Münsteraner Fanfiction (Fortsetzung 2)

Oct 09, 2011 13:27

So, nun kommen gleich drei weitere Kapitel auf einmal :)

Kapitel 5

Am nächsten Morgen waren die Dinge bereits etwas klarer. Thiel hatte zusammen mit Boerne die ganze Nacht lang die Todesfälle der letzten Tagen durchgearbeitet. Wie erwartet hatte ihnen das jede Menge Arbeit beschert - es starben einfach viel zu viele Menschen an irgendetwas, was Boerne allerdings insofern positiv darzustellen vermochte, dass „wenigstens sein Arbeitsplatz gesichert sei“.

Als der Morgen graute, hatten sich schließlich vier potenzielle Verdachtsfälle herauskristallisiert. Bei allen hatte die Todesursache „Herzstillstand mit ungeklärter Vorgeschichte“ gelautet. Da drei von ihnen jedoch bereits in fortgeschrittenem Alter gewesen waren, bedurften diese Fälle dringend einer näheren Untersuchung.

Als Thiel herumtelefonierte, um nähere Informationen über die einzelnen Todesfälle zu bekommen, wurde ihm bewusst, dass die Aufgabe nicht ganz einfach werden würde.

„Also, es sieht folgendermaßen aus“, sagte er zu Boerne, der in einem Stuhl vor dem Schreibtisch saß, „Hannelore Schmitt, die war 92 Jahre alt, ist bereits beerdigt worden - und zwar Feuerbestattung. Das können wir also vergessen, dass da noch was nachzuweisen ist. Allerdings hatte sie laut ihrer Familie auch eine lange Geschichte mit Herzproblemen, von daher war der Tod wahrscheinlich nicht absichtlich herbeigeführt.“

„Naja, wer weiß“, sagte Boerne seufzend, „aber gut. Was ist mit den anderen?“

Thiel blickte auf seinen Zettel.

„Wir könnten bei Glück haben bei Sebastian Witczek, 53 Jahre - er ist bei einer Geburtstagsfeier in der Restauranttoilette tot umgekippt, aber die Ehefrau behauptete am Telefon, dass er kerngesund gewesen sei. Ähnliches hätten wir bei Elisabeth Gründler, 77 Jahre - sie bekam letzte Woche in einer überfüllten Straßenbahn angeblich einen Herzanfall, ging aber laut ihrer Tochter oft wandern und zweimal pro Woche zur Gymnastik. Und dann wäre da noch Hermann Mierke, der war 71 Jahre alt und starb während des Münsteraner Stadtlaufs - Diagnose Herzversagen, aber er hatte wohl diesbezüglich auch eine Vorgeschichte.“

Er sah von dem Papier auf. „Elisabeth Gründlers Leiche befindet sich noch beim Bestatter, die beiden anderen wurden schon beerdigt. Aber wenn wir erstmal bei der Gründler eine Einstichstelle feststellen könnten, dann kriege ich zusammen mit den Beweisen des Falls Krupp bestimmt eine Erlaubnis zur Exhumierung von der Klemm.“

„Worauf warten wir dann noch?“, sagte Boerne und sprang auf. Auch die zweite schlaflose Nacht in Folge schien sich nicht im Mindesten auf seine Energie ausgewirkt zu haben, wofür ihn Thiel im Stillen bewunderte.

„Schon gut, schon gut - aber zuerst hole ich mir unterwegs einen Kaffee.“

***

Der Besuch beim Bestatter war sozusagen ein voller Erfolg - Boerne fand an der Leiche von Elisabeth Gründler in der Tat eine Einstichstelle, die der von Sandra Krupp von der Lage her sehr ähnelte. Thiel veranlasste die Rückführung des Leichnams an die Münsteraner Gerichtsmedizin zur weiteren Untersuchung. Boerne versprach, sich gleich an die Arbeit zu machen, setzte Thiel beim Polizeipräsidium ab und brauste davon.

In seinem Büro traf Thiel auf Nadeshda, die offenbar schon seit einiger Zeit damit beschäftigt war, eine verärgerte Staatsanwältin Klemm hinzuhalten. Sie hatte ihr bereits eine dampfende Tasse Kaffee und ein Stück Gebäck angeboten, von dem Thiel beim besten Willen nicht wusste, wie sie es wohl organisiert haben könnte.

