiel. Natürlich - es gab noch eine andere Möglichkeit. Boernes Balkon grenzte fast direkt an seinen; es sollte also nicht allzu schwierig sein, sich dort irgendwie hinüber zu schwingen und einen Blick durch das Wohnzimmerfenster zu werfen.
Aus einem Impuls heraus griff er nach seiner Dienstwaffe, die auf dem Küchentisch lag, und steckte sie unter seinem T-Shirt in den Hosenbund. Dann ging er hinaus auf seinen Balkon, stieg auf die Brüstung und griff haltsuchend nach den starken Ranken, die am Haus emporwuchsen.
Gott sei Dank wohnten sie bloß im ersten Stock, dachte er, als er tief Luft holte und mit einem großen Schritt hinüber auf die Balkonbrüstung der Nachbarwohnung hechtete.
Langsam ließ er sich auf den Boden gleiten und schlich um eine große Pflanze herum. Er duckte sich unter das Fenster und streckte dann den Kopf, um einen vorsichtigen Blick durch die danebenliegende Balkontür zu werfen.
Was er da sah, ließ ihn entsetzt nach Luft schnappen.
Boerne war an der gegenüberliegenden Wand, halb sitzend, halb liegend, an die Heizung gefesselt und hatte ein Stück Klebeband über dem Mund. Am Kopf und auf seinem weißen Hemd waren zahlreiche Blutflecken zu sehen. Theresa Niemeyer kniete neben ihm und hielt ihm ein Messer an den Hals, während sie auf etwas zu lauschen schien.
Natürlich - sie schien abzuwarten, ob er, Thiel, seine Klingel- und Klopfversuche endlich aufgegeben hatte. Was sie mit Boerne machen würde, nachdem sie davon überzeugt war, dass sein Nachbar sich wieder in seiner Wohnung befand - das wollte Thiel auf gar keinen Fall herausfinden.
Er zog seine Pistole unter dem T-Shirt hervor und entsicherte sie. Dann richtete er sich rasch auf, hob den Fuß und zertrat mit einem einzigen gewaltigen Tritt die Balkontür. Die Scheibe zerbarst mit einem heftigen Klirren.
„Polizei!“, brüllte Thiel und hob die Waffe. „Lassen Sie sofort das Messer fallen!“
Theresa und Boerne hatten sich beide instinktiv geduckt, als die Glassplitter der Balkontür in alle Richtungen flogen. Theresa hatte sich jedoch sofort wieder gefangen und hielt Boerne nun mit dem linken Arm fest umklammert, während sie in der rechten Hand weiterhin das Messer hielt.
Thiel sah, dass sich in Boernes Gesicht Todesangst spiegelte, aber auch eine Spur Erleichterung. In Theresas Augen dagegen blitzte es - sie schien zu allem entschlossen zu sein.
„Weg mit der Waffe, oder ich schneide ihm die Kehle durch“, sagte sie in gefährlich leisem Ton.
„Lassen Sie Boerne los“, entgegnete Thiel und fluchte innerlich, weil er in seinem Eifer nicht daran gedacht hatte, erst Verstärkung zu rufen. „Sie kommen doch sowieso nicht weit.“
„Achja?“, sagte Theresa spöttisch. „Wieso nicht? Der Herr Professor hat doch ein schnelles Auto, soweit ich weiß... und bestimmt werde ich ihn davon überzeugen können, mir als Chauffeur zu dienen.“
„Wollen Sie da jetzt etwa eine lange Geiselnahme draus machen, oder wie?“, sagte Thiel, während er sich langsam auf die beiden zubewegte, die Waffe immer noch im Anschlag und den Blick unentwegt auf Theresa gerichtet. „Das geht nie gut aus für den Geiselnehmer, das wissen Sie doch bestimmt.“
„ Für Boerne geht die Sache nicht gut aus, wenn Sie nicht sofort stehenbleiben!“
„Lassen Sie uns doch vernünftig...“
Thiel kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden. Noch während er den nächsten Schritt machen wollte, spürte er, wie sich sein Fuß in etwas verhedderte. Im Fallen sah er gerade noch, dass er über die Kabel der Kamera gestolpert war, die Boerne wohl mit dem Fernseher verbunden hatte, um sich das Video anzusehen.