„Thiel, da sind Sie ja endlich!“, schnaubte Frau Klemm und stand auf. „Es mag vielleicht manchmal einen anderen Eindruck auf Sie machen, aber ich habe durchaus anderes zu tun, als ewig in Ihrem Büro herumzusitzen! Auch wenn der Service ausgezeichnet ist, aber das habe ich ja wohl eher Frau Krusenstern als Ihnen zu verdanken.“

Thiel warf Nadeshda einen entschuldigenden Blick zu, die ihr Gesicht hinter Frau Klemm zu einer Grimasse verzogen hatte. „Moin, Frau Staatsanwalt. Es tut mir Leid, ich musste noch schnell mit Boerne -“

„Mit Boerne?“, unterbrach ihn Frau Klemm eisig. „Arbeitet der jetzt etwa permanent bei der Polizei? Oder ist er Ihr neuer Freund? Wie auch immer Thiel, das ist mir völlig egal, aber Boerne hat gefälligst die Finger von den Ermittlungen zu lassen und sich um seine eigene Arbeit zu kümmern!“

„Meine Güte, Sie sind heute aber mit dem falschen Fuß aufgestanden, oder?“, sagte Thiel genervt.

Zwar beschwerte er sich selbst oft genug darüber, dass Boerne sich in seine Arbeit einmischte, aber dieses Mal tat die Staatsanwältin seinem Nachbarn wirklich Unrecht.

„Ich wollte Sie ja gerade darüber informieren, dass es dem Herrn Professor im Zuge seiner Arbeit gelungen ist, einen Mord an Sandra Krupp nachzuweisen!“

Diese Information reichte, um Frau Klemm verstummen zu lassen. Das nutzte Thiel sogleich aus und erklärte ihr die mutmaßliche Mordmethode. Er wies auch auf das mutmaßliche zweite Opfer hin und bat um eine Erlaubnis zur Exhumierung der beiden anderen Verdachtsfälle.

„Nun gut, Thiel“, sagte Frau Klemm, als er geendet hatte. „Ich nehme alles zurück, Sie und Boerne haben gute Arbeit geleistet. Sie bekommen auch die Befugnis für die Exhumierungen. Aber ich möchte über die weiteren Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten werden, verstanden?“

„Zu Befehl“, sagte Thiel und verdrehte die Augen, was Frau Klemm mit einem bösen Blick quittierte, bevor sie sein Büro verließ.

„In Ordnung Nadeshda, dann leiten Sie mal alles Nötige in die Wege für die Exhumierung. Und lassen Sie die Leichen sofort in die Gerichtsmedizin bringen!“

Seine Assistentin nickte und machte sich an die Arbeit.

***

Thiel war den restlichen Donnerstag damit beschäftigt, Informationen über die Fälle zu sammeln, empörte Angehörige der Exhumierten zu besänftigen, und darauf zu hoffen, dass Boerne ihm positive Resultate liefern würde. Nach wie vor hatten sie allerdings keinerlei Hinweise auf den möglichen Täter; auch das Motiv lag noch völlig im Dunkeln. Es schien jedoch klar zu sein, dass die Opfer in keiner direkten Beziehung zueinander gestanden hatten.

Kurz vor Feierabend klingelte dann sein Telefon, und Boerne war am Apparat.

„Ja, Herr Thiel, ich werde Ihnen leider vor morgen früh keine Resultate liefern können. Die Exhumierungen haben doch etwas länger gedauert, als ich dachte, aber mittlerweile habe ich die Leichen nun endlich hier. Ich muss Sie aber erst gründlichst untersuchen, bevor ich Ihnen sicher etwas sagen kann, und die Testergebnisse werden auch noch einige Zeit dauern, die vom Labor haben wirklich keine so hohe Arbeitsmoral wie wir hier...“

„Auf was testen Sie denn überhaupt?“, fragte Thiel stirnrunzelnd. „Ich dachte, die Kaliumvergiftung kann man nicht direkt nachweisen?“

„Gut mitgedacht, Thiel, aber ich habe die Blutwerte von Sandra Krupp noch einmal untersucht, und ihr Kaliumspiegel liegt in der Tat über dem Normalwert, den Tote sonst so haben. Nicht viel zwar, normalerweise würde das gar nicht weiter auffallen, aber in diesem Fall ist das ein weiterer Hinweis darauf, dass ich Recht habe. Das werde ich bei den anderen potenziellen Opfern nun auch untersuchen.“

„Na, dann mal viel Erfolg, Boerne - ich melde mich morgen früh wieder bei Ihnen“.

Kapitel 6

„Sie kommen aber reichlich spät, Thiel.“

Der Kommissar sah mit zusammengekniffenen Augen auf die Uhr. „Es ist halb sieben - um die Zeit schläft ein normaler Mensch eigentlich noch!“

„Dann ist es ja gut, dass ich nicht zu den normalen Menschen gehöre, sondern zur Gruppe der Außergewöhnlichen“, stellte Boerne in gewohnt erhabenem Tonfall fest. „Sonst hätte ich nämlich auch die ganze Nacht tatenlos verbracht, und wo wären wir dann heute?“

„Nicht auf dem Gipfel des Arroganten, vielleicht“, knurrte Thiel und holte seinen Notizblock hervor. „Und jetzt kommen Sie mal zum Punkt, Boerne. Was gibt’s Neues?“

„Kommen Sie mit, ich zeige es Ihnen“, sagte Boerne, ging voran und blieb dann zwischen einigen aufgebahrten Leichen stehen, bei denen er die Tücher zurückschlug. „Wir hätten hier, zu meiner Rechten, zwei Treffer, und zu meiner Linken einen Fehlschuss.“

Thiel seufzte. Anscheinend bekam man aus einem übernächtigten Boerne noch weniger heraus als sonst schon. „Soll heißen?“

„Soll heißen, bei Elisabeth Gründler und Hermann Mierke habe ich sowohl eine Einstichstelle im Nacken als auch einen erhöhten Kaliumspiegel feststellen können. Sebastian Witczek dagegen war nicht so kerngesund wie behauptet: er ist an einer angeborenen Aortenklappenstenose gestorben...“

„Klappe was?“, fragte Thiel verwirrt und gähnte. Boerne sah ihn über seine Brille hinweg an und seufzte.

„Klappe die fünfte, Thiel. An einem Herzklappenfehler. Sie sollten sich wirklich mal weiterbilden, wenn Sie mich fragen...“
Er schüttelte leicht den Kopf, wandte sich dann um und rief: „Theresa!“

Die Gerufene kam aus einem Nebenzimmer. „Ja, Professor?“, sagte sie so genervt, wie Thiel sich fühlte.

„Sorgen Sie bitte dafür, dass diese drei Leichen wieder freigegeben werden; der Mann da drüber müsste noch vollständig zugenäht werden. Und ein wenig aufräumen könnten Sie auch mal, hier sieht's ja aus... so kann ich das nicht lassen, wenn Alberich aus dem Urlaub zurückkommt - die geht ja glatt wieder.“

„Geht klar“, brummte die Studentin missmutig. Sie warf Boerne einen verdrießlichen Blick zu, machte sich dann jedoch an die Arbeit und begann, an einer der Leichen herumzuhantieren.

„Das heißt, wir haben nun also insgesamt schon drei Mordfälle“, sagte Thiel und notierte sich die Namen auf seinem Block.

„Drei mutmaßliche Mordfälle“, verbesserte ihn Boerne. „Vor Gericht wird die Kaliumtheorie nicht so leicht zu halten sein... man kann auch immer alles anders auslegen, wissen Sie. Am besten wäre es, Sie bekämen das Geständnis des Mörders, dann wäre die Sache klar.“

„Was Sie nichts sagen“, entgegnete Thiel ironisch. „Was würde ich nur ohne Ihre hilfreichen Ratschläge tun... stopp - das war eine rhetorische Frage.“

Boerne hatte bereits den Mund geöffnet, schluckte seine Antwort dann jedoch hinunter und sagte stattdessen: „Also Thiel, wie sieht's aus heute Abend? Gehen wir um halb sechs los?“

Thiel wurde aus seinen Gedanken gerissen. „Bitte was?“

„Jetzt sagen Sie bloß nicht, Sie haben vergessen, dass Deutschland heute Abend im WM-Viertelfinale spielt - ich hab's extra nachgeschaut! Nur gegen wen es geht, habe ich leider schon wieder vergessen...“

„Sie wollen mit zum Fußball kommen?“, fragte Thiel ungläubig und starrte sein Gegenüber an. „Womit habe ich denn diese Strafe verdient?“

„Es könnte doch gut sein, dass unser Mörder heute wieder zuschlägt beim 'Public Viewing' - und da müssen wir vor Ort sein, um gleich den Zugriff vornehmen zu können!“, sagte Boerne voller Tatendrang.