Als er reflexartig seine Hände ausstreckte, um seinen Sturz abzufangen, flog ihm seine Waffe aus der Hand und landete scheppernd einen Meter vor ihm auf dem Parkettboden.
Für den Bruchteil einer Sekunde rührte sich keiner. Dann stürzten Thiel und Theresa gleichzeitig vor, um die Pistole zu erwischen. Boerne brüllte etwas hinter seinem Knebel, doch Thiel verstand nicht, was er sagte. Er kämpfte auf dem Boden einen verbissenen Kampf um die Waffe mit Theresa, die größer und genauso kräftig war wie er selbst.
***
Boerne konnte es kaum noch ertragen. Da war ihm Thiel nun wirklich zu Hilfe geeilt, und dann stolperte sein Nachbar doch tatsächlich über ein paar Kabel, während er auf sie zuging. Als er den Kommissar fallen und seine Waffe verlieren sah, da wusste Boerne, dass nun alles aus war.
Panisch sah er zu, wie Theresa, noch mit dem Messer in der Hand, einen Hechtsprung auf die Stelle zumachte, an der die Pistole lag. Er wollte schreien, brachte aber wegen dem Klebeband nur ein unverständliches Geräusch hervor.
Thiel, der ja bereits auf dem Boden lag, war jedoch einen Tick schneller als die Obduktionsassistentin. Seine Finger schlossen sich um den Griff der Waffe und er drehte sich genau in dem Moment auf den Rücken, in dem Theresa von oben auf ihm landete, die Zähne gebleckt und die freie linke Hand ausgestreckt.
Boerne konnte nicht sehen, wie Thiel abdrückte - er hörte nur den Schuss, der sich laut dröhnend löste. Ein Zittern durchlief Theresas Körper; dann blieb sie regungslos auf Thiel liegen. Doch zu Boernes Entsetzen rührte sich sein Nachbar auch nicht mehr. War er womöglich auch irgendwie verletzt?
Der Gerichtsmediziner wusste, dass er sofort handeln musste. Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, riss er an den Handfesseln. Die Heizungshalterung bewegte sich leicht. Er ignorierte den höllischen Schmerz an seinen Handgelenken und riss erneut.
Mit einem Knirschen brach die Halterung aus der Wand, und die Fesselung löste sich. Boerne befreite seine Hände, riss sich das Klebeband vom Mund und stürzte zu den beiden regungslosen Menschen vor ihm.
Er zog Theresa grob von Thiel herunter und dann sah er, wieso sich sein Nachbar nicht mehr bewegte: In Thiels Brust steckte, ein paar Zentimeter tief, das japanische Küchenmesser.
Für einen Moment schien es Boerne, als würde die Welt stillstehen. Er war unfähig, auch nur einen Finger zu rühren. Das konnte nicht passiert sein. Nicht hier und nicht jetzt. Nicht seinetwegen.
In diesem Augenblick öffnete Thiel langsam die Augen. Sein Blick wanderte erst unsicher hin und her, fokussierte sich dann auf das Messer und schließlich auf Boernes Gesicht.
„Boerne“, flüsterte Thiel mit brüchiger Stimme, „Ich glaub', ich brauch 'nen Arzt.“
Kapitel 10
Als Thiel die Augen aufschlug, wurde er geblendet. Um ihn herum schien es hellweiß zu strahlen. War er etwa tot?
Als er die Hand hob, um seine Augen abzuschirmen, erkannte er langsam, dass er offenbar im Bett eines Krankenzimmers lag. Die Wände waren blütenweiß gestrichen und kräftiges Sonnenlicht schien durch die zwei Fenster herein, was den Raum noch heller machte als sowieso schon.
„Schönen guten Morgen.“
Thiel wandte den Kopf und sah im Bett neben sich - Boerne, mit einem dicken Verband um den Kopf und einem Buch in den Händen.