„Jetzt machen Sie mal halblang, ja?“, erwiderte Thiel. „Erstens glaube ich nicht, dass er sich sowas nochmal traut, und zweitens müsste es bei der Menge an Leuten schon mit dem Teufel zugehen, dass wir da direkt nebendran stehen...“

„Dann komme ich eben mit, um diese sogenannte Sommermärchen-Stimmung zu genießen“, beschloss Boerne unverdrossen, „Und um Sie zu beschützen, natürlich. Ich bin um 17:30 Uhr bei Ihnen.“

***

Thiel konnte es kaum fassen, aber Boerne hatte tatsächlich nicht locker gelassen und um Punkt halb sechs bei ihm vor der Tür gestanden, bewaffnet mit seiner Videokamera und - einer schwarz-rot-goldenen Autofahne. Bei diesem Anblick hätte Thiel fast laut gelacht.

„Welchem Autofahrer haben Sie die denn geklaut?“, fragte er amüsiert.

„Die habe ich auf dem Heimweg am Straßenrand liegen sehen“, sagte Boerne beleidigt. „Ich versuche ja nur, mir für dieses 'Public Viewing' eine ordentliche Camouflage zuzulegen.“

Thiel grinste innerlich und musterte seinen Nachbarn dann gründlich.

„Ja aber Boerne, ohne eine Deutschlandflagge auf den Wangen lässt man Sie da gar nicht auf den Domplatz“, sagte er in ernstem Tonfall. „Moment, ich mache das schnell für Sie.“

Ehe Boerne widersprechen konnte, hatte Thiel einen dieser Fan-Schminkstifte aus der Tasche gezogen und dem Gerichtsmediziner eine Flagge auf jede Gesichtshälfte gezogen. Den Stift hatte er beim letzten Public Viewing geschenkt bekommen, es aber selbst zu peinlich gefunden, ihn zu verwenden.

Boerne hatte inzwischen seine Sprache wiedergefunden.

„Also Thiel, das ist ja wohl lächerlich“, sagte er empört und tastete mit den Fingern nach der Schminke. „Und überhaupt, warum haben Sie dann keine? Sie erzählen doch bloß Märchen!“

Thiel grinste. „Kann schon sein... Jetzt lassen Sie uns endlich gehen.“

***

Am Domplatz angekommen, beschwerte sich Boerne sogleich über den Lärm und die vielen Menschen.

„Jetzt genießen Sie doch mal ihre Sommermärchen-Stimmung, und schwenken Sie meinetwegen Ihre Flagge“, sagte Thiel gelassen. „Aber verderben Sie mir nicht den Abend.“

„Keine Angst, dafür wird schon der Mörder sorgen“, behauptete Boerne; er war von dem Gedanken einfach nicht mehr abzubringen. „Junger Mann, ich hätte gerne ein Glas Chianti, oder meinetwegen einen Cabernet Sauvignon.“

„Sowas haben wir nicht“, sagte der Student hinter der Theke des Getränkewagens und sah ihn misstrauisch an. „Hier gibt’s nur Pils oder Hefe.“

Boerne seufzte. „In der Not...“

Sie stellten sich an die rechte Seite des Domplatzes, und in den folgenden 45 Minuten der ersten Halbzeit musste Thiel die scheinbar endlosen Fragen und Bemerkungen seines Nachbarn über sich ergehen lassen.

„Nein Boerne, das war kein Tor... das ist kein Ampelsystem, sondern 'ne gelbe Karte... weil das grad Abseits war... nein, der darf den nicht umrennen, das ist ein Foul... um Himmels Willen, Boerne“, sagte er schließlich entnervt in der Halbzeitpause, „Haben sie eigentlich in Ihrer Kindheit nie Fußball gespielt? Oder mal zusammen mit Ihrem Vater ein Spiel geguckt?“

„Nein, nie“, behauptete der andere. „Mit Fußball hatte mein Vater nichts am Hut. Der hat sich eher Springreiten und Golfturniere angeschaut...“

„Na, da wundert mich wirklich gar nichts mehr an Ihnen“, brummte Thiel. Boerne hörte ihm aber schon nicht mehr zu, sondern drückte einen Knopf an seiner Videokamera und ließ sie über die Menge schweifen.

„Ich befinde mich sozusagen bei einer öffentlichen Aufbahrung, auch Public Viewing genannt“, plapperte Boerne vor sich hin, während er sich langsam auf der Stelle drehte und die Umstehenden filmte. „Rein beruflich natürlich. Wir gehen davon aus, dass hier heute Abend ein weiterer Mord passieren wird, was ich selbstverständlich zu verhindern gedenke. Die erste Partie des Fußballspiels lässt übrigens laut Kommissar Thiel zu wünschen übrig...“

„Das heißt 'erste Halbzeit'“, korrigierte ihn Thiel und verdrehte die Augen. So ungebildet in Bezug auf Fußball konnte doch ein Mensch, der sonst immer alles zu wissen schien, gar nicht sein.

„Wie auch immer“, wischte Boerne seine Anmerkung beiseite, „Mittlerweile geht das Spiel ja schon weiter. Und na sowas, da ist doch soeben das erste Tor gefallen - das ist ja toll! Bravo!“

„Boerne, das war ein Tor für Argentinien“, zischte Thiel. Viel hätte nicht gefehlt und der Rechtsmediziner hätte seinen Mord bekommen - allerdings mit ihm selbst als Opfer und den umstehenden Fußballfans als Tätern, deren bitterbösen Blicken nach zu schließen. „Und jetzt halten Sie endlich mal die Klappe.“

***

Am Ende der zweiten Halbzeit hatte sich Thiel geschworen, nie wieder zusammen mit seinem Nachbarn ein Fußballspiel anzuschauen, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Es gab ja kaum etwas Peinlicheres, bei all den komischen Fragen, die Boerne lautstark stellte!

Als das Spiel auch noch in die Verlängerung ging, begann Thiel damit, Boernes Kommentare einfach zu ignorieren. Dieser beschäftigte sich nach einer Weile damit, unentwegt mit seiner Videokamera aufzuzeichnen. Aufgrund seiner Größe schien er tatsächlich viel vom Geschehen um sie herum filmen zu können, und der Kommissar war froh, dass Boerne eine Beschäftigung gefunden hatte...

„Thiel! Sehen Sie mal, dort!“ Da hatte er sich wohl etwas zu früh gefreut.

„Mensch, Boerne, jetzt seien Sie doch noch fünf Minuten lang ruhig, wir sind mitten im Elfmeterschießen!“ Die Menge brüllte erfreut auf, als in diesem Moment bereits der zweite deutsche Spieler den Ball im Tor unterbrachte.

„Aber Thiel, da hinten scheint wirklich was passiert zu sein!“ Der Klang von Boernes besorgter Stimme riss Thiel aus seiner Konzentration.

„Was? Wo?“ Er sah zu der Stelle, auf die Boerne deutete, konnte aber nur erkennen, dass dort in der Tat einige Leute plötzlich wild durcheinander liefen und sich hektisch Worte zuriefen.

„Sie bleiben hier“, sagte er warnend zu Boerne, obwohl er schon wusste, dass dieser Befehl noch nie etwas genutzt hatte.

Er drängte sich zu dem Tumult durch, wo er zu seiner Bestürzung eine Art Déjà-vu hatte - ein leicht übergewichtiger Mann, der etwa Mitte dreißig sein mochte, lag leblos auf dem Boden, um ihn herum jede Menge verstörter Leute.

„Darf ich mal?“
Boerne quetschte sich an ihm vorbei, kniete sich neben den Mann und tastete - offenbar vergeblich - nach dessen Puls. Dann drehte er den Kopf des Mannes zu Seite und untersuchte seinen Nacken. Schließlich sah er zu Thiel auf.