„B-Boerne“, krächzte er. „Was -“
„Na na, jetzt überanstrengen Sie nicht gleich wieder, Thiel. Es ist alles in Ordnung.“
Mühsam richtete sich Thiel ein Stück auf. „Was... ist denn passiert?“, fragt er langsam. „Ich weiß noch, dass ich mich auf die Pistole gestürzt und mit ihr drum gekämpft hab...“
„Nun, heute ist Tag drei nach dieser kleinen Heldentat“, sagte Boerne betont munter. „Sie waren eine Zeitlang auf der Intensivstation und wurden erst heute morgen hierher verlegt - auf meine Initiative hin, übrigens. Das hier ist nämlich die Station für Privatpatienten und eigentlich dürften Sie da -“
„Boerne“, unterbrach ihn Thiel erschöpft.
„Na schön...“ Boerne klappte sein Buch zu, richtete sich ebenfalls in seinem Bett auf und sah Thiel mit einem seltsamen Blick an. Alle Heiterkeit war aus seinen Zügen gewichen.
„Sie wären fast gestorben, wenn Sie's genau wissen wollen. Theresa hat Ihnen im Fallen das Messer in die Brust gebohrt. Ein paar Zentimeter weiter rechts, und -“
Er brach ab, während Thiel an sich heruntersah und jetzt entdeckte, dass er unter dem Klinikhemd in der Tat einen dicken Verband kleben hatte.
Boerne holte tief Luft und fuhr fort: „Ich konnte mich befreien und habe dann sofort die Rettung alarmiert... Sie wurden operiert, und der Arzt hat mir versichert, dass Sie außer einer Narbe nichts davontragen werden. Ich habe eine Gehirnerschütterung und wurde leider dazu gezwungen, auch ein paar Tage hierzubleiben...“
„Und was ist mit Theresa?“
„Der Schuss hat sie in den Bauch getroffen, aber sie wird’s auch überleben. Sie liegt auf einer anderen Station, natürlich schwer bewacht. Immerhin war sie für zahllose Morde verantwortlich.“
Er berichtete Thiel alles, was Theresa ihm über ihre Taten gestanden hatte. Als er geendet hatte, schwiegen beide für einige Zeit. Thiel sah gedankenverloren aus dem Fenster.
„Wissen Sie...“, sagte Boerne schließlich sinnierend. „Als Theresa mir dieses Messer an den Hals gehalten hat, da habe ich für einen Moment meine eigene Beerdigung vor meinem inneren Auge gesehen.“
Thiel wandte den Blick vom Fenster ab und sah verblüfft zu Boerne. Eine solche Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit hatte er noch nie in der Stimme des Anderen vernommen - da war keine Spur von der üblichen Ironie und Arroganz.
„Und...?“, fragte er vorsichtig.
„Und da habe ich gesehen, dass ich, obwohl ich halb Münster kenne, trotzdem nicht viele echte Freunde habe“, antwortete Boerne und starrte auf die Wand gegenüber. „Aber Sie, Thiel, waren darunter. Deswegen... naja... wenn sie nichts dagegen haben, würde ich vorschlagen, dass wir uns doch langsam mal duzen.“
Er sah zu Thiel und reichte ihm zögernd eine Hand. „Ich bin Karl Friedrich.“
Thiel sah ihn einen Moment lang verblüfft an, dann verzog er den Mund zu einem Grinsen und streckte ebenfalls seine Hand aus.
„Okay, ich bin Frank. Aber 'Karl Friedrich' ... das ist doch wirklich ziemlich lang. Wie wär's, wenn ich dich einfach Ka-Eff nenne, so wie deine reizende Nichte Betty?“
„Na gut“, sagte Boerne und verdrehte die Augen. „Wenn du unbedingt willst... aber komm' mir ja nicht mit Kalle oder sowas!“
„Das hab ich schon gewusst, ob du's glaubst oder nicht“, sagte Thiel trocken. „Aber sag mal, was ist eigentlich mit der WM? War schon Halbfinale?“
„Ähm ja... also das war gestern... und jetzt, wo ich mich schon fast an die ganzen Begriffe gewöhnt habe, hat Deutschland 0:2 gegen Italien verloren“, sagte Boerne und klang aufrichtig betrübt.
Thiel seufzte. Das war dann wohl endgültig das Ende des Sommermärchens.
***ENDE***