„Ich fürchte, es ist wieder passiert.“

Kapitel 7

„So 'ne verdammte Kacke!“

Es war bereits um die Mittagszeit am nächsten Tag, als Thiel erneut Lust bekam, irgendetwas gegen die Wand zu werfen. Er befand sich in der Münsteraner Gerichtsmedizin, wo ihm Boerne soeben bestätigt hatte, dass der tote Mann vor ihm auf der Rollbahre höchstwahrscheinlich ebenfalls an einer Überdosis Kalium gestorben war.

Damit gab es nun bereits das vierte Mordopfer, während sie vom Täter immer noch nicht die geringste Spur hatten. Auch das Motiv und eine mögliche Verbindung zwischen den Opfern lagen weiterhin vollkommen im Dunkeln. Dagegen hatte die Presse nun Wind von der Sache bekommen und überbot sich mit Schlagzeilen wie „Der Fußball-Mörder“, „Tödliches Public Viewing“ und „Sommermärchen goes Sommeralptraum“.

Thiel hatte am Morgen bereits ein sehr unerfreuliches Telefongespräch mit Staatsanwältin Klemm führen müssen, die ihn wegen der fehlenden Ermittlungsergebnisse nach allen Regeln der Kunst heruntergeputzt hatte. Und zu allem Überfluss schwelgte Boerne nur so in Genugtuung, weil er mit seiner noch-ein-Mord-beim-Public-Viewing-Theorie auch noch Recht behalten hatte.

„Nun aber, Herr Hauptkommissar - meine Ergebnisse sind kein Grund, derart ausfallend zu werden...“

„Ach“, schnaubte Thiel und verspürte das dringende Bedürfnis, dem Schrank neben ihm einen saftigen Tritt zu versetzen. Aber da auch Boernes Obduktionsassistentin Theresa in nächster Nähe an einer Leiche arbeitete, konnte er sich gerade noch bremsen. Es reichte, wenn Boerne bereits einen schlechten Ruf als Arbeitgeber hatte - das musste er nicht auch noch haben.

„Das kann doch aber echt nicht wahr sein. Wir kommen keinen Schritt weiter, und die Mordopfer werden immer mehr!“

„Sie sollten unbedingt herausbekommen, ob es eine Beziehung zwischen den Opfern gibt“, belehrte ihn der Gerichtsmediziner, während er ein Tablett mit irgendwelchen Obduktionsinstrumenten an Theresa weiterreichte.

„Ach nee, Sie Schlaumeier - da sind wir bisher ja noch nicht draufgekommen“, knurrte Thiel. „Es scheint aber einfach keine zu geben; die Ermittlungen im Umkreis der Toten haben bisher nur in Sackgassen geführt. Bei kaum jemandem schien es überhaupt ein Mordmotiv zu geben, und schon gar nicht für alle vier Opfer gleichzeitig.“

Er starrte vor sich ins Leere. „Ich weiß einfach nicht, wo ich noch ansetzen soll. Ich habe keine Ideen mehr.“

Das war ein Gedanke, den er bisher noch vor niemandem ausgesprochen hatte; und er wusste nicht genau, was ihn jetzt dazu brachte, das ausgerechnet vor Boerne zuzugeben. Er würde ja ohnehin nur einen spöttischen Kommentar darauf zu hören bekommen.
Aber erstaunlicherweise gab sein Nachbar keine Bemerkung dazu ab. Boerne schwieg, trat dann zu Thiel und legte ihm fast tröstend eine Hand auf die Schulter.

„Ich bin mir sicher, Sie werden bald die richtige Spur finden. Sie sind nämlich wirklich ein guter Polizist, wissen Sie...“

Thiel traute seinen Ohren nicht. Vor Verblüffung hätte es ihm fast die Sprache verschlagen.

„Was ist denn mit Ihnen los - haben Sie was Verdorbenes zu Mittag gegessen?“

„Nein“, entgegnete Boerne und lächelte gönnerhaft. „Aber ich finde, manchmal kann etwas Lob zur rechten Zeit nicht schaden. Und außerdem habe ich noch eine Idee, was wir machen könnten...“

„Das sind ja ganz neue Seiten an Ihnen“, sagte Thiel trocken. „Und was für eine grandiose Idee ist das?“

„Ich habe doch während des Public Viewing fast die ganze Zeit gefilmt - mal nach vorne, mal nach hinten, und auch den Mordschauplatz... eventuell sehen wir auf dem Video ja jemanden, der sich auffällig verhält - wenn ich nicht vielleicht sogar den Täter irgendwo vor der Linse hatte!“

Ein lautes Scheppern ließ sie beide zusammenfahren. Theresa war offenbar das Tablett mit den Instrumenten von der Leiche und auf den Boden gerutscht. „Tschuldigung“, sagte sie kurz und hob die Sachen wieder auf.

„Kein Problem“, brummte Thiel. „Naja, sehr wahrscheinlich ist das jedenfalls ja nicht, Boerne... Aber besser als nichts zu tun ist es auf jeden Fall.“

„Dann kommen Sie einfach nach Feierabend zu mir - Sie brauchen diesmal auch keinen Wein mitzubringen.“

***

Als Boerne am späten Nachmittag seine Wohnung betrat, war er vor lauter Anspannung ganz kribbelig. Auf dem Heimweg hatte er eine rekordverdächtige Anzahl von Beinahe-Zusammenstößen gehabt, weil er nur noch daran denken konnte, ob auf seinem Video vielleicht der Schlüssel zur Lösung des Falles liegen würde. Das würde eine geniale Schlagzeile für ihn und das Institut geben!

Er klingelte zunächst kurz bei Thiel, aber da bei seinem Nachbarn alles still blieb, war der Kommissar offenbar noch bei der Arbeit. Nun gut, dann würde er eben schon mal alles vorbereiten - zum Beispiel seine Kamera an den Fernseher anschließen und dafür sorgen, dass sie auch eine exzellente Bildqualität zu sehen bekamen...

Boerne ging zurück in seine Wohnung und begann, mit Kamera und mehreren Kabeln an seinem ultramodernen Flachbildschirm zu hantieren. Irgendwie war das früher einfacher gewesen... aber man musste ja schließlich auf dem neuesten Stand der Technik bleiben - nicht wie zum Beispiel Thiel, der sich noch immer mit seinem alten Röhrenfernseher begnügte und noch nicht einmal ein Handy mit Touchscreen besaß...

Schließlich hatte er es geschafft, die Kamera anzuschließen, die nun mit einer ganzen Reihe an Kabeln verbunden auf dem Teppich vor dem Fernseher lag. Das Video begann zu laufen. Boerne zögerte, die Fernbedienung in der Hand. Ob er vielleicht schnell zu der Stelle vorspulen sollte, an der ihm der Mord aufgefallen war? Eventuell konnte er Thiel ja bereits den Mörder präsentieren, wenn dieser nach Hause kam...

In diesem Moment klingelte es. Boerne legte die Fernbedienung beiseite und ging zu seiner Wohnungstür. Während er sie öffnete, sagte er begeistert: „Thiel - ich muss schon sagen, Sie haben manchmal ein exzellentes Timing. Ich wollte gerade...“

Dann sah er jedoch, dass es gar nicht Thiel war, der vor ihm stand.

„Äh - schönen guten Abend“, sagte er leicht verwirrt. „Was wollen Sie denn hier?“

„Könnte ich kurz reinkommen? Es ist sehr wichtig.“

Boerne sah auf die Uhr und dann zur gegenüberliegenden Wohnungstür. Sein Nachbar schien immer noch nicht zuhause zu sein.

„Nun gut, wenn es denn nicht lange dauert...“, sagte er zögernd. „Ich habe noch etwas Wichtiges vor, wissen Sie.“

„Keinesfalls. Ich bin gleich wieder weg.“

Boerne trat zur Seite, ließ seinen Besuch in die Wohnung und schloss die Tür. Als er sich umdrehte, sah er einen Gegenstand blitzschnell auf sich zurasen - doch da war es bereits zu spät. Er spürte noch einen heftigen Schlag gegen den Kopf, bevor alles um ihn herum in Dunkelheit versank.
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Die letzten drei Kapitel werde ich hier dann wohl auch gesammelt veröffentlichen, das dauert also noch ein bisschen :)

Tatort Münster, fanfiction, thiel/boerne

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